Greta Tintin Eleonora Thunberg (17) ist die Primadonna assoluta der Klimabewegung und eine der bekanntesten Persönlichkeiten weltweit. 2019 erhielt sie den „Alternativen Nobelpreis“ und dieses Jahr wurde sie zum zweiten Mal in Folge für den Friedens-Nobelpreis nominiert. In den restriktiven Covid-19-Zeiten ist es um die junge Frau ruhiger geworden. Was man weiss: Greta Thunberg besucht nach einer längeren schulischen Auszeit nun das Gymnasium.
Vom beispiellos rasanten Aufstieg des Teenagers berichtet der facettenreiche Dokumentarfilm „I Am Greta“. Am diesjährigen Filmfestival von Venedig feierte er Weltpremiere, nun gelangt das Werk in die Kinos. Realisiert hat es der schwedische Fotograf und Filmschaffende Nathan Grossman, der vom Sommer 2018 bis in den Herbst 2019 in unmittelbarer Nähe seiner Protagonistin arbeitete.
Greta, allein vor dem Reichstag
Alles begann 2018 mit einem Schreibwettbewerb der schwedischen Zeitung „Svenska Dagbladet“ zum Thema Umweltschutz, den die damals 15-jährige Greta Thunberg gewann. Sie setzte sich in der Folge noch intensiver mit der Klimakrise auseinander, lernte Experten kennen und begeisterte sich für das Thema. Motiviert auch davon, dass zu ihrer Familie väterlicherseits der schwedische Physiker und Chemiker Svante Arrhenius gehört. Er erhielt 1903 den Nobelpreis für Chemie und erforschte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts den Zusammenhang zwischen CO₂-Emissionen und der Klimaerwärmung.
Im Vorfeld der schwedischen Parlamentswahlen 2018 hatte Greta eine Idee: Jeweils am Freitag trat sie in den Schulstreik und setzte sich vor den Reichstag in Stockholm. Neben sich ein selbstgefertigtes Schild mit der Aufschrift „SKOLSTREJK FÖR KLIMATET“. Sie kam mit Menschen ins Gespräch, fiel mit ihrer Eloquenz, Sachkenntnis, Entschlossenheit und Zivilcourage auf. Die Aktion entging den Medien nicht und bald wuchs Gretas überwiegend jugendliche Anhängerschaft über die nationalen Grenzen hinaus.
Etappen einer beispiellosen Karriere
Nathan Grossman wollte zuerst eine Reportage dazu drehen, erkannte aber den zunehmenden Hype um Thunbergs Tun. Er nahm Kontakt zu ihrer Familie auf, gewann deren Vertrauen und entwickelte das Dokumentarfilm-Projekt „I Am Greta“. Entstanden ist kein Biografie-Film im klassischen Sinne, sondern eine Chronik der laufenden Ereignisse – beginnend mit dem erwähnten Schulstreik bis hin zur strapaziösen Reise auf einem Segelboot nach New York, wo Greta Thunberg am UN-Klimagipfel vehement für ihr Anliegen warb.
Grossmans Werk ist ein Etappenbericht aus der seit der Kindheit bewegten Biografie der Greta Thunberg. Irgendwie ist das eine Wunderkind-Story, allerdings mit weniger boulevardeskem Glanz & Gloria als man das aus der Show-Szene kennt. Titelstories erschienen auch im gehobenen Verlagssegment und decken ein breites Interessensspektrum ab: Das US-Politmagazin „Time“ erkor sie zur „Time Person of the Year“, der jüngsten aller Zeiten. Im britischen „GQ“ prangte sie ebenso auf dem Titel wie im „Rolling Stone“, mehr Popkultur-Weihe geht nicht. Und für eine der erfolgreichsten Wirtschaftspublikationen, „Forbes“, gehörte Greta Thunberg 2019 in die Liste der „100 Most Powerful Women“.
Aufreibender Einsatz fürs grosse Ganze
Nach eigenen Angaben geht es Thunberg nie um ihre Person, sondern um das grosse Ganze: den Kampf für die überfällige, also zeitnahe Umsetzung einer globalen Klimapolitik zur Rettung des Planeten. Um dieses Ziel zu erreichen, richtete sich Thunberg von Anfang an (zuweilen mit einigem zivilen Ungehorsam) frontal an etablierte Machtpolitiker und Wirtschaftsmagnaten, ohne Rücksicht auf Parteien oder ideologische und ökonomische Gesinnungen.
Für eine minderjährige Person ohne Mandat und Rückendeckung war und ist das eine aufreibende Parforceleistung. Dafür wird Greta von ihren (mittlerweile nicht mehr nur jungen) Aficionados fast schon vergöttert. Die zunehmend um ihre Pfründe bangende, vor allem patriarchalische Gegnerschaft jedoch überschüttet sie mit Häme. Und im unkontrollierbaren Social-Media-Sumpf wird sie oft auf schäbigste Weise verunglimpft.
Der Papa als Schutzengel
Auch davon berichtet Nathan Grossman, der die Kamera meist selber führte und auch für den Ton verantwortlich zeichnet. So konnte er flexibel und diskret Details aufzeichnen, die den Rahmen einer rein journalistischen Recherche gesprengt hätten. Der Mehrwert dieser Arbeitsmethode zeigt sich deutlich in Momenten, da Greta Thunberg vor und nach offiziellen Terminen authentisch ins Bild kommt mit ihren Gesten, ihrer Mimik, ihren spontanen Bemerkungen.
Während der ganzen Drehzeit war übrigens Gretas Vater, Svante Thunberg, omnipräsent. Mit dem Beginn von Gretas Feldzug hat er seinen Beruf als Schauspieler und Autor ruhen lassen, um an der Seite der Minderjährigen als erste vertraute Ansprechperson, als Manager – und man darf wohl sagen – als Schutzengel zu fungieren.
Im Film erlebt man ihn in dieser Rolle als fürsorglich unaufgeregte Person, aber zuweilen ist ihm die Anspannung überdeutlich anzumerken. Etwa, wenn er die rastlos umtriebige Greta, die von den wenig komfortablen Auto- und Zugreisen erschöpft ist, vom Redigieren eines Textes am Laptop abzuhalten versucht. Die Hotels, in denen die beiden absteigen, sind eher keine Erholungsoasen, wo man Stress und Heimwehgefühle abbauen könnte.
Rare Einblicke ins Private
Will man dem Gezeigten glauben, dann ist Greta Thunberg kein ausgelassener, von Heiterkeit umflorter Teenager, der auch mal über die Stränge schlägt. Etwas gelöster wirkt sie immerhin in den Momenten, wo sie mit den Liebsten daheim in Schweden übers Internet kommuniziert, mit der zwei Jahre jüngeren Schwester oder der Mutter – vormals Opernsängerin mit internationalem Renommee, die sich in den letzten Jahren vorrangig der Familie gewidmet hat. Im Film tritt sie nur am Rande auf, in kurzen Einspielungen vom ländlichen Wohnsitz der Thunbergs, wo Greta ihren Hunden und Pferden begegnet, denen sie tief zugetan ist. Einblicke ins Private sind also rar – weil alles, was nach Homestory ausschaut, bei den Thunbergs offenkundig nicht gefragt ist.
Diesem Umstand hat das Post-Produktions-Team bei der Komposition des Films gebührend Rechnung getragen: „I Am Greta“ ist ein informatives, von Empathie gezeichnetes und auch nachdenklich stimmendes Porträt, das keinen Voyeurismus bedient.
Das gilt besonders auch im diskreten Umgang mit dem Thema Asperger-Syndrom, einer Form von Autismus, die bei Greta vor einigen Jahren diagnostiziert wurde und ihren Lebensalltag massgeblich beeinflusst. Dazu äussert sich Greta selber im Film in anrührender Weise. Zudem haben ihre Eltern vor zwei Jahren das gemeinsam verfasste Buch „Szenen aus dem Herzen: Unser Leben für das Klima“ veröffentlicht, in dem mehr über die Familie zu erfahren ist; unlängst ist übrigens eine aktualisierte Ausgabe auf Deutsch erschienen.
Auf Segeltörn
Partiell ist „I Am Greta“ wie ein Roadmovie angelegt. Der Film nimmt das Publikum mit zu diversen Schauplätzen in Europa und Übersee. So anfangs 2018 ins polnische Kattowitz, wo Greta an der United Nations Climate Change Conference teilnahm. Man erlebt sie schon dort als souveräne Referentin im Scheinwerferlicht, lernt sie aber dank Grossmans Gespür für Details auch neben und hinter den Kulissen kennen: Als hellwache, analytisch begabte Zuhörerin, die aus ihrer Sympathie oder Antipathie für andere Redner keinen Hehl macht – was sich nicht zuletzt in ihrer Körpersprache manifestiert.
Greta Thunberg ist nicht gewillt ist, sich mit leeren Floskeln oder salbungsvollen Sprüchen, besonders von gönnerhaften älteren Herren mit Machtgehabe, abspeisen zu lassen. Im Film wird das etwa deutlich bei Begegnungen mit dem Ex-Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron im Pariser Elysée-Palast oder mit Papst Franziskus anlässlich einer Generalaudienz in Rom.
„I Am Greta“ ist ein dramaturgisch elegant choreographiertes filmisches Porträt, das im letzten Akt Psycho- und Politdrama-Elemente zusammenfügt und damit einen starken Spannungsbogen erhält. Am Anfang steht hier die Atlantiküberquerung im Sommer 2019 nach New York City. Weil eine Flugreise aus Umwelt- und Imagegründen so wenig angesagt war wie die Passage per Kreuzfahrt-Koloss, stachen Greta, ihr Vater und Regisseur Grossman als Gäste der 18-Meter-Rennyacht „Malizia II“ des deutschen Segelsportlers und Skippers Boris Herrmann am 14. August in See.
„How dare you!“
Der Törn fand unter teils widrigen Witterungsbedingungen statt, was sich in Grossmans Film in bisweilen apokalyptisch anmutenden Bildsequenzen ausdrückt, die sich zum engräumigen Kammerspiel im Zeitraffer fügen. Inmitten von tosender Naturgewalt erscheint Greta hilflos und verängstigt. Ein stimmungsmässiges Zwischenhoch ist dann die Ankunft in New York am 28. August, wo sie begeistert empfangen wird.
Das Finale Grande mit Paukenschlag folgt umgehend: die jetzt schon legendäre One-Woman-Show von Greta Thunberg im Uno-Hauptgebäude am East River anlässlich des UN Climate Action Summit. Wo Greta vor den versammelten Weltmacht-Granden ans Mikrophon tritt und ihnen, das Gesicht zur Fratze verzerrt und den Tränen nahe, ihre Botschaft furios entgegenschleudert: „This is all wrong. I shouldn’t be up here. I should be back in school on the other side of the ocean. Yet you all come to us young people for hope? How dare you! You have stolen my dreams and my childhood with your empty words.“
Was jetzt, Frau Thunberg?
Seit diesem Rundum- und Befreiungsschlag ist mehr als ein Jahr vergangen. Doch der Film „I Am Greta“ zirkelt das Ereignis intelligent eingebettet in die Gegenwart. Offenbar ganz im Sinne der Hauptdarstellerin: „Ich mag den Film sehr und denke, er zeigt ein realistisches Bild von mir und meinem Alltag. Ich hoffe, jeder, der den Film sieht, kann letztlich verstehen, dass wir Jugendlichen nicht einfach aus Spass an Schulstreiks teilnehmen. Wir protestieren, weil wir keine andere Wahl haben. Natürlich ist, seit ich den Schulstreik begonnen habe, viel passiert. Aber leider stehen wir immer noch am Anfang.“
Bleibt als Gretchenfrage: Was jetzt, Frau Thunberg? Antworten sind wohl erst zu erwarten, wenn sich die Corona-Pandemiekrise beruhigt haben wird. Doch für Greta Thunberg ist der 3. Januar 2021 bestimmt ein Stichtag: Dann feiert sie nämlich ihren 18. Geburtstag und wird nach schwedischem Recht volljährig, stimm- und wahlberechtigt.
Die Gymnasiastin wird zweifellos weiter für ihre ambitionierten Ziele einstehen, vielleicht wieder gemeinsam mit der „Fridays For Future“-Bewegung, die sie massgeblich initiiert hat. Vor ein paar Wochen hat sie erklärt, dass man von ihr noch nicht alles gesehen habe, und in einem Twitter-Post hat sie die US-Wählerschaft dazu aufgerufen, bei den Präsidentschaftswahlen den Demokraten Joe Biden zu unterstützen. So explizit hat sich Thunberg bisher kaum je ins politische Tagesgeschäft eingemischt. Gut, dass einem Nathan Grossmans „I Am Greta“ die Anfänge der „Causa Thunberg“ näherbringt. Die Fortsetzung folgt – in der Realität.