Im ganzen Westen: Massive Parteinahme für die blasphemische Anti-Putin-Aktion der russischen Punkgruppe Pussy Riot, obwohl wir sie kaum kennen. Ein beunruhigender Abschied von unserer pluralistischen Praxis: Wir unterstützen alle Rebellen, ohne uns zu informieren.
Drei Punk-Mädchen steigen vor den Gläubigen auf den Altar und singen politische Lieder gegen Putin. Geschmacklos! Aber Geschmacklosigkeit kann man nicht richterlich ahnden. Sie erinnert an die dänischen Mohammed-Karikaturen, von denen eine oder zwei witzig waren, die meisten aber primitiv und beleidigend für die Gefühle von Islam-Gläubigen, schlechter Geschmack mit gezielter Verletzung von religiösen Gefühlen. Darin liegt der zweite Aspekt des Auftretens von Pussy Riot. Selbst ein Atheist wird das heute kritisieren, er glaubt nicht an Gott aber an die Notwendigkeit von Toleranz für ein gewaltloses Zusammenleben.
Anarchisten!
Ein Artikel in der International Herald Tribune (21.August 2012) zeigt noch einen dritten, kaum beachteten Aspekt der Affäre Pussy Riot. Leider ohne klare Identifikation des Verfassers, „a journalist and Russia analyst“ ohne weitere Angaben, nicht einmal ob in Russland oder im Westen. Aber was er schreibt, gibt zu denken: Die drei Mädchen seien keineswegs Liberale. Sie wetterten gegen Putin, aber nicht minder gegen unseren westlichen Kapitalismus. Pussy Riot sei eine anarchistische Gruppe, die mit Gewalt sympathisiere. Sie stünden, schreibt Vadim Nikitin, in der Tradition der russischen Anarchisten ab etwa 1880. Zu deren Repertoire im Kampf gegen den Zaren gehörten auch Bombenattentate. Solche verüben die Mädchen nicht, und Putin ist auch nicht mehr so autokratisch wie die Zaren, aber, schreibt Nikitin, Pussy Riot trete in der russischen Untergrund-Künstlergruppe „Voina“ auf, die nicht davor zurückschrecke, Polizeifahrzeuge in Brand zu stecken. „Voina“ heisse „Krieg“.
Das liege in der russischen, von der unsrigen grundverschiedenen Mentalität des Verhältnisses zwischen Autorität und Untergebenen. Auch seit der Kernschmelze des Kommunismus gilt immer noch in breiten Bevölkerungskreisen: Der Herrscher, ob Zar oder Präsident, muss seine unanfechtbare Autorität beweisen, sonst ist er schwach und das Land stürzt ins Chaos. Putin geniesst in den ländlichen Gebieten breite Unterstützung, die Demonstranten in Moskau, auf die sich unsere Medien konzentrieren, sind eine Hoffnung für eine liberalere Zukunft Russlands, aber noch eine kleine Minderheit. Selbst ein demokratisch gewählter Präsident ist für viele immer noch eine quasi heilige Autoritätsfigur, der man unbedingt gehorchen muss. Man verzeiht ihr sogar Gewalt, auch übertriebene Gewalt zum Schutz vor anarchistischen Wallungen, die dieses 200-Millionenvolk aus jahrhundertealter Erfahrung fürchtet. Diese Autoritätssucht und –bewunderung zeigt umgekehrt den Opponenten, dass hier mit differenziert-sachlicher Politik nichts auszurichten ist, sondern nur mit radikaler Opposition inklusive dem Flirten mit Gewalt. Die Kabarett-Nummer in der Moskauer Kathedrale war immerhin gewaltlos. Ein Schritt vorwärts.
Herdentrieb
Pussy Riot ist aber kein Einzelfall. Er zeigt ein breiteres, beunruhigendes Phänomen in unseren westlichen Gesellschaften: ein Erlahmen unseres traditionellen Pluralismus. Vielleicht ist Vadim Nikitins Bild der „anarchistischen“ Pussy Riot überzeichnet oder tendenziös. Und es gibt auch Distanzierungen von ihrem blasphemischen Auftreten. Aber die dominierende Stimmung in Öffentlichkeit und Medien ist kritikloses Anhimmeln von Pussy Riot. Seit einiger Zeit grassiert in unserem Journalismus und in unserer öffentlichen Meinung ein Herdentrieb, der auf das differenzierte Hinschauen verzichtet.
Im Kalten Krieg hielt sich jede Zeitung ihren Kremelologen, der Stalin, die KP und Sowjetrussland mit Sachkenntnis sezierte. Heute: Wo immer in der Welt, in Russland, Libyen, Syrien, im arabischen Frühling eine Rebellion auftaucht, unterstützen wir sie nicht nur kritik-, sondern schlimmer: informationslos. Es begann im Jugoslawienkrieg der neunziger Jahre: Zehn Jahre lang waren wir gegen Serbien und Milosevic, aber ich kann mich an keinen Journalisten erinnern, der zu den Serben ging, sich nach ihrem Standpunkt erkundigt und ihn uns mitgeteilt hätte. Letztes Jahr in Libyen hat nie ein Journalist gefragt, warum es monatelang noch Libyer gab, die Ghadafi verteidigten. Seit über einem Jahr unterstützen wir in Syrien die Rebellen, ohne zu wissen wer sie sind und wofür sie kämpfen ausser dem Sturz Assads. Arnold Hottinger hat im Journal21 den Bann gebrochen (Wer sind die Rebellen? 2. August 2012). Und wir sind für Pussy Riot, ohne sie zu kennen.
Das ist kein Plädoyer für diese Diktatoren und Autoritären! Aber ein alter deutscher Spruch sagt: „Im Streyte halt keyn Urtheyl feyl, es seyn gehört denn beyde Theyl“. Ich verteidige weder Milosevics ruchlosen Nationalismus noch Ghadafis Diktatur, Assads Brutalität noch Putins Rückfall in KGB-Methoden. Aber unser Herdentrieb, ihre Gegner ohne näheres Hinblicken pauschal zu unterstützen, widerspricht unserem Pluralismus: der Pflicht, kein definitives Urteil zu fällen, ohne alle Theyle anzuhören. Das Paradigma westlich-demokratischer Diffenzierung und journalistischer Neugier ist im Begriff verloren zu gehen. Wir unterstützen alle Rebellionen der Welt, ohne uns nach ihren Hintergründen, Interessen, Motiven und Diffenzierungen zu fragen.
Das kann gefährlich werden
Es gehört jedoch zu elementarer Vorsicht, die Welt kennenzulernen, wie sie wirklich ist, auch politisch und international; Clichés zu hinterfragen auch dort, wo wir klare Fronten sehen. Das gilt offenbar nicht mehr für unsere Medien, welche die öffentliche Meinung nähren. Und manchmal mit schwersten weltpolitischen Folgen nicht einmal mehr für Regierungen: Bush junior und Blair redeten sich ein, den Irak überfallen zu müssen, weil Saddam Hussein Atombomben habe. Besser in Syrien: Die westlichen Mächte widerstehen dem Druck der öffentlichen Meinung, den Rebellen Waffen zu liefern, sie sind vorsichtig bis nahezu handlungsunfähig, sie schätzen die Lage richtig ein. Was sie auch tun, eingreifen oder nicht eingreifen, Asad stürzen helfen oder nicht: Syrien ist ein Pulverfass für den Brand der ganzen Region geworden. Sunniten, Schiiten, Alawiten und Kurden, Saudiarabien, der Iran, die Türkei und alle anderen haben ein strategisches Seilziehen begonnen, das kaum anders enden kann als 1914, als die europäischen Grossmächte, ohne es zu wollen, in einen Weltkrieg schlitterten. Im Nahen Osten kann es noch schlimmer werden: ein Krieg von zwei oder mehreren schwankenden Verbündetenkoalitionen.
Unsere Parteinahme für den „arabischen Frühling“ ist gut und in unserem Interesse: Es ginge uns politisch und strategisch viel besser, wenn Demokratie, Pluralismus und Liberalismus im Nahen Osten einzögen. Aber dann sollten wir das Ideal des Pluralismus bei uns hochhalten. Unser blindes Unterstützen aller Rebellen, welcher Zielsetzung auch immer (es kann auch auf Scharia und Islamismus hinauslaufen!), das Ignorieren der schlummernden Gewaltkräfte in dieser Region macht unseren Aussenpolitikern eine kluge Politik schwieriger.
Gern wüsste ich, wie die Schweiz reagieren würde, wenn eine Punk-Gruppe im Münster von Zürich, Bern oder Basel den Altar bestiege und vor den Gläubigen wüste Lieder sänge. Mit einem landesweiten Aufschrei, und ganz ohne Strafe kämen sie wohl auch bei uns nicht davon.