Ehrlich: Die grosse Aufmerksamkeit, die man der vor 500 Jahren in der Poebene ausgetragenen Schlacht entgegenbringt, könnte schon wieder langweilen und auch ein wenig ärgern. Die jubiläumsbedingte Aktualisierung findet aus einer nicht untypischen Kombination von Rücksicht und Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Kalender statt. Rücksicht, weil sich das Ereignis heuer zum 500. Mal jährt; Rücksichtslosigkeit, weil diese Jährung eigentlich erst im Herbst anfällt. Wenn viele Medien und nun auch eine Ausstellung im Landesmuseum diesen historischen Bezugspunkt schon jetzt hochfahren, kann bei Leuten, die eher ein Nichtverhältnis zur Geschichte haben, die Neigung gross werden, endlich ebenfalls wissen zu wollen, was in M. damals geschehen und warum das so wichtig gewesen ist, dass man diesem Geschehen so viel Bedeutung beimisst. Was man dann mit diesem Wissen anfangen soll, ist wiederum eine andere Frage.
Würde man dem 1. April-Artikel des Tages-Anzeigers glauben, hätten Mailänder Historiker kürzlich herausgefunden, dass M., die Schlacht mit der schönen Doppelzahl 1515, schon zwei Jahre zuvor stattgefunden hatte. Wer mit alten Schriften zu tun hat, kann schon verstehen, dass 13 und 15 verwechselt werden könnten. Jetzt müssten Jubiläums T-Shirts neu gedruckt werden, und das VBS denke ernstlich daran, seinen zugesagten Jubiläumskredit von 50'000 Franken zurückzuziehen. Das tönt fast nach Sabotage eines hochpatriotischen Akts. Der Gedenkgegenstand wird wegen der kleinen Zeitverschiebung in seiner Bedeutung allerdings in keiner Weise geschmälert. Aufs Korn genommen wird lediglich die tatsächlich fragwürdige Jubiläumsgeilheit.
Feinde von gestern - Verbündete von morgen
Die aktuelle Beschäftigung M. wärmt zwangsläufig viel längst Bekanntes auf. Ein nicht unwichtiger Aspekt dieses Geschehens dürfte allerdings auch dem einigermassen Informierten bisher wenig bewusst gewesen sein: Nämlich, wie sehr das siegreiche Frankreich an einer gewissen Schonung des niedergerungenen Gegners interessiert war. Der geordnete Rückzug der geschlagenen Eidgenossen, den die vaterländische Geschichte zu einer siegreichen Niederlage stilisiert, wurde von 300 französischen Kriegern abgesichert, die zu diesem Zweck abkommandiert waren. Vielleicht erblickte François I, der junge französische König, in den Feinden von gestern schon jetzt Verbündete von morgen. Warum also Krieger niedermetzeln lassen, die schon bald für ihn in den Krieg ziehen könnten.
Die „bataglia dei giganti“ wurde bereits in der Zeit selber als Grossereignis eingestuft, nicht nur in der kleinen Schweiz, sondern auch in Frankreich und da vielleicht sogar in höherem Mass. Dieser Krieg ist also keine erst nachträglich aufgeblasene Geschichte. Nach einigen Jahren aber war diese Schlacht im Lande Tells wie vieles andere nach und nach dem Vergessen heimgefallen. Jedenfalls schenkte man M. in den folgenden Jahrhunderten wenig Beachtung.
Geburtsstunde der Neutralität?
Erst in den 1890er Jahren kam in der von starken und rivalisierenden Grossstaaten umringten Schweiz das Bedürfnis auf, eine aussenpolitische Maxime stark zu machen, die ihr zu einer historisch gerechtfertigten Sonderposition verhalf: die Neutralität. Und da diese Maxime umso eher als fundamentales Wesenselement der Schweiz plausibel gemacht werden kann, je tiefer zurück sie in der Geschichte angesiedelt wird, lancierte Paul Schweizer, ein Fachhistoriker und kein Politiker, 1895 die Behauptung, dass M. die Geburtsstunde der Neutralität gewesen sein.
Indiz für die schnelle und starke Akzeptanz dieser Vorstellung ist das ästhetisch zwar umstrittene, aber inhaltlich überhaupt nicht in Frage gestellte Hodler-Fresko der Waffenhalle des Landesmuseums. In der Wettbewerbsauschreibung von 1895 - nicht zufällig im gleichen Jahr wie Paul Schweizers Deutung – war der Rückzug von M. das von den Auftraggebern gesetzte Hauptmotiv. Es zeugte von Disziplin und Überlegenheit selbst in der Niederlage. Reproduktionen dieser Hodler-Helden zierten fortan schweizerische Räumlichkeiten, von den Schulstuben bis zum Bundesratbunker im Reduit des Zweiten Weltkriegs. Auf dem Hodler-Bild hatte der französische Geleitschutz bezeichnenderweise keinen Platz.
M. - die Geburtsstunde der Neutralität? Nach 1515 ging die Schweiz ziemlich unneutrale Allianzverträge ein und band sich während über 300 Jahren eng an das Kraftfeld Frankreich. Geändert wurde bloss das Geschäftsmodell: Statt mit selbständigen Reisläufer-Unternehmungen beteiligte man sich jetzt mit vertraglich vereinbarten „fremden Diensten“ an den europäischen Kriegen.
Rückzug der Nationalkonservativen
1968, in einer Zeit der sich auflösenden Normen, wollte man im Rahmen der jährlich durchgeführten Pädagogischen Rekrutenprüfungen in Erfahrung bringen, was junge Schweizer über die Neutralität wissen. Die allererste Frage galt den Anfängen der Neutralität. Das triste Resultat lautete, dass drei Viertel des Jahrgangs falsche oder keine Angaben dazu machten. Von den Befragen hätten nur knapp 19 Prozent die als richtig eingestufte Antwort gegeben, nämlich: die Niederlage von M. als Ursprung der Neutralität. Diese „richtige“ Antwort ist, auch wenn man manche historische Einsichten als relativ einstufen kann, schlicht und einfach falsch.
Inzwischen hat das Verständnis geändert und hat man selbst im nationalkonservativen Lager wie bei M. den Rückzug angetreten. Jetzt wird nicht mehr die Richtigkeit des unhaltbaren Geschichtsbildes behauptet, sondern vielmehr erklärt, dass diesem zwar fragwürdigen Bild doch eine eigene historische Kraft innerwohne, weil es schweizerischem Wesen entspreche und darum als solches in höherem Sinn doch wahr sei.
Welche Grossmachtambitionen?
Und im weiteren wird der Akzent darauf gesetzt, dass die Schweiz nicht gleich nach M. zur Neutralität übergegangen sei, sie habe aber nach der ausserhalb ihrer Grenzen gemachten schlechten Erfahrung die bisherige Grossmachtambition aufgegeben und sich fortan mit Kleinstaatlichkeit begnügt. „Auf dem Schlachtfeld in der Poebene verbluteten die schweizerischen Grossmachtambitionen, als Grossmacht in Europa zu wirken.“ (Markus Somm, Basler Zeitung vom 11. Oktober 2014). Doch was wissen wir eigentlich, wie gross die behaupteten Ambitionen der Schweiz vor 1515 wirklich waren? Werden sie nicht grösser gezeichnet, als sie waren, um die danach eingetretene „Bescheidung“ besser sichtbar zu machen?
Der Gegenüberstellung von Gross und Klein liegt, vor allem wenn sie auf Europa bezogen ist, eine stark überholte Vorstellung zugrunde: Grossmacht gleich alles beherrschender Akteur, Kleinstaat gleich selbstbestimmtes Leben in der Nische der Geschichte und insbesondere keine EU-Mitgliedschaft! Luxemburg und ein paar andere Kleinestaaten zeigen, wie falsch diese Vorstellung ist. Aus der nach M. angeblich eingeleiteten Verabschiedung von der europäischen Bühne wird abgeleitet, dass die Schweiz nicht auf diese Bühne zurückkehren dürfe, wenn sie ihrer Geschichte treu bleiben wolle.
Widerspruch gegen rechtsnationale Deutung
Vor 50 Jahren, 1965, wurde M. in diesem Sinn mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen. Christoph Blocher war als 24jähriger Werkstudent damals für das Jubiläumskomitee tätig und kam dabei vielleicht erstmals mit wichtigen Wirtschaftsakteuren in Kontakt, was für seine weitere Karriere wichtig war. Warum aber engagierten sich damals hochgestellte Exponenten der Wirtschaft für einen historischen Vorgang, der zum politischen (nicht wirtschaftlichen) Rückzug aus Europa geführt haben soll? In den 1960er Jahren drohte der Schweiz eine vermehrte Integration in europäische Strukturen (EWG 1957 und EFTA 1960). Damals, 1963, pilgerten sogar „verräterische“ Bundesräte - Traugott Friedrich Wahlen (BGB/SVP) und Hans Schaffner (rechte FDP) - nach Brüssel, um ein substanziellen Assoziationsabkommen auszuhandeln. Da erschien es als geboten, schweizerische Wirtschaftsfreiheit unter Berufung auf politische Losungsworte wie Souveränität und Sonderweg zu verteidigen.
Jetzt fahren wir in der M.-Debatte eine weitere Runde, noch immer indirekt auch mit Blick auf die Europafrage, aber intern unter anderen Bedingungen. Während vor 50 Jahren die Anhänger eines sehr traditionalistischen Erinnerungskults noch allein auf weiter Flur standen, sind inzwischen Gegenstimmen angetreten, welche ein kritischeres Geschichtsverständnis haben und die rechtsnationalen Deutungen der Schweizer Geschichte insbesondere durch die SVP nicht länger widerspruchslos hinnehmen wollen.
Wahlkampfmunition im Wahljahr
Es ist aber unangemessen, deswegen vom „Historikerstreit“ zu sprechen. M. gibt keinen Streit zwischen Fachleuten ab, wie man das in deutschen Kontroversen erlebt hat. Gestritten wird wohl zwischen politisch programmierten Amateurnutzern, für die im Wahljahr 2015 die Nationalgeschichte Wahlkampfmunition abgibt. An diesem Streit beteiligen sich Publizisten mit etwas historischer Basisausbildung wie der SVP-nahe „BaZ“-Chefredaktor Markus Somm oder der „Weltwoche“-Mann Peter Keller.
Keller schreibt gerne M. und anderen Mythen eine eigene grosse Wirkungsmacht und Ausstrahlung zu. Vergangenheit teilt sich nicht selber mit, sie wird zu bestimmten Geschichtsbildern gemacht und so weitergegeben. Was die Nationalkonservativ kolportieren, ist nicht das Geschehen von 1515, sondern ein Geschichtsbild, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkam und bis in die 1970er Jahre sich halten konnte. Sie propagieren eigentlich nur Erinnerung an eine ganz bestimmte höchst fragwürdige Erinnerung.
[1] Georg Kreis ist em. Prof. für Geschichte der Universität Basel und Herausgeber des im vergangenen Jahr erschienen Standardwerks: Die Geschichte der Schweiz. Schwabe Verlag Basel 2014. 645 S. Gesamtdarstellung mit Beiträgen von 30 Autor/innen. Kreis hat sich mehrfach mit M. befasst, etwa in seinem Buch „Schweizerische Erinnerungsorte. Aus dem Speicher der Swissness. Zürich NZZ-Libro 2010. Im vergangenen Jahr hat er auf Einladung einer Schriftstellergruppe im Rahmen der Aktion „Hurra, verloren! 499 Jahre Marignano“ einen grösseren Beitrag verfasst, vgl. http://www.marignano.ch/pagina.php?0,1,10