Journal21: Herr Stern, Sie leben seit über 75 Jahren in Amerika. Unlängst haben Sie in einem Interview die Meinung geäussert, die USA seien angesichts der ausufernden Datenüberwachung zu einem „Polizeistaat ohne Polizei“ geworden und zu einem Land mit plutokratischer Tendenz. Waren Sie jemals so besorgt um die Zukunft Ihres Landes?
Fritz Stern: Ja, ich habe mir noch nie so grosse Sorgen gemacht, und zwar aus den verschiedensten Gründen. Amerika ist zutiefst polarisiert. Dann ist da die immer stärker werdende Rolle des Geldes in der Politik. Es hat fast immer rechtspopulistische Bewegungen gegeben, so wie jetzt die Tea Party. Aber noch nie ist solchen Bewegungen so viel Geld zugeflossen, wie wir es heute beobachten.
Sind die vor einiger Zeit gesetzlich erlassenen stärkeren Einschränkungen bezüglich Wahlkampfspenden wieder aufgehoben worden?
Der Oberste Gerichtshof hat inzwischen entschieden, dass Firmen und Verbände (Corporations) das gleiche Recht haben, Geld zu spenden wie Individuen. Das hat die Schleusen zum Einsatz immer astronomischerer Wahlkampfgelder, die den Parteien und Kandidaten zur Verfügung stehen, noch sehr viel weiter geöffnet.
Sie haben 2008 die Wahl von Barak Obama engagiert unterstützt. Hat Sie seine bisherige Präsidentschaft enttäuscht?
Am Anfang ja. Ich hatte den Eindruck, dass Obama sich der gutmütigen Illusion hingegeben hat, er könnte das Land politisch wieder zusammenschweissen. Er hätte deutlich machen sollen, in welch miserablem Zustand die USA sich am Ende der George W. Bush-Präsidentschaft in wirtschaftlicher und aussenpolitischer Hinsicht befanden. Aber vor einigen Monaten hat er nach einem schrecklichen Massaker in einer von schwarzen Bürgern besuchten Kirche in Charleston, South Carolina einen denkwürdigen Auftritt gehabt. Er hat eine bewegende Rede gehalten, das populäre Kirchenlied „Amazing Grace“ angestimmt und mit Leidenschaft für ein Vereinigtes Amerika plädiert. Das hat mich wieder von ihm überzeugt.
Hat Obama sein ursprüngliches Versprechen, das exterritoriale Sondergefängnis für Terroristen im Stützpunkt Guantánomo auf Kuba aufzulösen, aufgegeben?
Nein, ich denke, er wird sich bis zum Ende seiner Präsidentschaft dafür einsetzen. Ob er angesichts der starken Widerstände im Kongress und auf andern Ebenen sein Ziel erreichen kann, weiss ich nicht.
Sie haben als amerikanischer Bürger immer für die Demokratische Partei gestimmt. Nun haben Sie erklärt, Sie würden nicht Hillary Clinton wählen. Bleibt das so, auch wenn sie von dieser Partei offiziell als Präsidentschaftskandidatin nominiert wird?
Ich bin vorläufig für die Kandidatur des unabhängigen Senators und Aussenseiters Bernie Sanders aus Vermont. Aber wenn Hilary Clinton tatsächlich die offizielle Kandidatin wird, so würde ich zwar unglücklich sein, aber am Ende möglicherweise doch für sie stimmen, weil sie immer noch besser ist als einer jener Republikaner, die ins Rennen um die Nomination ihrer Partei eingestiegen sind.
Ist es denkbar, dass bei den Demokraten noch neue Präsidentschaftskandidaten auftreten werden? Zum Beispiel John Kerry oder Joe Biden?
Ja, das ist möglich. John Kerry würde ich für sehr qualifiziert halten. Er macht einen ausgezeichneten Job als Aussenminister. Was Joe Biden betrifft, so würde ich ihn jedenfalls vorziehen gegenüber Hilary Clinton. Er hat sehr viel Erfahrung als Vizepräsident und als langjähriger Senator. Er redet zwar oft zu viel. Und er ist so zögernd bei der Frage seiner Kandidatur – was mit dem vor kurzem erfolgten Tod seines Sohnes begründet wird – , dass ich nicht mehr an seinen Willen glaube, an diesem Rennen teilzunehmen.
Was spricht nach Ihrer Ansicht gegen Hillary Clinton als Präsidentschaftskandidatin?
Sie ist aus meiner Sicht zu stark verbandelt mit grossen Geldgebern und hat zu wenig Distanz zu einflussreichen wirtschaftlichen Interessengruppen – noch weniger als das bei Bill Clinton der Fall war. Es ist das plutokratische Element, das mir bei ihr vor allem missfällt. Ausserdem ist sie mir zu „hawkish“.
Wer war während Ihres langen Lebens in Amerika der beste Präsident, den Sie erlebt haben.
Das war der erste Präsident, den ich erlebt habe – Franklin Roosevelt. Man muss sich vorstellen, ich komme 1938 als Zwölfjähriger aus einem Land, das Hitler und den Nazis zujubelte, und da ist dieser Präsident, der zuerst einmal einen ungeheuren Sinn für politischen Humor zeigte und einen ansteckenden Optimismus verbreitete. Roosevelt hat ja das Land gegen den Willen seiner eigenen Herkunftsschicht umgekrempelt, die Social Security (das staatliche Rentensystem) durchgesetzt und damit viel für die soziale Sicherheit auch der ärmeren Schichten erreicht – weniger damals allerdings für die schwarze Minderheit. In gewissem Sinne ist die hart erkämpfte Einführung einer allgemeinen obligatorischen Krankenversicherung unter Präsident Obama vergleichbar mit Roosevelts Erfolg mit der Social Security.
Herr Stern, sie sind seit Jahrzehnten ein aufmerksamer Beobachter der politischen Entwicklungen in den USA und in Deutschland. Würden Sie sagen, dass das heutige Deutschland im Vergleich zu Amerika eine funktionstüchtigere Demokratie ist?
Ich fürchte, ich muss diese Frage zurzeit mit Ja beantworten. Obama selber hat ja in gewissen politischen Zusammenhängen von Dysfunktionalität gesprochen. Leider gibt es bei uns statt einer vernünftigen konstruktiven Opposition diese dogmatischen Fanatiker in den republikanischen Reihen, die in irrealen Welten leben und deshalb eine destruktive Rolle spielen.
Warum gibt es nicht mehr politischen Widerstand auf breiter Basis in den USA gegen die unglaublich ausgeweitete elektronische Datensammelwut staatlicher Institutionen wie der NSA (National Security Agency)?
In der amerikanischen Öffentlichkeit ist das heute tatsächlich kein vorrangiges Thema. Es scheint die breiten Massen weniger zu beunruhigen, eher besorgt ist man unter den Eliten. Aber ich habe den Eindruck, dass Big Data auch in Europa stark verbreitet ist, es ist hier nur weniger bekannt – oder es wird mit noch mehr Achselzucken akzeptiert. Zum Beispiel in Frankreich, da erwartet man nicht viel anderes vom zentralistischen Staat.
Der Mann, der der Öffentlichkeit ja tiefere Einblicke in die gigantische Abhörtätigkeit der NSA und mit ihr kooperierender Geheimdienste verschafft hat, ist der frühere NSA-Mitarbeiter Edward Snowden, der nun in Moskau im Asyl sitzt. Verhält Amerika sich richtig gegenüber diesem Whistleblower? Könnte ihm die Regierung nicht freies Geleit anbieten, um sein Wissen zum Beispiel vor einem Kongressausschuss darzulegen? Jetzt sitzt er ausgerechnet in Moskau und wird von seinem Land als Verräter behandelt.
Das ist ein wunder Punkt bei mir. Snowden hat schliesslich Gesetze gebrochen. Auf der andern Seite hat er auch Positives geleistet, er hat uns die Augen geöffnet über das Ausmass der elektronischen Überwachung in unserem Land. Ich fühle mich also ambivalent ihm gegenüber. Meine Frau ist da eindeutiger, sie ist dafür, dass er in die USA zurückkehren und dort die Öffentlichkeit weiter erreichen kann. Snowden selber würde wohl lieber in der Schweiz leben als in Moskau.
Ein aktuelles aussenpolitisches Thema ist immer noch der sogenannte Iran-Deal, also das Abkommen der Grossmächte mit dem Teheraner Regime über die Einschränkung und Kontrolle seines Atomprogramms. Dieses Abkommen hat der israelische Ministerpräsident Netanyahu durch sehr direkte Einmischungen in die amerikanische Innenpolitik zu Fall zu bringen versucht. Was halten Sie von seiner Politik?
Die Kritik an Netanyahus Taktik und Stil in dieser Frage kann gar nicht stark genug sein. Das Zusammenspiel zwischen ihm und den Rechtsrepublikanern in Amerika ist ein schwerer Fehler – gerade auch für die wirklichen langfristigen Interessen Israels. In diesen Tagen ist Netanyahu ja zu Besuch bei Putin in Moskau. Und da drängt sich mir der Gedanke auf, dass bei Netanyahu auch eine gewisse Affinität zu autoritären oder sogar unterschwellig antisemitischen Machthabern und Strömungen zu erkennen ist. Da sind möglicherweise bei ihm Vorurteile gegen das alte liberale Judentum im Spiel, auch gegen den zum Teil sozialistisch inspirierten Zionismus, der den Staat Israel gegründet hat.
Ich halte Netanyahu wirklich für eine katastrophale Schicksalsfigur in der Geschichte Israels. Unter anderem hat er Israel immer mehr in die Isolation manövriert, gerade auch gegenüber Europa. Was hat er nicht alles verspielt! Ebenso wie ich denke, dass die Ermordung des damaligen Ministerpräsidenten Rabin vor 20 Jahren durch einen religiösen israelischen Fanatiker ein entscheidendes und schreckliches Ereignis für dieses Land war.
Hat Netanyahu bei seiner Kampagne gegen das Iran-Abkommen den Einfluss der konservativen Israel-Lobby in Amerika überschätzt?
In diesem Fall ja, jedenfalls ist es ihm nicht gelungen, im Senat eine Zweidrittelmehrheit zu mobilisieren, um ein Veto von Präsident Obama zu überstimmen. Es gibt ja traditionell starke liberale Strömungen unter den jüdischen Bürgern in Amerika. Aber ich glaube nicht, dass Netanyahu und seine Anhänger in der politischen Öffentlichkeit aus diesem Fehlschlag etwas gelernt haben.
Was ist ihre Meinung zum Phänomen Donald Trump in der laufenden amerikanischen Wahlkampagne und seines erstaunlichen bisherigen Erfolgs im republikanischen Lager?
Für mich ist er das exemplarische Beispiel für einen gewissen Trend zur Verdummung und zur politischen Ahnungslosigkeit in der öffentlichen Diskussion meines Landes. In einer komplizierten und global immer dichter verknüpften Welt ist die Leichtigkeit, mit der Trump seine frivolen Sprüche und vermeintlichen Patentrezepte von sich gibt, erschreckend. Und noch beunruhigender ist die Resonanz, die Trump mit seinem Stil und seinem irrationalen Gerede beim Publikum findet. Er ist ein Beispiel für die von Jacob Burckhardt beschriebenen „terribles simplificateurs“.