Der russische Botschafter in Genf hat erklärt, die syrische Armee bereite eine Grossaktion vor, die sich gegen Raqqa und Deir az-Zor richten werde. Dies dürfte jedoch diplomatische Propaganda sein. Sie beabsichtigt, den Kampf gegen den IS als Hauptziel hinzustellen. Doch sie trifft nur insofern zu, als das Wort "Vorbereitung" auf Aktionen hindeuten kann, die nicht unmittelbar bevorstehen.
Eine neue Offensive
Was in Wirklichkeit begonnen hat, ist vielmehr ein neuer Angriff auf Aleppo. In den letzten sieben Tagen sind dort "mindestens 202" Zivilisten ums Leben gekommen, wie das in London ansässige Menschenrechtsobservatorium für Syrien erklärt. Sie wurden Opfer von Bombardierungen, Heckenschützen und Artilleriebeschuss. Besonders schockierend war die Bombardierung eines Spitals der Médecins sans Frontières, dessen Koordinaten Damaskus bekannt gegeben waren.
Die Bomben forderten 24 Tote, darunter zwei Ärzte. Einer von ihnen war der letzte Kinderarzt von Ostaleppo. "Unentschuldbar" nannten das die Amerikaner und die Uno. Wahrscheinlich war die syrische Luftwaffe verantwortlich. Auch die Russen wurden der Untat angeklagt. Sie erwiderten, sie hätten an jenem Tag Aleppo nicht bombardiert.
Waffenstillstand mit Einschränkungen und Ausnahmen
Theoretisch herrscht noch immer ein Waffenstillstand. Doch in Aleppo und rund um völlig umzingelte Osthälfte der Stadt gilt er wenig. Die Nusra-Front ist bekanntlich von ihm ausgenommen und in den der ganzen Provinz Aleppo sowie in der von den Rebellen beherrschten Stadthälfte ist Al-Nusra überall präsent und kämpft aktiv gegen die Regierungstruppen sowie gegen jene vom IS, die ihrerseits aus dem Osten Syriens vordringen.
Dies geschieht stets in Verbindung mit anderen lokalen Kampfverbänden und Milizen, die eigentlich in den Waffenstillstand einbezogen sind. Die Vermischung bietet den Russen und den Regierungstruppen Gelegenheit, den Waffenstillstand im Raum Aleppo zu ignorieren - denn es gehe ja dort gegen die Nusra-Front und ihre Verbündeten. Sie können ihn gleichzeitig, wo es ihnen aus taktischen oder aus diplomatischen Gründen zugute kommt, aufrecht erhalten und seine weitere Fortsetzung fordern.
Weniger diskret und diplomatisch als der erwähnte russische Botschafter sagen Offiziere und Armeesprecher in Damaskus, eine Grossaktion in Aleppo stehe bevor, ja habe bereits begonnen. Es gehe darum, verlautet aus diesen Kreisen, die Stadt völlig zu umzingeln, die „Terroristen“ aus ihr zu vertreiben und dort eine "Sicherheitszone" zu errichten.
Sicherheitszone für Asad
Das Stichwort "Sicherheitszone" nimmt die ursprünglich türkischen Pläne auf, welche auf eine Sicherheitszone an der türkische Grenze abzielten, aber nie zur Verwirklichung kamen. Damaskus geht es nun darum, eine von der Asad-Regierung beherrschte Sicherheitszone an der nördlichen Grenze zu errichten, um restlos auszuschliessen, dass dort, wie es Erdogan vorschwebte, eine von den Widersachern Asads beherrschte und international abgesicherte Zone auf syrischem Staatsgebiet entsteht.
Zur Zeit gibt es dort keine Sicherheitszone, jedoch grosse Lager, mehr oder weniger improvisiert. Sie befinden sich direkt auf der syrischen Seite der türkischen Grenze, wo mehrere Zehntausende von Flüchtlingen festsitzen, die in die Türkei fliehen wollten, aber nicht mehr über die Grenze gelassen werden. Die Grenze ist nun für alle geschlossen, ausser für Schwerverletzte, die in die türkischen Spitäler gebracht werden können.
Die türkischen Grenzwächter setzen Tränengas ein, wenn die Flüchtlinge zu den Grenzbefestigungen drängen, und sie geben Schüsse in die Luft ab. Umstritten ist, ob die türkische Polizei, wie manche behaupten, auch Flüchtlinge, die sich bereits auf türkischem Boden befinden, über die Grenze zurückbefördert. Angesichts der Massen, die sich dort aufstauen, ist die Lage dort chaotisch und unübersichtlich. Manche der Flüchtlinge haben Gräben gegraben, um im Falle von Artillerie und Luftangriffen wenigsten eine prekäre Deckung zu finden.