In der vom Uno-Sicherheitsrat einstimmig angenommenen Resolution konnten die Russen und ihre Freunde ihre Vorstellungen durchsetzen. Die Amerikaner und ihre Anhänger konnten das Gesicht wahren.
Der Streit drehte sich darum, ob bei Nichterfüllung des Giftgasabkommens der Sicherheitsrat unter Kapitel VII eingreifen könne oder nicht. Die Russen waren dagegen, die Amerikaner dafür. Der Kompromiss lautet, der Sicherheitsrat könne eingreifen, jedoch nur, wenn zuvor ein weiterer Sicherheitsratsbeschluss zustande gekommen sei, der dies zulasse.
Ob ein solcher Sicherheitsratsbeschluss zustande käme, falls Syrien das Giftgasabkommen nicht erfüllt, ist natürlich sehr fraglich. Russland und China könnten einmal mehr ihr Veto dagegen einlegen. Die Gesichtswahrung für die westlichen Mächte besteht darin, dass der Sicherheitsrat als - mögliche - Sanktionsautorität Erwähnung fand. Als die Umrisse eines Giftgasabkommens zwischen Lawrow und Kerry in Genf ausgehandelt wurden, schwebte diese Lösung der russischen Seite bereits vor. Lawrow erklärte, Gewalt anwendende Uno-Sanktionen im Falle der Nichterfüllung würden "nicht automatisch" sein.
Militärisches Eingreifen erschwert oder verunmöglicht
Der Kompromiss erlaubt zum ersten Mal, dass der Sicherheitsrat in der syrischen Frage beschlussfähig wird. Allerdings bloss im Hinblick auf das Giftgas und unter Einschränkung der Bezugnahme auf Kapitel VII, das militärische Zwangsmassnahmen zulässt. Dies bewirkt, dass die Möglichkeit eines offenen militärischen Eingreifens in den syrischen Bürgerkrieg noch weiter erschwert oder verunmöglicht wird, als bisher - sogar dann, dass es zu neuen Gasangriffen kommen sollte.
Man kann dies als Gedankenspiel so schildern: Wenn erneut Chemiewaffen eingesetzt würden, würden Russland und seine Freunde, sowie natürlich auch die Asad-Regierung, mit Sicherheit einmal mehr behaupten, schuld sei nicht die Regierung sondern die Rebellen. Dies tun sie schon heute - Beweise und Indizien hin oder her. Die Gegner Asads würden versuchen, Kapitel VII anzurufen, um einen international sanktionierten Eingriff zu rechtfertigen. Doch die Freunde Asads würden mit einem Veto drohen und sich darauf berufen, dass ihrer Ansicht nach nicht Asad sondern seine Gegner das Gas eingesetzt hätten.
US-Waffen für die Rebellen
Die russische Diplomatie gebraucht gegenwärtig die schwer angreifbare Formulierung: "Wir haben ernsthafte Indizien dafür, dass die Giftgasangriffe von der Rebellenseite ausgingen". Natürlich ohne diese Indizien öffentlich vorzulegen. Im Falle eines Streites um Nicht-Erfüllung der versprochenen Abschaffung der syrischen Gaswaffen würde das gleiche passieren.
All dies betrifft nur die syrischen Chemiewaffen und ihre erhoffte und versprochene Abschaffung. Der syrische Bürgerkrieg ist damit natürlich keineswegs beigelegt. Dass er durch den Einsatz äusserer Kräfte beigelegt werden könnte, wird immer unwahrscheinlicher. Die Uno wird nun mit der Gasangelenheit beschäftigt sein. Die Amerikaner haben erklärt, sie gedächten mehr zu tun, damit die Rebellen den Krieg nicht verlören. Was dies genau bedeutet, bleibt unklar. Doch es ist offensichtlich, dass es um Waffenlieferungen geht, die über die Geheimdienste geleitet werden. Ziel sei, wie die Amerikaner nach wie vor darlegen, die Rebellen zu unterstützen, aber nur gerade so weit, dass beide Seiten im Bürgerkrieg erkennen müssten, dass keine von ihnen den Krieg gewinnen kann und dass nur Verhandlungen die Lösung seien.
Hunderte Kampfgruppen
Doch der Bürgerkrieg hat heute offensichtlich mehr als zwei Seiten. Wenn man aufzählt, wer gegen wen kämpft, kommt man auf folgende Hauptkräfte: die Asad-Regierung kämpft gegen "die Rebellen", die sie "Terroristen" nennt. Diese kämpfen gegen das Asad-Regime, aber auch untereinander. Da gibt es auch die Kurden, die Jihadisten in mindestens zwei feindlichen Hauptgruppen - und die nicht islamistischen "säkularen" Kampfgruppen.
Derartige ideologische Etiketten dienen zur Unterscheidung von aussen. Von innen her gesehen besteht ein Hin und Her. Einzelne der Hunderten von Kleingruppierungen schliessen sich hier oder dort an, wo sie sich am ehesten Unterstützung von Geld und Waffen versprechen. Sie nehmen dabei oftmals in Kauf, dass sie auch ideologische Etiketten zu übernehmen haben.
Soeben wird von zwölf Kampfgruppen gemeldet, sie hätten sich zusammengeschlossen und sich gleichzeitig von der Exilführung losgesagt, das heisst von der Syrischen Nationalen Koalition. Diese tagt im Ausland und streitet sich dort permanent. Ihr soll das Kommando der Freien Syrischen Armee mehr oder weniger unterstellt sein. Wie weit und in welchem Masse ist umstritten. Die Freie Syrische Armee agiert von der Türkei aus.
Diese Nationale Koalition wird von rund 50 Staaten (den "Freunden Syriens") als provisorische Regierung Syriens anerkannt. Doch innerhalb Syriens hat sie nur wenig zu sagen.
Zusammenschluss von Islamisten
Abdel Aziz Salame, der als der höchste politische Chef der sogenannten Tawhid-Brigade in Aleppo auftritt, hat eine Erklärung No. 1 herausgegeben. Dies lässt weitere Erklärungen erwarten. Er sagt darin, zwölf Gruppen von Aufständischen hätten sich geeinigt auf die drei folgenden Punkte:
1) Alle zivilen und militärischen Kampfgruppen sollten sich zusammenschliessen und in einem "islamischen Rahmen" für einen syrischen Staat unter der Scharia kämpfen.
2) Die zwölf unterzeichnenden Gruppen seien der Ansicht, dass sie nur durch Personen repräsentiert werden könnten, die für die Revolution lebten und sich ihr opferten. Deshalb könnten Exil-Gruppen nicht für sie sprechen. Die Unterzeichneten sagten sich los von der Nationalen Koalition und der von ihr geplanten Exilregierung unter Ahmed Touma.
3) Die Revolutionsgruppen sollten Streit untereinander vermeiden.
Zu den Unterzeichnenden Zwölf gehört als Erste die Nusra-Front, dann weitere vier, die mit ihr zu den bekanntesten und erfolgreichsten Kampfgruppen des Nordens gehören: Islamic Ahrar al-Sham; Tawhid-Brigade; Islam-Brigade und Suqur ash-Sham. Die restlichen acht sind kleinere Gruppen. Alle sind "islamistisch", das heisst, sie kämpfen für einen "islamischen Staat". Alle zusammen kontrollieren mehrere 10‘000 Kämpfer. Ihren eigenen Angaben nach sollen es 50‘000 sein. Die meisten kämpfen im Norden Syriens, besonders in Aleppo und Umgebung, doch auch Kampfgruppen in den Vorstädten von Damaskus sind vertreten.
Wichtige Abwesende
Zwei gewichtige Gruppen fehlen: Das "Faruq Batallion" und die "Enkel des Propheten Brigade". Diese beiden gelten als relativ eng mit der FSA (Freien Syrischen Armee) verbunden. Doch die wichtigste der fehlenden Gruppen ist der "Islamische Staat von Iraq und Syrien" (ISIS).
Die Nusra-Front und der "Islamische Staat" haben erklärt, sie hätte sich al-Qaida angeschlossen. Doch sie stritten sich untereinander, weil die Nusra-Front einen islamischen Staat für Syrien anstrebt. Der "Islamische Staat" hingegen, wie sein Namen sagt, will einen islamischen Staat, der weit über Syrien hinausreichen soll, den Irak umfassen und bis weit nach Osten ausgedehnt werden soll – ohne Rücksicht auf die heute bestehenden "nationalen" Staaten.
Islamische Internationalisten
Der "Islamische Staat" dient als das wichtigste Sammelbecken der nicht syrischen Jihadisten, die aus dem arabischen und dem islamischen Raum zu den Kämpfern gestossen sind. Er geht auf syrische Jihadisten zurück, die zur Zeit der amerikanischen Besetzung den irakischen Sunniten zu Hilfe kamen, um gegen die Amerikaner zu kämpfen.
Manche der gegenwärtigen Kämpfer kommen auch aus Europa einige aus Libyen und viele aus Tunesien und aus dem Irak. Sie haben kein Interesse an einem syrischen Staat, selbst wenn er "islamisch" wäre. Sie sind islamische Internationalisten.
Neben diesen ideologischen Differenzen gibt es auch starke persönliche Rivalitäten zwischen den beiden Hauptanführer dieser zwei feindlichen Qaida-Lager.
Eigene Territorien
Jede dieser beiden Kampfgruppen versucht, ihr eigenes Territorium in Nordsyrien zu beherrschen und der dortigen Bevölkerung, soweit sie nicht geflohen ist, ihre Herrschaft aufzuzwingen. Der "Islamische Staat" gilt als Vormacht in der westlichen Grenzregion zwischen Lattakiya und der Türkei.
Die Nusra-Front besitzt Territorium in der nördlichen Jezira, nördlich und östlich von Aleppo und an der türkischen Südgrenze. Doch die Kurden versuchen dort, ihre eigenen Gebiete weiter zu kontrollieren und sind daher mehrfach mit den Kämpfern der Nusra-Front zusammengestossen. Andere Kampfgruppen, die zuerst in die Gebiete östlich des Euphrats vorstiessen, sind von Nusra-Kämpfern zurückgeschlagen und teilweise vertrieben worden.
Es gibt weiter Hunderte von Kleingruppen, die nirgends angeschlossen sind und versuchen, auf eigene Faust Gelder und Waffen zu finden. Sie haben oft reiche Sunniten aus den Golfstaaten als Gönner. Eine Methode, sich von ihnen Geld zu verschaffen, soll sein: Man dreht ein Video von eigenen Kampfhandlungen und zeigt dieses potentiellen Gönnern, die Patenschaften über ihre persönlichen Jihad-Gruppen übernehmen. Personen, denen es gelingt, auf diese Art Gelder zu beschaffen, sind dann in der Lage, Kämpfer um sich zu versammeln und als ihre Anführer aufzutreten. Wenn die Gelder ausbleiben, müssen sie entweder neue Gönner finden oder sich Gruppen anschliessen, die in der Lage sind, für ihre Bedürfnisse zu sorgen.
Noch kein voller Zusammenschluss
Ob die Erklärung Nummer eins den Anfang einer grösseren Zusammenschlussbewegung darstellt, und welcher Art dieser Zusammenschluss sein wird, bleibt abzuwarten. Bisher gibt es nur diese eine Erklärung. Von einem vereinigten Kommando oder auch nur von koordinierten Aktionen oder von einem Sprecher für alle Beteiligten ist nicht die Rede. Man weiss nicht einmal, ob wirklich alle der aufgezählten Gruppierungen vollständig mit dabei sind, oder manche bloss teilweise.
Das Haupthindernis für ein wirkliches Zusammenwirken dürften weniger die ideologischen Fragen sein. Diese lassen sich flexibel interpretieren. Das wichtigste Problem ist vielmehr der Ehrgeiz der verschiedenen Anführer, die sich jetzt einem oberen Kommando unterordnen müssten.
Die äusseren Geldgeber und Waffenbeschaffer sind ebenfalls teilweise untereinander verfeindet. So besteht ein ziemlich bitteres Rivalitätsverhältnis zwischen Qatar und Saudi-Arabien, weil Qatar die Muslimbrüder und ihre Projekte für eine islamische Demokratie fördert. Die Saudis aber stufen die Brüder als Feinde ein. Die Saudis fürchten sich vor einer „Islamischen Demokratie“. Eine solche könnte für ihr entschieden undemokratisches, aber ebenfalls als „islamisch“ auftretendes Regime eine Gefahr darstellen.
Freude der Amerikaner sind selten geworden
Die jüngsten Entwicklungen in Ägypten haben die Saudis und ihre Freunde gestärkt. Die Rivalität mit Qatar dauert weiter an. Die Amerikaner haben mit saudischer Hilfe in Jordanien einen eigenen Stützpunkt eingerichtet. Sie versuchen von dort aus über die syrische Südgrenze die Rebellen zu unterstützen, die im Grenzraum von Deraa aktiv sind. Wenn es gelänge, sie zu einer wirksamen Kampfgruppe zusammenzuschliessen, wären sie von Gewicht, weil ihre Front sehr nah an Damaskus, der Hochburg des Asad-Regimes, heranreicht. Doch wie weit diese Pläne gediehen sind, ist ungewiss. Von militärischen Fortschritten südlich von Damaskus ist bisher jedenfalls nicht die Rede gewesen.
Im syrischen Widerstand gibt es die - untereinander verfeindeten – Qaida-Freunde; die Freunde der Saudis; jene von Qatar und solche der Türkei. Doch Freunde der Amerikaner sind selten geworden.