Was sagt die Forschung zum Freizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union (EU)? Mitarbeiter verschiedener Universitäten, die im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts zu Mobilität und Migration (nccr – on the move) arbeiten, haben am 27. August im Polit-Forum Bern Zahlen und Analysen vorgestellt.
Danach ist laut Jonathan Zuffrey dank der Personenfreizügigkeit das Durchschnittsalter der Arbeitnehmer gesunken und diese sind deutlich höher qualifiziert als zuvor. Gut die Hälfte der Einwanderer würde zudem innert fünf Jahren die Schweiz wieder verlassen. Der Ökonom Ensar Can betonte, dass zwar die Angst vor Lohndumping in der Öffentlichkeit verbreitet sei, die Statistiken zeigten jedoch auf, dass die Durchschnittslöhne stiegen und die Arbeitslosigkeit abnehme. Auch hätten die Einwanderer die Einheimischen auf dem Arbeitsmarkt nicht verdrängt, sondern sie hätten dank ihrer Qualifikationen das Angebot ergänzt und erweitert. Die Auswirkungen der Freizügigkeit werden von den Forschern als durchwegs positiv dargestellt.
Neben Gewinnern gibt es auch Verlierer
Diese günstige Bewertung für die Schweiz trifft allerdings nicht im ganzen Land in gleichem Ausmass zu. Viele Tessinerinnen und Tessiner finden die Personenfreizügigkeit ein Übel, das abgeschafft gehöre. Das Tessin ist praktisch umgeben vom Tieflohnland Italien und der Lohndurchschnitt liegt gegen 20% unter jenem der Deutschschweiz. Grenzgänger sind bereit, zu viel tieferen Löhnen zu arbeiten, die für Einheimische nicht akzeptabel sind, da sie mit zwei-, dreitausend Franken nicht leben können. Die Durchschnittslöhne, mit denen auch das Staatssekretariat für Wirtschaft argumentiert, sind für viele in der Südschweiz eine Schönfärberei.
Es gibt in der Folge der Globalisierung und der Freizügigkeit nicht allein Gewinner, sondern auch Verlierer; diese werden vom Staatssekretariat und teilweise auch von der Forschung allein gelassen. Weshalb kümmert man sich nicht entschiedener um diese Menschen? Ihnen ist nicht geholfen, wenn man feststellt, und zwar zu Recht, dass auch im Tessin die Vorteile des Freihandelsabkommens überwiegen würden. Die vielen Unternehmen, die ihre Waren in die EU exportieren, und die vielen Arbeitsplätze, die dadurch gesichert werden, wiegen die Nachteile auf.
Verführerisch, aber gefährlich
Im Tessin gehen auch viele Gegner der SVP-Initiative davon aus, dass diese in ihrem Kanton angenommen werde. Deren Name ist nämlich verführerisch, und das gilt für die ganze Schweiz: „Für eine massvolle Zuwanderung“ – wer wollte da nicht zustimmen? Doch in Wirklichkeit würde die Freizügigkeit der Personen abgeschafft, ebenfalls die flankierenden Massnahmen, welche die Arbeitsbedingungen der Einheimischen schützen; zudem würden die wichtigsten bilateralen Abkommen hinfällig. Die Folge wären weniger Exporte in die Staaten der EU, der Verlust von Arbeitsplätzen sowie steigende Arbeitslosigkeit.
Tessiner Regierungspräsident unterstützt die SVP-Initiative
Spitäler und Altersheime könnten ihren Betrieb nicht aufrechterhalten ohne die vielen ausländischen Krankenpflegerinnen und -pfleger sowie die Ärztinnen und Ärzte, die hier leben oder als Grenzgänger täglich in die Schweiz kommen. Gerade während der Pandemie zeigte es sich, wie wesentlich deren Beitrag für das schweizerische Gesundheitssystem war und immer noch ist.
Der Tessiner Regierungspräsident, Norman Gobbi, von der Lega dei Ticinesi, der gleichzeitig SVP-Mitglied ist, kämpft gleichwohl für ein Ja zur Initiative. Er gesteht die Abhängigkeit vom ausländischen Personal ein, und zwar auf der ersten Seite der italienischen Ausgabe des SVP-Extrablatts zur Unterstützung ihrer Initiative. Diese Abhängigkeit mag er jedoch nicht, und er glaubt, mit der Lenkung der Berufsberatung und der Berufsbildung in diesem Bereich die Situation zu verändern und die Berufe im Gesundheitsbereich attraktiver machen zu können.
Was hat jedoch die SVP bisher getan, um die Einwanderung zu bremsen? Auf diese Frage darf man antworten: nichts! Ja, im Gegenteil, diese Partei wollte die Unternehmenssteuern noch stärker senken als die anderen bürgerlichen Parteien: Damit lockt sie weitere Unternehmen in die Schweiz, die hier Arbeitsplätze schaffen und die Einwanderung anheizen. Fällt da nicht auf, dass die SVP eine widersprüchliche Politik betreibt?
Nicht übersehen: Die Freizügigkeit bringt jungen Schweizern viel
Man kann sich fragen, weshalb viele Menschen in der ganzen Schweiz die Personenfreizügigkeit als Gefahr sehen. Es handelt sich doch um eine wichtige Errungenschaft und eine schöne Gelegenheit für die jungen und weniger jungen Schweizerinnen und Schweizer, in anderen Ländern arbeiten und studieren zu können, um eine Sprache zu lernen, berufliche und persönliche Erfahrungen zu sammeln. Das war früher in manchen europäischen Ländern fast unmöglich, doch heute ist Europa für Schweizerinnen und Schweizer offen. Diese Chance, wie auch andere, wollen wir nicht aufs Spiel setzen!