Dürrenmatt und Ionesco waren mit diesem Drang nicht allein, hatten sie doch grosse Vorläufer, so unter anderem Johann Wolfgang Goethe, Gottfried Keller oder Victor Hugo, alle neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit auch begabte Zeichner vor dem Herrn. Doch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert nahmen sowohl Dürrenmatt als auch Ionesco die multimediale Kunstentwicklung quasi vorweg – um die es ihnen aber gar nicht zu tun gewesen war. Sie schufen, beide mit expressiver Ausdruckskraft begabt, Visualisierungen ihrer Phantasien, ihrer Ängste und – besonders im Falle Dürrenmatt – apokalyptischer Visionen. Dabei schätzten beide nach eigener Aussage die Vieldeutigkeit eines wortlosen Mediums, obwohl ihre Bildtitel viel fixieren. Beim Betrachten werden aber trotzdem genügend Assoziationsketten freigelegt. Wer könnte sich schon Bildtiteln entziehen wie „Der singende Kopf des Orpheus treibt den Styx hinunter“ (Gouache Dürrenmatt, 1987); oder „Les ronds et les carrés“ (Litho-Portfolio Ionesco, 1982).
„Eines ist klar: Ich möchte nicht in seiner Psyche stecken“, sagte mein Begleiter beim Betrachten der Ionesco-Bilder im Centre Dürrenmatt. Und ich entgegnete: „Aber ich noch weniger in jener von Dürrenmatt.“ So sucht jeder sein ihm zuträgliches Volumen an Schwärze des Daseins und Wahnsinn unserer Gesellschaft zu verarbeiten. Wie die Künstler selber. Dass aber die Sinnfrage unmissverständlich im Raum steht, und zwar geradezu greifbar im Ausstellungsraum selbst, darf einen bei diesen beiden kritischen und phantasievollen Geistern nicht wundern.
Zwei Charaktere, zwei Theaterstücke
Beide lernten sich anlässlich einer Pariser Aufführung von Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ kennen, einer Inszenierung, die Dürrenmatt total daneben, weil „viel zu romantisch“ angelegt, gefunden hatte. Doch Ionesco kam nach Schluss der Vorstellung auf ihn zu und gratulierte dem völlig verblüfften Dürrenmatt dazu, endlich eine wirklich grosse Liebesgeschichte auf die Bühne gebracht zu haben. Und er meinte ganz im Ernst: „Wenn ich ein solches Stück geschrieben hätte, würde ich aufhören zu schreiben und es mir nur noch gut gehen lassen.“
Diese Anekdote, von Dürrenmatt selbst erzählt, veranschaulicht recht gut die unterschiedlichen Charaktere der beiden grossen Skeptiker, des protestantischen Pfarrerssohns Dürrenmatt und des rumänischen Katholiken Ionesco. Und doch hatte auch Ionesco fast zeitgleich mit seinem absurden Theaterstück „Die Nashörner“ einen Welterfolg gelandet. Beide Stücke führen auf unterschiedliche Art und Weise, aber unerbittlich, den Verlust von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit unter bestimmten Bedingungen vor.
Faszination Lithografie
Beide Künstler waren, vor allem in den Achtzigerjahren, von der gleichen Besessenheit erfüllt: zu lithografieren. Das Arbeiten auf dem weichen, wie Samt präparierten Stein faszinierte sie. Und auch dabei drängen sich heute Assoziationen zu den Künstlerpersönlichkeiten selber auf: Das Druckverfahren Lithografie beruht auf der gegenseitigen Abstossung von Fett und Wasser. Und jede Farbe bedeutet einen neuen Stein. Ausdauer und Genauigkeit sind gefragt.
Sowohl Ionesco als auch Dürrenmatt erarbeiteten sich die Technik in der Schweiz, und zwar im Atelier der berühmten Erker-Galerie in St. Gallen. Dort stand ihnen mit dem Lithografen Urban Stoob ein unermüdlicher Helfer zu Seite. Ionesco mietete sich gar jedes Mal für mehrere Wochen in St. Gallen ein, um jeden Nachmittag im Druckatelier weiterarbeiten zu können. Urs Stoob berichtet, dass Ionesco das Druckverfahren, welches Dürrenmatt brennend interessierte, gar nicht im Detail kennen lernen wollte. „Je veux que cela reste un mystère pour moi“.
Wahnsinn und Trieb
Obwohl die Lithografietechnik ihrem Wesen nach zur Vervielfältigung eines Kunstwerks beitragen soll, war Dürrenmatt – wieder im Gegensatz zu Ionesco - offenbar überhaupt nicht an einem Verkauf interessiert. Er arbeitete sich neben dem Schreiben in seinem Atelier fast manisch an seinen grossen Themen ab: Wahnsinn und Triebhaftigkeit des Menschseins und der Gesellschaft, oft in antikischen Typisierungen umgesetzt, sowie biblische Themen wie die Apokalypse oder der Turmbau zu Babel, „Zeichen der Absurdität menschlichen Unterfangens schlechthin“.
Die Ausstellung zeigt eine Reihe von Dürrenmatts meisterhaften Schwarz-Weiss-Lithos neben einer grossen Anzahl von farbigen Werken in verschiedenen Techniken.
In Fröhlichkeit erstarrt
Ionescos Bilder, mit meist breitem Pinsel und grosszügigem Duktus gemalt und nahe von Art brut angesiedelt, sind von starker Farbigkeit, in welche aber immer wieder Düsternis einbricht. Die Bilder implodieren förmlich. Es kommt keine Befreiung auf, so starkfarbig sie auch von einer anderen, leichteren Möglichkeit des Daseins erzählen wollen. Szenerien, in Fröhlichkeit erstarrt („Les Joyeux“, Lithographie). Nichts von Ionescos erstrebter Stille, sondern Beunruhigung und Ratlosigkeit.
Von einem Themenkreis werden jedoch beide Künstler umgetrieben: Die Kreuzigung - für Dürrenmatt Sinnbild für Ungerechtigkeit und Anmassung, für Ionesco eher Opfer und drohendes Menetekel über einer ausgelieferten Menschheit.
Neben den zahlreichen Ausstellungsstücken mit Leihgaben aus aller Welt regen viele weitere Dokumente, Zitate und Filme zu vertiefter Auseinandersetzung mit den Werken an. Der Schwerpunkt ist im diesem – von Mario Botta erweiterten – ehemaligen Haus Dürrenmatts hoch über dem Neuenburger See mit einem ganzen, Dürrenmatt gewidmeten Stockwerk natürlicherweise gegeben. Man sollte viel Zeit mitbringen.
„Ionesco. Dürrenmatt. Malerei und Theater“, bis 11.9.2016, Centre Dürrenmatt, Neuchâtel, bis 11. September