Indien hat sich rasch vom Desaster der zweiten Corona-Welle erholt. Ein erster Augenschein zeigt eine Gesellschaft mit einem guten Mass an Selbstdisziplin, in der sich Angst und Optimismus spiegeln.
Lockdown in Österreich, rekordhohe Covid-Erkrankungen in Deutschland, dazu andere verstörende Statistiken: neue Höchstwerte bei Drogentoten (und Morden) in den USA, nie gesehene Zunahme von Geschlechtskranken unter jugendlichen Zürchern. Wer will da nicht ins nächste Flugzeug springen und Indien anpeilen? Dessen Erkrankungszahlen (die offiziellen zumindest) sind fünfmal tiefer als jene Deutschlands, trotz einer fünfzehn Mal höheren Bevölkerungszahl.
Unerwartete Besserung
Der Mumbai-Flug von Lufthansa war am vorletzten Sonntag jedenfalls bis zum letzten Platz besetzt. Es waren fast ausschliesslich indische (und indisch-stämmige) Passagiere. Die Fantasiepreise, die für die Weihnachtszeit für Indien-Ferien verlangt werden, lassen aber vermuten, dass Indien für alle Urlauberklassen plötzlich wieder von der Albtraum- zur Traum-Destination mutiert ist.
Das hätte vor sechs Monaten niemand vorauszusagen gewagt. Die Zahlen der täglichen Neu-Infektionen bewegten sich damals in der Nähe einer halben Million. Die Bilder der zahlreichen Leichenfeuer, die damals um die Welt gingen, wurden zu einem Fanal für die tödliche Effizienz des Virus. Ebenso «viral» entwickelten sich die Schuldzuweisungen. Premierminister Modi hatte noch im Januar vor der Weltöffentlichkeit – dem Davoser Forum – geprahlt, Indien habe der zweiten Welle erfolgreich getrotzt, dank seiner Führung und der genetischen Resilienz der indischen Nation. Am Ende genügte selbst der Bart des weisen Mannes auf jedem Impfzertifikat nicht mehr, um ihm einen Prestigeverlust zu ersparen.
Steigende Impfquoten
Doch Modi lernte rasch um. Man hörte seitdem nicht mehr viel von ihm. Auch seine Verwaltung krempelte endlich die Ärmel hoch, statt triumphalistische Gesten in die Luft zu malen. Die indischen Impfhersteller wurden endlich mit den Krediten und Bewilligungen ausgestattet, die es ihnen erlaubten, ihre Produktion hochzufahren und die Distributionsnetze zu stärken: Die vertraglichen Zusagen zum Covax-Programm der WHO waren plötzlich Makulatur.
Dann wurden endlich die nationalen Gesundheitsdienste mobilisiert, die mit ihrer ausgebauten Logistik für die regelmässigen Impfkampagnen für hunderte Millionen Schulkinder auch weit abgelegene Regionen abdecken. Schliesslich flossen Gelder aus dem zentralen Budget in die Gliedstaaten und erhöhten deren Kapazitäten bei der Spitalversorgung.
Die täglichen Impfungen erhöhten sich auf mehrere Millionen – am Geburtstag des Premierministers gar auf 25 Millionen. Mitte Oktober war die Zahl von einer Milliarde verabreichter Impfdosen erreicht. 300 Millionen waren doppelt geimpft, weitere 700 Millionen einmal. Dennoch ist der Halbwert damit noch immer nicht erreicht. Bei einer Bevölkerung von 1.4 Milliarden Menschen brauchen weitere 400 Millionen ihre zwei Impfungen, und 700 Millionen warten auf ihre zweite Injektion; das bedeutet einen Restbedarf für weitere 1,5 Milliarden Impfdosen.
Effiziente Kontrollen
Die gemischte Erfahrung dieses zweiten Covid-Jahres – zuerst das Desaster und dann die relativ effiziente medizinische Versorgung – findet ihren Ausdruck im paradoxen Bild, das sich dem ängstlichen Indien-Reisenden bei der Ankunft bietet. Zuerst ein Wust von Vorschriften und Zertifikaten vor der Reise; doch bei der Ankunft ein recht lockerer Umgang damit. Wie die meisten administrativen Kontrollen in Indien bieten auch die Covid-Schleusen an den Flughäfen ihre Schlupflöcher.
Einmal auf der Strasse, taucht der Besucher in das Gewühl ein, das sich von dem der Vor-Corona-Zeiten nur dadurch unterscheidet, dass viele Leute auch unter freiem Himmel eine Maske tragen. Aber oft genug bedeckt diese statt der Nase das Kinn, und man weiss nicht recht, ob der Schutz dem Virus gilt oder der vergifteten Luft oder gar der Kälte.
In Mumbai sind die Polizeisperren zur Kontrolle des Maskentragens im Auto allerdings von einer schockierenden Effizienz – eine Regelverletzung wird mit bis zu eintausend Rupien Strafgeld gebüsst. Es hat sich ein regelrechter Wettbewerb zwischen städtischen Polizeikorps entwickelt, welches am meisten Bussgelder einnimmt. Die Folge: Praktisch jeder Autofahrer oder Passagier hat inzwischen eine Schutzmaske, wenn nicht im Gesicht, so doch in Griffnähe.
Diese quasi sportliche Note beim Maskentragen ist ein Indiz, dass Impfverweigerer, wenn es denn solche gibt, hier auf verlorenem Posten stehen. Der gesellschaftliche Konsens, gemäss dem die Impfung eine gesundheitspolitische Selbstverständlichkeit ist, wird kaum in Frage gestellt. Allein schon die Absenz jeglicher Massenhysterie, wie sie im Augenblick in Europa hochschwappt, macht jeden Aufenthalt in Indien zunächst einmal zur Wohltat.
Schlechtes Beispiel der Banken
Das öffentliche Leben ist längst wieder hergestellt, auch wenn gewisse Versammlungsverbote weiterhin gelten. Für das grosse Fest von Durga-Puja in Kolkata etwa konnten die prächtigen riesigen Altäre nicht betreten werden, dafür waren die Massen auf den Strassen umso dichter. In Delhi verwandelte sich das Lichterfest von Diwali – eigentlich eher ein häuslicher Familienanlass – in ein Verkehrschaos, bei dem der dichte Smog noch mit dem Pulverdampf der Knall- und Feuerwerkskörper angereichert wurde.
Auch bei den Hochzeiten schnellen die Gästezahlen wieder in die Höhe. Auch wenn es «nur» wenige hundert Eingeladene sind, so finden sie doch in engen Räumen oder Gartenanlagen zusammen. Es ist, als wollten die Gastgeber mit einem Gedränge von Menschen zumindest optisch den Eindruck erwecken, als seien es Tausende.
Die eher gleichgültige Grundstimmung bedeutet nicht, dass die Krise als überwunden betrachtet wird und sich Optimismus breitmacht. Das zeigt sich gerade beim Konsum von Haushaltsgütern, Textilien, Automobilen oder privaten Bauprojekten. Wenn die Leute investieren, dann in der Börse, deren Kurse (wie in anderen Schwellenländern) auch in Indien in einer Art von Kasino-Mentalität hochgeschnellt sind. Die Banken gehen mit dem schlechten Beispiel voran, indem sie immer neue Fonds anlegen, statt Investitionskredite zu sprechen.
Homeschooling
Auch der Staat hält sich zurück und agiert kaum als Konjunktur-Lokomotive. Nach der demütigenden Fehlprognose im Frühjahr vermeidet er es, die Rückkehr zur Normalität zu verkünden. Die Angst vor einer dritten Welle, etwa wegen neuer Delta-Varianten, äussert sich etwa bei der Öffnung der Schulen. Das Aussetzen des Präsenz-Unterrichts dauert nun schon zwanzig Monate, und immer noch ist ein Grossteil von Schülern und Studenten auf den Heim-Unterricht angewiesen; nur für die untersten fünf Primarklassen öffneten sich vor Wochenfrist wieder die Schultore.
Man muss befürchten, dass dieser Ausfall langfristig fatale Konsequenzen haben wird. Zwar hat die seit langem schon indifferente Qualität des indischen Schulsystems bewirkt, dass sich ein regelrechtes System des (bezahlten) Nachhilfe-Unterrichts etabliert hat, selbst bei armen Familien. Er konnte die Unterrichtskrise der Pandemie etwas abfedern.
Steigende Zahl der Kinderheiraten
Dieses «Backstopping» war umso dringlicher, als die digitale Vernetzung bei einer grossen Mehrheit der Familienhaushalte extrem brüchig sind. Oft besitzt die Familie nur ein mobiles Telefon, und dieses wird meist von den Eltern beansprucht. Über achtzig Prozent der Erwerbstätigen sind im informellen Sektor tätig und daher auf das Mobiltelefon als Arbeitswerkzeug angewiesen. Zudem ist das Laden der Geräte wegen der häufigen Stromunterbrüche oft zeitaufwändig.
Beim Zugang zu den elektrischen Anschlüssen sind dann meist jene Personen im Nachteil, die ohnehin am kürzeren Hebel sitzen – die Töchter im Haus. Sie werden wieder als zusätzliche Arbeitskraft eingesetzt; sind sie im Teenager-Alter, werden sie rascher und jünger verheiratet, damit die Familie eine Person weniger unterhalten muss; oder es winkt ein Brautpreis, statt dass die Familie ihn ausrichten muss.
Laut ersten Statistiken haben die Kinderheiraten – «Mädchenheiraten» – in Indien im letzten Jahr dramatisch zugenommen. Dies ist umso schmerzhafter, als Staat und Zivilgesellschaft in den letzten zwanzig Jahren im Feld der Mädchenbildung – gefolgt von späterer Heirat und Schwangerschaft – namhafte Fortschritte gemacht haben. Eine ganze Generation junger Frauen (und Männer) droht nun um die Früchte ihrer zehn Jahre Schulzeit gebracht zu werden. Unter den Überlebenden sind sie die grössten Opfer der Pandemie.