Seine letzte Kolumne, die am 29. Dezember 1991 in der „New York Times“ erschien, war geradezu prophetisch. Nach dem Fall der Sowjetunion forderte Tom Wicker Präsident George H. W. Bush auf, „in einer neuen Welt einen visionäreren Führungsstil zu entwickeln und zwar in nicht-militärischen Bereichen wie dem Umweltschutz: „So wie die USA nicht gezögert haben, ihre Ressourcen einzusetzen, um den Kalten Krieg zu gewinnen, so sollten sie jetzt ebenso mutig vorangehen, um den längeren, härteren Kampf zur Rettung unseres Planeten zu führen und die Menschheit vor sich selbst zu retten.“
42 Jahre früher hatte der Sohn eines Eisenbahners aus dem Städtchen Hamlet (North Carolina) in der Wochenzeitung „Sandhill Citizen“ seinen ersten Artikel publiziert. Für den „Citizen“, wo der 23-Jährige $ 37.50 pro Woche verdiente, berichtete Tom Wicker über alltägliche Ereignisse wie „den ersten Biberdamm seit Menschengedenken in einem lokalen Fluss“. Zuvor hatte er während des 2.Weltkriegs in der US-Marine gedient und an der Universität in Chapel Hill Journalismus studiert. Später bildete er sich als Nieman Fellow noch in Harvard weiter.
1961 stellte ihn die „New York Times“ als Reporter in ihrem grossen Washingtoner Büro ein, für das damals, unter der Fuchtel des legendären James B. Reston, gegen 50 Journalisten arbeiteten. Es war, in John F. Kennedys erstem Amtsjahr, ein Traumjob: ein Logenplatz in „Camelot“. Tom Wicker bewährte sich und schrieb unermüdlich Artikel um Artikel, von denen viele auf der Frontseite der „Times“ landeten. Kein Wunder also, dass „Scotty“ Reston den inzwischen 38-jährigen Reporter im November 1963 beauftragte, Präsident John F. Kennedy auf einem vermeintlichen Routinetrip nach Texas zu begleiten.
Zeuge des Kennedy-Mordes
Tom Wicker sass an jenem 22. November mit anderen Journalisten in einem Bus, der dem Wagenkonvoi des Präsidenten durch die Innenstadt von Dallas folgte, als auf der Dealey Plaza die ersten Schüsse fielen: „Zuerst wusste niemand, was geschehen war, oder wie oder wo und noch weniger warum“, schrieb er später in seinen Memoiren: „Allmählich aber begannen sich die Puzzleteile zu seinem Bild zu formen.“
Wicker, der kein Notizbuch bei sich hatte, begann auf einzelnen Blättern einer Pressemitteilung seine Beobachtungen festzuhalten und flickte so einen langen Artikel zusammen, der einen Tag später auf der „Frontseite“ der „New York Times“ startete und fast die ganze zweite Seite füllte. Den Artikel diktierte er, in verschiedenen Abschnitten, aus einer Telefonkabine am Flughafen in Dallas, wohin er zuerst, Schreibmaschine und Mappe unter dem Arm, gerannt war.
Gay Talese, der 1969 eine Geschichte der „Times“ („The Kingdom and the Power“) schrieb, nannte Wickers Reportage aus Dallas „eine bemerkenswerte Leistung“ punkto Recherche und Schreibe: „Er gelang ihm, inmitten der ganzen Verwirrung Fakten zu sammeln und den verrücktesten Tag seines Lebens zu rekonstruieren…und dann noch New York anzurufen und die Geschichte mit einer Stimme zu diktieren, die nur selten Erregung verriet.“ Es sei, so Talese, ein Einsatz gewesen, „der innert weniger Stunden die Laufbahn eines Timesman beenden oder lancieren konnte.“
Im Falle Tom Wickers war es ein Karrierenstart. Neun Monate später übernahm er die Führung des prestigeträchtigen Washingtoner Büros und begann 1966 seine Kolumne „In the Nation“, die bis zu seiner Pensionierung 1991 erschien. Als Bürochef der „Times“ hatte er sich erst noch eines Aufstands der Zentrale in New York zu erwehren, für deren Geschmack die Kollegen in Washington zu unabhängig und zu selbstherrlich agierten. Wicker aber, kämpferisch und unerschrocken wie immer, obsiegte, nicht zuletzt auch, weil es ihm gelungen war, den Verleger auf seine Seite zu ziehen. Von 1968 an schrieb er nur noch Kolumnen, drei Mal die Woche, prominent auf der Meinungsseite der „Times“.
Als Kolumnist profilierte sich Wicker als liberaler Denker, wobei dem Südstaatler vor allem auch die Förderung der Bürgerrechte in Anliegen war, die 1964 in Lyndon B. Johnsons „Civil Rights Act“ und 1965 im „Voting Rights Act“ gipfelte: „Mein eigene Wandlung vom Reporter zum Kolumnisten fiel in etwa mit einem Wertewandel der amerikanischen Politik zusammen, der in den 60er-Jahren seinen Ursprung im Vietnam-Krieg und dem Widerstand dagegen, in den Aufständen in den Ghettos der Grossstädte und in der kurzen Blütezeit der Gegenkultur hatte.“
Vertrauensmann aufständischer Gefanger
Selbst Schlagzeilen machte Tom Wicker, als er 1971 bei einem Gefängnisaufstand in Attica (New York) von den Häftlingen als Vermittler angefragt wurde: Die 1300 Gefangenen hatten 38 Wärter und Mitarbeiter des Zuchthauses als Geiseln genommen. Die zornigen Insassen drangen jedoch mit ihren Forderungen nicht durch, und Gouverneur Nelson A. Rockefeller liess den Innenhof der Anstalt nach vier Tagen fruchtloser Verhandlungen mit Gewalt räumen: Zehn Geiseln und 29 Häftlinge starben im Kugelhagel der Angreifer.
Wicker beschrieb in einer Kolumne die gespenstische Atmosphäre, die nachts im Innenhof von Attica geherrscht hatte: „die flackernden Feuer von Ölfässern, die stierennackigen Häftlinge, die mit Baseballschlägern und Eisenstangen bewaffnet waren, gesichtslose Männer in Kapuzen oder mit Football-Helmen, die sich hinter Holzbarrikaden auf Matratzen zusammen drängten“ („New York Times“). Er schrieb: „Das ist eine andere Welt – Furcht einflössend für einen Aussenseiter, faszinierend jedoch in ihrer Eigenart – hinter jenen massiven Mauern, in dieser murmelnden Dunkelheit, angesichts der zeitweiligen, aber realen Macht verzweifelter Männer.“ Vier Jahre später publizierte er über seine Erfahrungen in Attica das Sachbuch „A Time to Die“. Es wurde 1980 für das US-Fernsehen verfilmt.
Tom Wicker schonte in seinen Kolumnen nichts und niemanden, und so erstaunte wenig, dass ihn Präsident Richard M. Nixon auf seine berüchtigte „Feindeliste“ setzte. Der unliebsame Kolumnist hatte Nixon wegen dessen geheimen Luftangriffen auf Kambodscha kritisiert und ihm während des Watergate-Skandals vorgeworfen, „einen Polizeistaat in Ansätzen“ zu schaffen. Doch auch andere Präsidenten in Washington DC kriegten ihr Fett ab: Gerald R. Ford, weil er den Krieg in Vietnam nicht beendet hatte; Jimmy Carter wegen seines zögerlichen Verhaltens angesichts der Wirtschaftskrise und der Geiselnahme in Teheran; Ronald Reagan, weil er den Iran-Contra-Skandal schwelen liess; George H. W. Bush, weil er dem Krieg am Golf zu viel und den Problemen zu Haue zu wenig Gewicht beimass.
Keine Furcht vor niemandem
Aber auch die eigene Zunft schonte Tom Wicker nicht. Die grösste Schwäche der Presse, sagte er vor Studenten der Columbia University, bestehe darin. „sich viel oft und zu vertrauensselig auf offizielle Quellen zu verlassen – auf ihre ‚Objektivität’ bei der Präsentation der Nachrichten.“ Und in seinem Buch „On Press“, eines von 10 Sachbüchern, die er neben 10 Romanen während seiner langen Laufbahn verfasste, kam Wicker zum Schluss: „Mein Journalistenleben hat mich gelernt, dass die Presse zu häufig versucht, ihre Freiheit zu schützen, indem sie ihre Verantwortung vernachlässigt.“ Amerikas Presse, folgerte er, sollte „nicht mehr Zurückhaltung, sondern weniger Bisshemmung“ an den Tag legen.
Quellen: AP, „The New York Times“, „The Washington Post“, „The Los Angeles Times“
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