Die Idee soll von Staats- und Parteichef Xi Jinping kommen. Anders als andere Staatschefs will Xi die Hauptstadt nicht verlegen, sondern entlasten. Schliesslich ist Peking seit Jahrhunderten Hauptstadt des Reichs der Mitte.
In einem ersten Entlastungsschritt wird bis Ende des laufenden Jahres bereits die Pekinger Stadtverwaltung in den östlichen Vorort Tongzhou ausgelagert. Das reicht jedoch bei weitem nicht, denn Peking droht trotz guter Verkehrsplanung und trotz des rasanten Ausbaus des öffentlichen Transports langsam im Verkehr zu ersticken. Ernster noch, die Wasserversorgung ist trotz des neuen Süd-Nordkanals und trotz gutem Wassermanagement am Anschlag. Die Hauptstadt mit über 21 Millionen Einwohnern muss dringend entlastet werden.
Smart und innovativ
Xi Jinping, so die Propaganda, soll schon 2014 sein persönliches Augenmerk auf das Gebiet Xiongxian, Rongcheng und Anxin im südlichen Teil der Peking umgebenden Provinz Hebei geworfen haben. Das umso mehr, als bereits seit Jahren eine Urbanisierungs-Strategie des Dreiecks Beijing, Tianjin und Hebei (Ji) mit 130 Millionen Einwohnern unter dem Namen Jing-Jin-Ji in Ausführung war (vgl. journal21.ch vom 12. Juni 2016). Forschung und Entwicklung begannen im Februar 2015, und bereits im Mai 2016 hiess das Politbüro den Xiongan-Plan gut.
Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas und der chinesische Staatsrat (Regierung) machten es anfangs April 2017 offiziell. Etwas mehr als hundert Kilometer südwestlich von Peking soll eine neue Sonderwirtschaftszone entstehen. Die drei Kreise Xiongxian (380‘000 Einwohner), Rongcheng (260‘000 E.) und Anxin (390‘000 E.) sollen in eine grüne, smarte und innovative Metropole mit dem Namen Xiongan verwandelt werden.
«Bahnbrechend»
Die Planer gaben keinen Zeitrahmen vor, doch anfänglich sollen hundert Quadratkilometer entwickelt werden, im Endausbau sollen es dann zweitausend Quadratkilometer sein, also dreimal so gross wie New York City oder Singapur. Die Gesamtinvestitionen werden auf zwischen 1,2 und 2,4 Billionen Yuan (umgerechnet zwischen rund 170 und 340 Milliarden Franken) veranschlagt.
Die staatlichen und parteilichen Medien jubelten. In einer offiziellen Verlautbarung wurde das Neue Gebiet Xiongan als «bahnbrechende Strategie für das nächste Jahrtausend» eingestuft. Die staatliche Nachrichten-Agentur „Neues China“ (Xinhua) urteilte, es sei «der richtige Entscheid zum richtigen Zeitpunkt». Vize-Premier Zhang Gaoli meinte, das «neue Gebiet Xiongan ist für Chinas Reform und Entwicklung von signifikanter Wichtigkeit». Staats- und Parteichef Xi Jinping sprach von einem «nationalen Grossprojekt», gar von einem «Grossprojekt auf tausend Jahre».
Historisches Zeichen?
Und kaum verwunderlich verglich Xi die nachhaltig geplante Neustadt Xiongan mit der Sonderwirtschaftszone Shenzhen und dem Finanzzentrum Pudong in Shanghai. Shenzhen, die erste Sonderwirtschaftszone Chinas zu Beginn der Reform 1980, war die Idee des grossen Revolutionärs und Reformers Deng Xiaoping. Die Sonderzone Pudong wurde auf Initiative des ehemaligen Shanghaier Parteichefs und damaligen Staats- und Parteichefs Jiang Zemin 1992 gegründet. Sowohl Shenzhen als auch Pudong waren für Chinas Reform und Entwicklung von herausragender Bedeutung. Xi will nun mit Xiongan wie seine berühmten Vorgänger ebenfalls ein historisches Zeichen setzen.
«Modell für ganz China»
Nach den Vorstellungen des Politbüros und Xis soll in Xiongan nichts weniger entstehen als eine «Weltklasse-Stadt», ein Vorzeigeprojekt in Sachen Umweltschutz, kurz ein «Modell für ganz China». Peking bleibt wie seit Dynastien natürlich die Hauptstadt und ist das Zentrum von Politik, Kultur, internationaler Kommunikation sowie Forschung und Entwicklung. Alles andere soll nach Xiongan ausgelagert werden.
Dazu haben bereits viele erfolgreiche Staatsbetriebe in den Bereichen Transport, Elektrizität, Telekom, Infrastruktur, Bodenschätze, Banken, Maschinen, Schiffbau oder Eisenbahn Investitions-Absichten abgegeben. Auch Universitäten und Spitäler haben bereits verlauten lassen, dass sie Teile Ihrer Aktivitäten in die vielversprechende neue High-Tech-Zone verschieben wollten. Auch private High-Tech-Unternehmer versprechen sich – vorläufig noch vorsichtig – einiges vom geplanten Innovations-Zentrum Xiongan. In einem Kommentar der englischsprachigen Regierungszeitung «China Daily» hiess es gar, Xiongan werde noch wichtiger als einst Shenzhen und Pudong.
Unbeschriebenes Blatt Papier
Gewiss, Xiongan hat einige Vorteile. Die neue Sonderwirtschaftszone liegt nahe an Peking, ist verbunden mit allen wichtigen Zentren durch das formidable chinesische Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnnetz und kann vom neuen, schon im Bau befindlichen Flughafen mit einer Kapazität von hundert Millionen Passagieren pro Jahr die ganze Welt erreichen. Der geplante neue Koloss liegt ideal im gleichschenkligen nordchinesischen urbanen Zentrum: Peking liegt 120 Kilometer entfernt, Tianjin 110 Kilometer und Tianjin wiederum 120 Kilometer von Peking. In Anlehnung an ein Diktum von Mao Dsedong schwärmt ein älterer Xiongan-Planer: «Xiongan ist wie ein unbeschriebenes, weisses Blatt Papier».
Geisterstädte
Ähnlich wie zu Beginn der Reform vor 37 Jahren befindet sich China in einer entscheidenden Übergangsphase vom alten, auf Export und Infrastruktur-Investitionen basierenden Modell auf ein neues, nachhaltiges durch Innovation und Binnennachfrage angetriebenes Modell. Ob Xiongan die hohen Erwartungen als Vorbild für ganz China erfüllen kann, bleibt abzuwarten. Shenzhen und Pudong waren zu ihrer Zeit einzigartig. Heute gibt es in ganz China dagegen 18 so genannte «Neue Zonen» ähnlich wir Xiongan und darüber hinaus zusätzlich ein Dutzend Sonderwirtschaftszonen. Nicht wenige sind als Geisterstädte international bekannt geworden.
Beispiel Caofeidian
Das unter Staats- und Parteichef Hu Jintao (2002–2012) gegründete «strategische Wachstumszentrum» Caofeidian an der Bohai-Bucht in Nord-China hat sich in den letzten zehn Jahren kaum bewegt. Trotz Unterstützung von Peking und enormen Investitionen ist aus dem Welthafen-Projekt Caofeidian nicht viel geworden. Ein Projekt übrigens, das bereits vor hundert Jahren nach dem Fall der Qing-Dynastie erträumt worden war. Sun Yatsen, Gründervater des republikanischen China, war überzeugt, dass Caofeidian einst den New Yorker Hafen überholen werde.
Beispiel Binhai
Ungleich Shenzhen und Pudong verfügt Xiongan weder über einen Hafen noch über ein traditionelles Wirtschafts-Einzugsgebiet. Schanghai ist mit einem Hafen seit Jahrhunderten Kopf des Yangtsefluss-Deltas, heute ein Wirtschaftsgebiet von rund 300 Millionen Einwohnern. Das Gleiche lässt sich von Shenzhen – gleich neben Hongkong – sagen mit dem Perlfluss-Delta und einem Wirtschaftsgebiet von fast 200 Millionen Einwohnern. Kommt dazu, dass die nur 120 Kilometer östlich von Peking gelegene Hafenstadt Tianjin seit über einem Jahrzehnt versucht, Aufgaben der Hauptstadt nach der Jing-Jin-Ji-Strategie zu übernehmen. Mit durchmischtem Erfolg. Der 2006 gegründete Finanzdistrikt Binhai jedenfalls ist nach zehn Jahren Aufbau noch nicht sehr weit gediehen, von Konkurrenz zu Shanghais Finanzzentrum Pudong kann keine Rede sein.
Dunkelgrün
Allerdings hat sich seit Shenzhen und Pudong die Welt stark verändert. Mit der Digitalisierung und der sich beschleunigenden Globalisierung verfügt Xiongan jetzt über Vorteile, die Shenzhen 1980 und Pudong 1992 noch nicht hatten. Klug ausgespielt am Markt, werden diese neuen Vorteile der vierten Industriellen Revolution möglicherweise Xiongan zum Erfolg führen. Doch alles steht noch am Anfang. Der Kreis Xiongxian ist tiefste Provinz. Bei einem künftigen grünen Xiongan müsste wohl die Plastik- und Lederindustrie Xiongxians dicht machen. Der Kreis Anxin jedoch wird frohlocken, denn er ist schon grün, ja dunkelgrün. Ein Besuch im grössten Frischwasser-Feuchtgebiet Nordchinas lohnt sich. Eine Ruderbootsfahrt in Baiyangdian ist nach Ansicht Ihres Korrespondenten so schön wie das Erklimmen der Grossen Mauer. Selbst dann, wenn dereinst Xiongan tatsächlich eine Millionen-Metropole, ein urbaner Koloss werden sollte.