18 Jahre nach dem politischen Durchbruch in der Volksabstimmung (1992) erfolgt jetzt der Durchstich im Fels. Das ist eine grossartige politische und technische Leistung. Aber was bringt uns die NEAT?
Respekt, ganz grossen Respekt. Die Schweiz macht heute wieder international positive Schlagzeilen. Wir haben eine Frauen-Mehrheit im Bundesrat. Und wir sind das Volk, das fähig ist, den längsten Eisenbahntunnel der Welt zu bauen. Die Schweiz geht einen neuen Weg in der Verkehrspolitik. Das strahlt aus über die Grenzen hinaus.
Aber genau da liegt doch auch ein Problem: der Bau der Eisenbahnanschlüsse aus Italien oder Deutschland ist nicht im Zeitplan?
Mit dem Durchstich am Gotthard erzeugen wir auch politischen Druck. Wir halten unser Versprechen, organisieren den Verkehr durch die Alpen sinnvoll, gescheit, umweltfreundlich, ökologisch. Das wird sehr viele andere Länder zum Umdenken zwingen. Es wird auch dafür sorgen, dass die Italiener und Franzosen am Mont Cenis und die Österreicher am Brenner vorwärts machen müssen. Und Deutschland und Italien werden ihre Anschlüsse bauen. Schon bei der ersten Gotthardstrecke vor 130 Jahren gab es eine Zusammenarbeit mit dem Königreich Italien und dem Deutschen Reich. Das ist manchmal etwas kompliziert, aber es funktioniert.
Wir müssen ja nicht nur mit dem Finger auf die anderen zeigen. Auch bei uns sind noch nicht alle Zubringer bereit, manche Tunnel für die Verlagerung von der Strasse noch zu klein.
Die Verlagerung muss kommen, und sie wird kommen. Es ist ganz klar: Der Durchstich am Gotthard ist nicht das Ende. Es braucht jetzt neue Anstrengungen, eine neue Vision. Und zwar heute. Entscheidungen in der Verkehrspolitik wirken sich erst zehn, zwanzig, dreissig Jahre später aus. Wir müssen ab 2016 oder 2017, wenn der Gotthardtunnel in Betrieb genommen wird, die Güter auf die Bahn bringen. Die Huckepack-Lösung war eine Übergangslösung. Im Vordergrund stehen dann die Container und andere bahngerechte Lösungen, die auf den Zufahrten auch nicht so viel Tunnelhöhe brauchen.
Aber die Auto-Verbände und die Lastwagen-Lobby drängen weiterhin auf den Ausbau der Autobahn und vor allem auf eine 2. Gotthardröhre?
Da muss man unterscheiden. Die 2. Gotthardröhre braucht es irgendwann. Der Strassentunnel ist alt und muss saniert werden. Da kann der Basistunnel, kann ein Autoverlad auf der Bergstrecke Entlastung bringen. Aber grundsätzlich kann man dem Tessin nicht zumuten, dass sie abgeschnitten werden, weil der Tunnel drei, vier Jahre geschlossen wird. Das ist staatspolitisch nicht zumutbar, und darum braucht es irgendwann die 2. Gotthardröhre für die Autobahn.
Und die Lastwagen fahren dann durch beide Röhren?
Die Transitgüter gehören auf die Bahn. Im Augenblick ist die Verlagerung noch begrenzt, aber sie muss kommen. Wenn das nicht ohne Druck funktioniert, müssen wir eben den Strassenverkehr so verteuern, dass es sich nicht mehr lohnt, Güter noch über 300 km auf der Strasse durch die Alpen zu transportieren. Das verlangt politischen Willen.
Also auch Regulierungen?
Wenn es anders nicht geht, müssen wir Regulierungen entwickeln – zum Beispiel so etwas wie eine FinöV2 oder eine LSVA2 -, weil wir ja nicht eine 6-spurige Autobahn durch die Alpen bauen wollen. Auch wenn wir könnten.
Sie haben vor kurzem gesagt: In 20 Jahren ist der ganze Gütertransit-Verkehr auf der Schiene. Was macht Sie so optimistisch?
Ich bin sehr überzeugt, dass die Einsichten wachsen werden. Das Schluckvermögen der Strassen kommt an die obere Grenze. Und mit dem Gotthard können wir auch mit der Bahn die Bedürfnisse der Wirtschaft abdecken. Das Prinzip der Gütertransporte heisst heute: „Just in Time“ – es wird geliefert, wenn’s gebraucht wird. Das ging bis jetzt nur mit Lastwagen. Aber bald geht es auch mit der Bahn. Am Lötschberg sind bereits heute zwei Drittel der Züge Güterzüge, ein Drittel Personenzüge. Für den Gotthard heisst das: von den 300 geplanten Zügen können es 200 Güterzüge sein, der Gotthard kann zur Güterbahn werden. Die Zufahrten müssen zum Teil noch gebaut werden, aber das wird kommen.
Und dann rasen die Züge durch den Talgrund, den sie wie im Kanton Uri noch durchschneiden, und die Berggebiete, die bisher bedient wurden, werden abgeschnitten und sterben langsam ab?
Auch dafür braucht es neue Anstrengungen und neue Visionen. Wir haben ja Beispiele: Am Lötschberg haben Kandersteg oder das Lötschental neue Initiativen im Tourismus ergriffen, und siehe da: es ist nicht nur das Wallis, das vom Lötschberg-Basistunnel profitiert. Am Gotthard ist es wohl wahr, dass die Urner im Talgrund Opfer bringen müssen, aber sie bekommen auch neue Impulse, wie zum Beispiel Andermatt mit dem Projekt von Samih Sawiri. Und die Leventina wird sich fragen müssen, ob sie mühsam Industrie anziehen oder stärker auf nachhaltigen Tourismus und schönes Wohnen setzen will. Ich sage jetzt etwas Heikles: Was heute sogenannt „rückständig“ scheint, ist morgen vielleicht positiv.
Wer heute eine Entwicklung nicht mitmacht, ist morgen vielleicht der Gewinner. Es kann ja nicht sein, dass Einheimische wie in Gstaad oder St. Moritz sich am Ort kein Grundstück kaufen, kein Haus mehr leisten können – das ist keine gute Entwicklung. Wenn man, wie in Kandersteg oder in der Leventina, vielleicht einen Rückstand hat auf eine solche Entwicklung, kann man daraus eine Qualität schaffen, die in einigen Jahren mit grosser Sicherheit wieder gesucht wird. Aber, ganz wichtig: Diese Gebiete müssen gut erschlossen bleiben.
Die Bergstrecken müssen erhalten bleiben?
Die Bergstrecken müssen erhalten bleiben, und sie müssen gut gepflegt werden. Sie müssen bedient werden mit einem Taktfahrplan, mit gutem Rollmaterial, und wo es nötig ist mit einem Postauto-Dienst für Seitentäler. Ich bin übrigens gar nicht für den Abbau der Postautolinien, den sie jetzt wollen. Die Bergstrecken sind nicht nur eine Sicherheitsreserve. Sie sichern auch die gute Erschliessung von bewohnten Berggebieten. Das ist ganz wichtig: Die Arbeit ist nicht abgeschlossen, die Arbeit geht weiter. Es braucht jetzt politische Steuerungsinstrumente. Es geht darum, wieder Visionen und Strategien zu entwickeln und neue Arbeiten einzuleiten. Denn was man heute anpackt, kommt erst in 20, 30 Jahren zum Tragen. Wie bei der NEAT.
Würden Sie heute, am 15. Oktober 2010, wieder einmal sagen: „Freude herrscht!“?
Ja, sicher, Freude herrscht. Aber ich würde vor allem sagen: Es herrscht Erleichterung: Die NEAT war auch ein Risiko, das man nicht absolut kalkulieren konnte, denn die Natur ist mächtiger als die Menschen. Aber jetzt dürfen wir auch ein bisschen stolz sein. Die NEAT mit Lötschberg und Gotthard ist technologisch ein grosses Werk. Sie ist umweltpolitisch ein grosses Werk: wir nehmen den Alpenschutz ernst, wir wollen die Alpen bewahren für unsere Nachkommen, das ist ganz wichtig. Die NEAT ist eine Pioniertat. Die Tatsache, dass das Volk mit fast 64 Prozent Zustimmung so entschieden hat, gibt vor allem dem Schweizer Volk eine ungeheure Achtung, Respekt, Anerkennung.