Der Angriff auf eine Schule in Peshawar, der nach den neuesten Zahlen 132 Todesopfer und 250 Verwundete forderte, die grosse Mehrheit sind Schulkinder zwischen 8 und 18 Jahren, wurde von sechs Bewaffneten der Pakistanischen Taliban ausgeführt. Sie trugen Uniformen der pakistanischen Grenzsoldaten und überfielen die Schule, als deren Schüler in der Hauptaula der Schule versammelt waren. Dort schossen sie um sich mit automatischen Waffen.
Die Taliban-Führung erklärte, es handle sich um eine Reaktion auf das Vorgehen der pakistanischen Armee in Nordwaziristan. «Ihr sollt zu spüren bekommen, was wir haben leiden müssen», erklärte ihr offizieller Sprecher. Er erwähnte auch, dass in Waziristan Gefangene der Armee tot auf den Strassen gefunden würden. Es gibt unabhängige Aussagen darüber, dass in der Tat die pakistanische Armee in vielen Fällen Taliban und der Mitgliedschaft bei den Taliban Verdächtige «summarisch» erschiesst.
Kampf in Waziristan
Die Schule nennt sich «Armeeschule», liegt neben einer grossen Armeeunterkunft und ist Teil einer Kette von Schulen, die die Armee betreibt. Ihre Schüler sind Kinder von Offizieren, doch die Schule steht auch Angehörigen ziviler Familien offen. In Pakistan weiss jedermann, dass die Armee in den Stammesgebieten von Nordwaziristan seit dem 15. Juni eine Grossaktion mit 30’000 Soldaten durchführt. Der dortige Hauptstamm, die Mahsud, hatte seit Jahren die Führung der Pakistanischen Taliban (TPP für Tariq-e-Taliban Pakistan, zu Deutsch: Weg der Taliban Pakistans) inne.
In Nordwaziristan hatten die afghanischen Taliban seit Jahren ein sicheres Asyl, von dem aus sie ihre Aktionen organisieren konnten. Die Amerikaner hatten seit Jahren darauf gedrungen, dass die pakistanische Armee dort einschreite und Ordnung schaffe. Doch die Armeechefs erklärten, es sei ihre Entscheidung, ob und wann, die Armee eine Aktion in der Stammes- und Grenzprovinz durchführen werde.
Die Armee hatte mehrfach mit den Mahsud-Stämmen verhandelt und «Waffenstillstände» abgeschlossen, die jedoch regelmässig gebrochen wurden. Schlussendlich hatte sich die Armee entschieden, doch noch einzugreifen, nachdem die Pakistanischen Taliban am 8. Juni dieses Jahres versucht hatten, den Flughafen von Karachi anzugreifen.
Ironischerweise kam die Armeeaktion zu einem Zeitpunkt, in dem der Rückzug der Amerikaner und der Nato-Staaten aus Afghanistan schon weit fortgeschritten war. Die Anführer der TTP konnten sich daher über die afghanische Grenze zurückziehen, um dort das Ende der Armeeaktion in ihrer Heimat abzuwarten, ohne dass sie in Afghanistan auf energischen Widerstand gestossen wären.
Entvölkern und Reinigen
Die Armeeaktion in Waziristan lief nach dem Schema ab, das die pakistanische Armee mehrfach angewandt hat: Sie forderte zuerst die lokale Bevölkerung auf, ihre Städte und Dörfer zu verlassen, nahm diese dann in Besitz und suchte sie von Taliban und deren Freunden zu reinigen. Alle Teile der Bevölkerung, die zuhause blieben, galten der Armee als verdächtig, zu den Freunden der Taliban zu gehören oder sogar zu den Kämpfern der Organisation; sie wurden entsprechend behandelt.
Über 900’000 Zivile verliessen Nordwaziristan und fanden in den Nachbarprovinzen weiter im Süden Notunterkünfte. Bis heute hat die Armee ihnen keine Erlaubnis erteilt, in ihre Heimat zurückzukehren. Ihre Sprecher sagen, 90 Prozent von Nordwaziristan sei nun «gereinigt». Sie wollen über 1’100 angebliche Terroristen getötet haben. Die Armeesverluste werden mit 86 Toten beziffert. Doch bleibt festzuhalten: Der TTP-Führung ist die Armee nicht habhaft geworden.
Eine vergleichbare Aktion hatte die Pakistanische Armee 2009 im Swat-Tal durchgeführt. Dort hatte die erzwungene Evakuation der Bevölkerung, über 2,2 Millionen Menschen, vier Monate lang gedauert. Doch in den folgenden Jahren waren die TTP-Kämpfer nach Swat zurück infiltriert, allerdings ohne bisher das Swat Tal erneut voll dominieren zu können. TPP-Ableger gibt es heute auch ausserhalb der pakistanischen Stammesgebiete im Punjab, dem volksreichsten Teil Pakistans, und in der unruhigen Grosstadt Karachi.
Taliban müssen sichtbar bleiben
Während der Dauer der Armeeaktion in Nordwaziristan war es in Pakistan relativ ruhig geblieben. Es gab sogar Zeitungsartikel die fragten: «Wo bleiben die Taliban?» Es wurden ja kaum mehr Bombenagriffe durchgeführt. Der Grund dieser Erscheinung war ohne Zweifel, dass die TTP-Führung damit beschäftigt war, ihr eigenes Überleben sicherzustellen.
Doch die Taliban wissen auch, dass ihr Erfolg davon abhängt, sich beständig durch blutige Gewaltaktionen zu «profilieren». Dies verbreitet Angst in der Bevölkerung, und es bewegt zugleich eine desorientierte und ressentimentgeladene Minderheit der Bevölkerung dazu, sich ihnen anzuschliessen, weil sie als die Täter erscheinen, die sich bereit zeigen, im Namen einer angeblich islamischen Ordnung die bestehenden Verhältnisse umzustossen.
Die Bluttat als Fanal
Die Bluttaten sind ein für die TTP notwendiges Propagandainstrument. Die überfallene Schule war ein relativ «weiches» Ziel, das nur durch eine Umfassungsmauer geschützt war, welche die Eindringlinge überkletterten. Es wurde gewählt, weil es erlaubte, eine weithin sichtbare und schockierende Bluttat zu verrichten, gewissermassen als Kompensation für die ruhigen Monate, die seit dem Beginn der Armeeaktion verflossen waren.
Die besondere Grausamkeit des Attentates auf Schüler ist aber auch im Zusammenhang mit dem weltweiten Geschehen innerhalb des Jihadismus zu erklären. Seit dem Aufstieg von IS in Syrien und im Irak ziehen alle gewalttätigen Islamisten Lehren aus dem Erfolg dieser besonders grausamen und ihre Grausamkeit propagandistisch einsetzenden Gruppe. IS lebt vor, dass Grausamkeiten auf bestimmte Zielgruppen von hoffnungslosen und zornigen Jugendlichen in der islamischen Welt anziehend und animierend wirken. Dieser Art Jugendliche gibt es sehr viele, im wesentlichen vielleicht, weil sie keine Arbeit finden und daher von einem normalen Leben ausgeschlossen bleiben. Das vergossene Blut erscheint ihnen als Unterpfand und Garantie dafür, dass die betreffenden Jihadisten wirklich etwas verändern wollen und nicht bloss, wie die politischen Oberhäupter ihrer Länder, Reformen versprechen, die leere Worte bleiben.
IS macht Schule
Die islamische Verbrämung der Untaten hilft mit, sie zu beschönigen. Doch die Aktionsmotivation liegt wahrscheinlich mehr in der Verzweiflung über die eigene Lage und dem Willen, diese um jeden Preis und mit allen Mitteln zu ändern.
Jedenfalls ist feststellbar, dass die jihadistischen Gruppen, die Gewalt üben, die Methode absichtlicher und propagandistisch eingesetzter Grausamkeit von IS übernehmen. Enthauptungen, die auf Internetbildern gezeigt werden, gibt es nun auch in Somalia, im Sinai, in Tunesien, wo Jihadisten an den Grenzen zu Algerien und zu Libyen gegen die tunesische Armee kämpfen. Sie kommen aus Syrien von Nusra-Front, der Rivalin von IS, aus Mali, aus Jemen. Die ganze jihadistische Szene scheint sich unter der Einwirkung des Vorbilds von IS weltweit auf gesteigerte Grausamkeit hin zu entwickeln.