Überfluss, Prosperität, Wohlstand – dafür steht symbolisch das jetzige Jahr des Schweines. Der Zeitpunkt ist ideal, denn am 1. Oktober wird der 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik gefeiert. Es ist, insbesondere seit Beginn der Wirtschaftsreform und Öffnung nach aussen vor vierzig Jahren, eine einmalige Erfolgsgeschichte. Die allmächtige Kommunistische Partei Chinas sorgt für Stabilität, im eigenen Machtinteresse aber auch im wirtschaftlichen und sozialen Interesse des Landes. Die autoritäre KP-Regierung wird zwar nicht vom Volk gewählt, doch das Volk spielt in dem etwas transparenter gewordenen System eine nicht unwichtige Rolle. Die Befindlichkeit von Chinesen und Chinesinnen wird denn auf nationaler, provinzieller und lokaler Ebene von den Mächtigen genau beobachtet und registriert. Wenn nötig werden daraus Schlüsse gezogen und Entscheide gefällt.
Exorbitante Preise
Der gegenwärtige, für China exorbitante Schweinefleischpreis von 40 Yuan pro Kilo (umgerechnet 5.60 CHF) hat die Regierung alarmiert. An Feiertagen wie dem 1. Oktober, dem Frühlingsfest (chinesisches Neujahr) oder dem Mitte-Herbstfest nämlich ist ein opulentes Mahl mit viel Schweinfleisch angesagt. Doch seit sich die Schweinepest – auch afrikanisches Schweinefieber genannt – vor über einem Jahr wohl von Russland kommend mit grosser Geschwindigkeit über das ganze Land verbreitet hat, sind die Schweinebestände drastisch gesunken. Das Landwirtschaftsministerium geht derzeit von 40-prozentigen Verlusten aus. Bis Ende Jahr wird etwa die Hälft der Gesamtbestände dezimiert sein.
95% Selbstversorger
Insgesamt gibt es rund 480 Millionen Schweine in China, rund die Hälfte der ganzen Welt. Chinesinnen und Chinesen konsumieren jährlich rund 56 Millionen Tonnen Schweinefleisch, soviel wie der Rest der Welt zusammen. Der Pro-Kopf-Verbrauch von 40 Kilogramm ist mit Abstand Weltrekord. China hat zwar strategische Reserven von gefrorenem Schweinefleisch, doch die reichen bei weitem nicht, um den Mangel von 10 Millionen Tonnen im laufenden Jahr auszugleichen. Das Reich der Mitte ist, so will es die Regierung, zu 95 Prozent Selbstversorger. In der jetzigen Situation freilich muss auch importiert werden. Der Stellvertretende Landwirtschaftsminister Yu Kangzhen meinte indessen, dass es unrealistisch sei, auf Importe zu hoffen, um die Nachfrage zu decken, weil der Totalkonsum ganz einfach zu gross sei. Der Rest der Welt exportierte über die letzten Jahre gerade einmal zehn Millionen Tonnen Schweinefleisch pro Jahr in andere Länder. Dass unter solchen Voraussetzungen – geringeres Angebot, höhere Nachfrage – die Schweinefleischpreise steigen, versteht sich von selbst.
Massnahmen
Fleisch, besonders Schweinefleisch essen, das ist für Chinesen und Chinesinnen das Symbol für ein gutes Leben. Kurz nach der grossen Hungersnot 1961 mit je nach Schätzung 30 bis 45 Millionen Toten war der Fleischkonsum per Capita mit vier Kilogramm extrem niedrig. Heute sind es über 60 Kilogramm. Die Zentralregierung hat darum schnell gehandelt. Massnahmen zur Eindämmung der Schweinepest wurden ergriffen, vor allem aber flossen Subventionen für betroffene Schweinemästerein. Die Produktion soll so möglichst schnell angekurbelt werden. Für den Kauf von Schweinefleisch werden ärmere Schichten mit Zuschüssen unterstützt. In einigen Provinzen wird Schweinefleisch mit öffentlichen Subventionen leicht verbilligt. Überwacht werden all diese Massnahmen von einer Nationalen Sonderkommission, geleitet von Vize-Premier Hu Chunhua.
«Nichts ist trivial»
Das zeigt, dass der Preis des Schweinefleisches von der Führung nicht nur als ein ökonomisches, sondern auch als politisches Problem gesehen wird. Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping und Premierminister Li Kejiang sollen persönlich interveniert und dazu aufgerufen haben, die Fleischproduktion möglichst schnell zu erhöhen. Sie handeln nach der Devise, die der beim Volk beliebte ehemalige Premierminister Wen Jiabao so formuliert hat: «Nichts ist trivial, wenn es um die Lebensgrundlage des Volkes geht.» Dazu kommt, dass volkswirtschaftlich der Inflationsdruck zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt kommt.
Gespenst der Inflation
Beim Konsumentenpreisindex (CPI) spielen Nahrungsmittel und insbesondere Schweinefleisch eine wichtige Rolle. Die Erhöhungen des Schweinfleischpreises und damit auch die beobachtete Preissteigerung anderer Lebensmittel sowie Fleisch (Huhn, Rind, Lamm) werden sich nach Ansicht chinesischer Ökonomen bis ins Jahr 2020 hinein fortsetzen. Mit dem amerikanisch-chinesischen Handelskrieg und einem gedämpften Wachstum von 6,2 Prozent ist die Inflation bereits auf 2,8 Prozent gestiegen. Sollte der CPI über die von der Regierung festgesetzten drei Prozentpunkte ansteigen, könnte die Lage prekär werden.
1949/1989
Entweder resultierte mittelfristig eine Stagflation oder, vom chinesischen Standpunkt aus noch schlimmer, eine Hyperinflation. Das Inflationsdesaster vor der Gründung der Volksrepublik 1949 ist bei den geschichtsbewussten Chinesen noch nicht vergessen und noch viel weniger die hohe Inflation bei einer überhitzten Wirtschaft 1989, die zu landesweiten Unruhen führten und im Armeeeinsatz auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen endete.
Stabilität
Eine volle Schale Reis oder Nudeln mit viel Schweinefleisch – das erhält, mit vielem andern, die Stabilität im Land. Die KP-Führung weiss das. Denn ohne Stabilität können die hochgesteckten Ziele in den nächsten dreissig Jahren bis zum 1. Oktober 2049 – dem 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik – nicht erreicht werden.