In den 1950er Jahren führte der Psychologe Burrhus F. Skinner seine berühmt-berüchtigten Taubenexperimente durch. Er konditionierte die Vögel zu einem bestimmten Verhalten: Wenn sie auf ein Plexiglasplättchen pickten, erhielten sie Futter als Belohnung. Der Clou der Experimente war, dass Skinner verschiedene Zeitintervalle zwischen Picken und Belohnung wählte. Wenn also die Taube Futter erhalten hatte, vergingen zum Beispiel 60 Sekunden, bis sie ein nächstes Mal belohnt wurde. Skinner variierte diese Intervalle nach dem Zufallsprinzip, und unter solchen unregelmässigen Bedingungen begannen die Vögel durchzudrehen. Eine Taube pickte während 16 Stunden zwei bis dreimal pro Sekunde auf das Plexiglas.
Das erinnert an Netzbenutzer. Nehmen wir das fiktive Beispiel eines Journalisten namens Paul. Senden und Empfangen von E-Mails sind Kernbestandteil seines Berufs. Sagen wir, er erhält durchschnittlich alle 45 Minuten eine Mail. Manchmal sind die Intervalle grösser, manchmal kleiner; manchmal sind die Mails irrelevant und ärgerlich, manchmal aber bedeuten sie einen „Treffer“. Diese unregelmässigen Belohnungen können nun Paul wie die Skinner-Tauben dazu führen, dass er die Mailbox in immer kürzeren Abständen zu öffnen beginnt – und womöglich zum Mail-Junkie mutiert.
In der Maschinenzone
Das Sucht-Design funktioniert nach diesem Prinzip der variablen nicht vorhersehbaren Belohnung. Die Mensch-Maschine-Interaktion ist wie geschaffen dafür. Dabei ist im Grunde nicht die Belohnung primär, sondern eine ganz besondere lustvolle Trance, in die man aufgrund der Zufallsbelohnung gerät.
Die Anthropologin Natasha Schüll hat in ihrem Buch „Addiction by Design“ (2012) das Verhalten von Menschen an den Spielautomaten in Las Vegas studiert. Sie spricht von der „Maschinenzone“ – damit ist natürlich gemeint „Zwangszone“. In ihr seien Zeit, Raum und soziale Identität im mechanischen Rhythmus eines wiederholten Prozesses aufgehoben. Wir tendieren dazu, dem Spieler die Schuld zuzuschreiben. Natasha Schüll betont dagegen, dass es die besondere Mensch-Maschinen-Interaktion sei, die mit Absicht dazu entworfen wird, den Menschen zu zwanghaftem Verhalten zu konditionieren: „Es erscheint ganz einfach heuchlerisch, etwas zu entwerfen, das die Aufmerksamkeit fängt, um dann die ganze Schuldlast dem Individuum aufzuhalsen.“
Konzipiert für Missbrauch
Sucht-Designer verteidigen sich häufig mit dem Argument, dass sie dem Konsumenten ja nur das verkaufen würden, was er eh schon wolle. Die alte Leier. Es geht ja gerade um das Wollen. Im Grunde produziert die moderne Elektronikindustrie ein Wollen, also primär nicht Geräte, sondern Bedürfnisse. In die technischen Produkte sind Bedürfnisse und Verhaltensweisen absichtlich implementiert.
„Verhaltensdesign“ spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle wie Hardware und Software: Psychoware sozusagen. Persuasive Technologie nennt sich die entsprechende Disziplin. Der einflussreiche behavioristische Oberzauberer B. J. Fogg in Stanford hat dafür die Bezeichnung „Captology“ geprägt (ein Akronym für „Computer as Persuasive Technology“), in der natürlich das „capture“ – das „Einfangen“ – durchaus mitschwingt.
Jony Ive, Chefdesigner des iPhones, gab in einem Inteview auf die Frage „Was ist Missbrauch eines iPhones“ die erstaunliche Antwort: „andauernder Gebrauch“. Das hört sich an wie ein zynischer Kommentar zur Werbung für das neue iPhone X: „Es war immer unsere Vision, ein iPhone zu schaffen, das nur Bildschirm ist. Ein Gerät, so immersiv, dass es in der Erfahrung verschwindet. So intelligent, dass es auf eine Berührung, deine Stimme, sogar auf einen Streifblick antwortet. Mit dem iPhone X ist diese Vision Wirklichkeit geworden.“ Ein Gerät, das in unsere Erfahrung einsinkt, ist definitionsgemäss konzipiert für andauernden Gebrauch, also für Missbrauch. Ergo ist der Missbrauch Wirklichkeit, die Sucht alltäglich geworden.
Verdeckte Manipulationen
Verhaltensforschung zielt eigentlich immer ab auf Verhaltensänderung. Wie es ein ehemaliger Mitarbeiter der Forschungsabteilung von Facebook – der Data Science Unit – im Klartext sagte: „Wir sind immer daran, das Verhalten der Leute zu ändern.“ Und das zentrale Anliegen ist die Kundenkonditionierung. Für die Verhaltensdesigner etwa bei Facebook ist der Nutzer die Labortaube oder -ratte.
Die früheren Marketingstrategien waren – wenn auch durchaus raffiniert – noch ziemlich durchsichtig. Im Unterschied dazu sind die Manipulationen im Netz weniger offensichtlich. Genauer gesehen, sind es zwei Merkmale, die den Operationen mit Daten einen neuartigen „verdeckten“ Charakter verleihen: der ungeheure Umfang der Daten, und die automatisch ablaufenden Sammel-, Speicher- und Organisationsvorgänge.
Und hier verlieren auch die Algorithmen ihre Unschuld. In dem Masse, in dem die Internetunternehmen eine beinahe kontinuierliche Kontrollmacht über die gigantischen Ströme an persönlichen Daten ausüben und sie auch „optimieren“ können, in dem Masse sehen wir uns ausserstande, die manipulativen Aktivitäten zu entdecken, geschweige denn einzuschätzen.
Totale Konditionierung
Wir leben heute in einer Art von Symbiose mit Geräten, die sich nicht aufkündigen lässt. Wir sind quasi Techno-Kentauren, biologische Wesen, verwachsen mit Artefakten. Immer mehr auch verhaltensmässig, psychisch, intellektuell. In dieser Symbiose droht das Gerät parasitär zu werden. Unsere Gewohnheiten werden tief geprägt vom Umgang mit smarten Objekten, wir denken und handeln wie Computer, unser Alltag ist getaktet nach den Rhythmen all der Apps.
Die Konditionierung ist potenziell total. Anvisiert wird die Abrichtung des Menschen zum willfährigen User, zum allzeit zerstreuten, süchtigen Snapchat-, Netflix- oder LinkedIn-Konsumenten, der wie die durchgedrehten Skinnertauben besinnngslos klickt und scrollt. Man schaue sich im Alltag um. Wir sind unterwegs zur allumfassenden Skinnerbox.
Und der Ausweg? Nietzsches Zarathustra hat einen gesehen: „Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus.“