Die Stichwahl schien ergeben zu haben, dass Ashraf Ghani mit fast einer Million Stimmen Vorsprung die Präsidentschaft gewonnen hatte. Doch sein Widersacher Abdullah Abdullah weigerte sich, die Wahl anzuerkennen. Er sprach von «Betrug in industriellem Ausmass» und zog seine Wahlbeobachter aus dem Auszählungsprozess zurück. Seine Anhänger drohten, sie würden eine «Parallelregierung» bilden, wenn Ashraf Ghani zum Gewinner erklärt werde.
Abdullah Abdullah konnte allerhand Gründe anführen, warum das Resultat der Stichwahl verdächtig sei. Am deutlichsten war, dass die behauptete Beteiligung in der Stichwahl sehr viel grösser gewesen war als im ersten Wahlgang und dass der Zuwachs der Wähler vor allem aus den paschtunischen Provinzen gemeldet wurde, in denen Scharif Ghani die meisten Sympathien geniesst. Abdullah Abdullah hatte den ersten Wahlgang vor Ashraf Ghani gewonnen.
Ethnische Gegensätze
Die Parteigänger Ghanis erklärten, der Zuwachs gehe auf ihre erfolgreiche Mobilisation der Wähler in jenen Provinzen zurück. Ghani ist ein Vollblut Paschtune, Abdullah Abdullah gilt als ein Vertreter der nicht paschtunischen afghanischen Volksteile. Die bitteren Diskussionen und Demonstrationen der beiden Seiten gegeneinander drohten zu einer Spaltung des Landes entlang der ethnischen Grenzen zu führen.
Da der Abzug der Amerikaner und Nato-Truppen auf Ende dieses Jahres bevorsteht, könnte ein Bruch unter den Völkern des Vielvölkerstates leicht ein Wiederaufflackern der afghanischen Bürgerkriege heraufbeschwören. Die Lage ist so angespannt, dass der amerikanische Aussenminster, John Kerry, auf der Durchreise aus Peking zwei Tage lang Halt in Kabul machte und sein möglichstes tat, um den Streit zu schlichten. Afghanistan ist nach dem Abzug der fremden Truppen von bedeutenden Summen finanzieller Hilfe aus dem Ausland abhängig, hauptsächlich um seine noch junge Armee zu finanzieren, die den Kampf gegen die Taliban fortführen soll. Dieser Umstand half dem Staatssekretär, einen Kompromiss durchzusetzen.
Nationale Einheitsregierung versprochen
Er erreichte es, dass die beiden Widersacher sich auf ein Vorgehen einigten, das aus zwei Komponenten bestand. Die beiden sicherten sich gegenseitig zu, der künftige Präsident, wer immer es sein werde, werde eine Regierung der «nationalen Einheit» ernennen. «Inklusiv, nicht exklusiv», wurde erklärt. Doch wie genau wurde nicht festgelegt. Die Sprecher der beiden Parteien wurden von den Journalisten darüber befragt, wie diese nationale Einheitsregierung aussehen und wer sie ernennen werde. Sie gaben sehr unterschiedliche Antworten. Einige dieser Befrager merkten an, dies könne in der Zukunft zu neuen Auseinandersetzungen führen.
Zum zweiten wurde beschlossen, eine umfassende Neuzählung werde stattfinden, in der alle acht Millionen Stimmzettel und 23’000 Wahlurnen einer genauen Untersuchung im Beisein der Vertreter der beiden Parteien zu unterziehen seien. Ein Katalog von 16 Kriterien wurde aufgestellt, nach denen die Revisoren vorzugehen hätten. Darunter sind Fragen nach der einwandfreien Versiegelung der Urnen, Unterschriften unter den Protokollen, Übereinstimmung der Stimmzettelzahlen mit den für eine jede Urne bestehenden Listen der Resultate. Doch all dies bietet natürlich keine Sicherheit über die wichtigste Frage: wurden Urnen «gestopft»? und wenn ja, welche und wieviele?
Wenn es um Wahlbetrug im «industriellen Ausmass» geht, ist dies die wichtigste aller Streitfragen. Das Problem wird angegangen im Kriterium 16 , das fordert, die Stimmzettel müssten daraufhin untersucht werden, ob sich mehrere oder viele darunter befänden, die offenbar von einer einzigen Hand markiert worden seien. In der Tat mag es solche geben. Doch mit Sicherheit auszusagen, es handle sich um die gleiche Hand oder bloss um ähnliche, dürfte in vielen Fällen schwierig sein. Es geht ja nicht um Schriftzüge sondern um blosse Markierungen von Stimmzettlen.
Ausserdem blieb eine Grundfrage offen. Sie wird in den 16 Kriterien nicht angesprochen. Es ist die Folgende: Wenn eine Urne verdächtige Zeichen von Manipulationen aufweist, was hat dann mit ihr zu geschehen? Wird sie als ganze Urne mit allen gültigen und ungültigen Stimmzetteln ausgeschieden? Oder werden bloss die Stimmzettel eliminiert, an denen Manipulationen nachweisbar sind oder als wahrscheinlich gelten können? Die Seite von Abdullah Abdullah hat ein Interesse daran, dass in diesem Falle der gesamte Urneninhalt annulliert wird. Jene von Sharif Ghani dürfte in vielen Fällen dafür eintreten, dass nur die beanstandeten Stimmzettel annulliert werden. Dies, weil nach Abdullah der Verdacht vorliegt, dass grosse Mengen von Stimmen in den paschtunischen Provinzen in die Urnen «gestopft» wurden.
Neue Termine für die Inauguration des Präsidenten
Als Kerry nach vollendeter Vermittlungsabeit aus Kabul abflog, atmeten viele Afghanen auf. Die Gefahr eines Bürgerkrieges schien gebannt. Pläne wurden aufgestellt und neue Termine berechnet. Ursprüglich war die Einsetzung des neuen Präsidenten auf den 2. August angesetzt. Sie wäre eilig, weil der neue Präsident einen Vertrag mit den Amerikanern unterschreiben muss, der zwar ausgehandelt ist, den aber Präsident Karzai nicht unterzeichnen wollte. Dieser Vertrag ist notwendig, wenn einige amerikanische Truppen zur Ausbildung der afghanischen Streitkräfte und zu ihrer eventuellen Stützung, soweit diese unumgänglich wird, zurückbleiben sollen. Falls keine Amerikaner bleiben, dürften bald auch die Unterstützungsgelder aus den USA ausbleiben, auf welche Afghanistan unbedingt angewiesen ist.
Die Amerikanischen Militärs drängen seit Monaten auf einen Entscheid in dieser Frage, weil von ihm die Planung für den Abzug von Truppen und Material aus Afghanistan abhängt. Dies ist eine gewaltige Transportaufgabe, welche die Militärs vorausplanen müssen.
Die neue Zeitberechnung sah nun vor, dass die Einsetzung des Präsidenten vielleicht so gegen den 23. August erfolgen könnte. In der Zwischenzeit sollen hundert Equipen die Nachzählung und Nachforschung der Urnen bewältigen. Von den hundert waren anfänglich jedoch nur dreissig geschult und bereit, ihre Aufgabe zu beginnen.
Die Urnen sollen alle nach Kabul transportiert und dort untersucht werden. Man begann mit jenen der Hauptstadt selbst. Sie sind weniger problematisch als die aus den entfernten Provinzen. Wenn es Betrug im grossen Stil gab, muss er dort stattgefunden haben.
Unklare Verfahrensregelung
Der Zeitplan wurde aber schon bald über den Haufen geworfen. Die Diskussionen unter den Beobachtern der beiden Streitparteien begannen schon am ersten Tag der Revision, dem 17. Juli. Die Gültigkeit einer Unterschrift wurde in Frage gestellt, und unvermeidlich kam es zu Diskussionen, ob bloss eine oder doch mehrere Hände gewisse Stimmzettel markiert hätten. An vierten Tag der Revision war es soweit, dass die Arbeiten «wegen Meinungsverschiedenheiten» unterbrochen werden mussten.
Die Übereinkunft sieht Schlichtungsinstanzen vor. Dies sind zuerst die in beratender Funktion via Uno beigezogenen internationalen Wahlspezialisten. In letzter Instanz hätte die «unabhängige» aghanische Wahlkommission und deren ebenfalls «unabhängiger» Schlichtungsausschuss zu entscheiden. Diese Instanzen werden auch die bereits eingereichten über 1500 Reklamationen beurteilen müssen, die nach der nun theoretisch auf Ende August vorgesehenen Bekanntgabe des revidierten provisorischen Wahlresultates noch zu bereinigen sein werden.
Ob es überhaupt so weit kommt, bleibt abzuwarten. Mit Sicherheit kann man annehmen, dass es unmöglich sein wird, die heute genannten Zeitgrenzen einzuhalten. Sie waren ohnehin knapp bemessen und müssen nun mit dem Zeitverlust rechnen, den die Einsprachen der beiden rivalisierenden Equipen angesichts der diskutierbaren Kriterien unvermeidlich verursachen werden. Vielleicht hat man den ganzen Revisionsvorgang überhaupt als einen Vorwand zu verstehen, der in erster Linie dazu dient, Zeit zu gewinnen, während der die beiden Kontrahenten fortfahren können, untereinander darüber zu verhandeln, ob und wie sie die Macht im Lande zu teilen gedenken.
Die Taliban in der Offensive
Während sich diese Diskussionen abspielen, haben die Taliban ihre Terroraktionen verstärkt. Es geht ihnen wahrscheinlich darum, die Niederlage in Vergessenheit zu bringen, die für sie die Durchführung der Wahlen bedeutete. Ihre Propaganda hatte behauptet, die Taliban würden die Wahlen verhindern und alle Afghanen bestrafen, die sich an ihnen beteiligten. Sie vermochten jedoch die afghanische Bevölkerung nicht einzuschüchtern. Diese nahm mutig an den Wahlen teil.
Einzelschläge jedoch können die Taliban hier und dort in dem weiten Land jederzeit durchführen. So haben sie am 15. Juli den Markt der Ortschaft Orgun in der südlichen Provinz Paktia mit einer Selbstmordbombe angegriffen, die 89 Menschen tötete, meistens Fauen und Kinder. Am gleichen Tag wurden zwei Medienschaffende, die für Karzai arbeiteten, in Kabul in ihrem Fahrzeug erschossen. Zwei Tage später kam es zu einem Angriff auf den Flughafen von Kabul, der vier Stunden lang dauerte. 20 schwere Explosionen wurden gezählt.
Die Flüge mussten in andere Städte Afghanistans umgeleitet werden. In der Provinz Helmand, südwestlich der Hauptstadt, sind heftige Kämpfe ausgebrochen. Diese Provinz, ein Zentrum der Opiumproduktion, war Ziel einer ersten grossen amerikanischen Reinigungsoperation, als 2009 Obama Verstärkungen nach Afghanistan sandte. Die Taliban haben dort eine Offensive gegen die heute verantwortliche afghanische Armee ausgelöst. Sie hoffen die Geländeverluste wettzumachen, die sie damals durch die Amerikaner erlitten.