«Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt,» schreibt der Mystiker Jakob Böhme. Dieser Satz kommt wie ein Gesetz daher: Vor dem Sterben muss etwas geschehen, damit das Sterben nicht verderblich ist.
Mit zunehmendem Alter verliert der Körper seine Widerstandskraft. Krankheiten nisten sich ein, und Heilungsprozesse verlängern sich. Irgendwann werden wir unheilbar krank sein und sterben. Das Leben wird dem Tod weichen.
Umkehr zum Sterben
Genau davor hat uns der Überlebensinstinkt bis anhin bewahrt. Der Überlebensinstinkt bekämpfte reflexartig alle Angriffe auf die körperliche Integrität. Der Körper muss schneller sein als das Bewusstsein, um sich vor dem heransausenden Stein rechtzeitig zu ducken, und der schützende Arm ist vor dem Gesicht, bevor der Schlag fällt. Wir stellen auch unsere mentalen Fähigkeiten in den Dienst des Überlebens. Wir informieren uns und setzen unser Wissen zur Erhaltung unserer Gesundheit ein. Wir sind auf das Überleben programmiert.
Indessen muss der Überlebensinstinkt, der uns ein Leben lang geschützt hat, in den Hintergrund treten, wenn das Sterben gelingen soll. Überlebensunterstützungen sind von einem bestimmten Moment an kontraproduktiv. Von da an können medizinische Behandlungen, die der Lebensverlängerung dienen sollen, zu einer Behinderung des Sterbens werden.
Aber der Selbsterhaltungstrieb, der ein Leben lang Gefahren abwehrte und überwand, lässt sich nicht einfach abstellen. Gut sterben setzt eine Aufhebung des Selbsterhaltungstriebs voraus. Die Umstellung vom Kampf um das Leben zur Einwilligung ins Sterben ist eine Richtungsänderung um 180 Grad, eine gewaltige letzte Aufgabe. Hier wird die Summe der ganzen Lebenserfahrung abgeholt. Die Wende zur Einwilligung ins Sterben ist noch Willensakt und schon Loslassen.
Sterbephasen
Die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross (KE 1), die viele Sterbende begleitet hat, fasste das, was sie erlebt hat, in dem bahnbrechenden Buch «Interviews mit Sterbenden» zusammen. Sie war die Erste, die versuchte, den Prozess des Sterbens aufgrund ihrer zahlreichen Sterbebegleitungen zu beschreiben, und ihr Buch erhellte einen bisher tabuisierten Bereich. Das Buch erschien 1969 und war für lange Zeit das Referenzbuch im Bereich der Sterbeforschung.
Kübler-Ross beschreibt fünf Phasen, die Sterbende von der Diagnose bis zum Tod durchlaufen:
(1) Als erste Reaktion auf eine terminale Diagnose ist in der Regel Ungläubigkeit und Abwehr zu beobachen. Der Betroffene zieht sich zurück und verschweigt seinen Zustand. Er versucht, die bedrohliche Realität zu verleugnen.
(2) Wenn das nicht mehr möglich ist, entwickelt er oft einen Widerstand gegen das Todesurteil. Er hadert mit Gott und den Menschen, weil er sein Schicksal als ungerecht empfindet und er beneidet die Gesunden. Zorn, Ärger und Auflehnung begleiten diese Phase.
(3) Die Einsicht in die Aussichtslosigkeit dieses Kampfes führt zur Suche nach Möglichkeiten, den Tod hinauszuschieben. Der nahende Tod darf nicht sein. Alles wehrt sich gegen die Umstellung vom Kampf auf Einverständnis mit dem Tod. Die Ärzte werden unter Umständen in einer hektischen Suche nach Heilung belagert und mit Wünschen und Forderungen nach medizinischen Eingriffen und Operationen bedrängt. Die Flucht vor dem Tod erhöht die Bereitschaft für abenteuerliche Behandlungen. Je nachdem wird auch mit Gott verhandelt, und der Betroffene stellt Wohlverhalten oder gute Taten für den Fall einer Genesung in Aussicht.
(4) Aber das Fortschreiten der Krankheit erzwingt schliesslich die Einsicht in die Unausweichlichkeit des Todes. Angesichts des Todes erscheint vielleicht vorerst alles sinnlos. Alle Bestrebungen werden zunichte gemacht. Das Angefangene kann nicht fortgesetzt werden, und der Einfluss auf die Weiterlebenden wird schnell verschwinden. Trauer breitet sich aus. Es heisst Abschied nehmen von der Wärme, der Liebe und der Schönheit der Welt.
(5) In der Trauer spiegelt sich aber auch die Kostbarkeit des Lebens. Dankbarkeit motiviert zu einem guten Abschluss. Das Weltliche will in Ordnung gebracht werden, sowohl was das Materielle wie auch was die Beziehungen anbelangt. Der nahende Tod wird zunehmend akzeptiert. Nun erfolgt oft eine langsame Abwendung von der Welt. Der Kontakt mit den Nächsten schwächt sich ab. Der Sterbende zieht sich zurück und ist weniger ansprechbar. Schliesslich verlässt die Seele den Körper.
Diese von Kübler-Ross beschriebenen fünf Phasen des Sterbeprozesses sind natürlich nur ein grober Raster. Abwehr, Empörung, Verhandeln, Trauer und Akzeptanz folgen sich bei jedem Menschen in der ihm gemässen individuellen Variante, und nicht jeder durchläuft alle Phasen.
Forschung im Grenzbereich
In Todesnähe treten Phänomene auf, die unsere rationalen Einordnungsmöglichkeiten überfordern. Die intellektuelle Integrität verlangt indessen, dass Erkenntnisse glaubwürdiger Forscher in diesem Bereich zur Kenntnis genommen werden. Letztlich hängen die Wahrnehmungsmöglichkeiten eines Forschers aber von seinem Weltbild ab. Ist ein gläubiger Todesforscher voreingenommen? Aber müsste man den gleichen Einwand nicht auch gegen die «objektiv wissenschaftliche» Forschung erheben? Wo sind dort die blinden Flecken?
Neueren Datums sind die Berichte der Theologin und Psychologin Monika Renz, die krebskranke Sterbende therapeutisch begleitet und erforscht. In einer präzisen und doch offenlassenden Sprache zieht sie ihre Schlüsse. Während Kübler-Ross vor allem den psychischen Prozess der Sterbenden darstellt, sieht Renz das Sterbegeschehen umfassender. Kübler Ross beschreibt, wie sich der Mensch zu einer Bejahung seiner Sterblichkeit durchringt. Der psychische Prozess der Integration von Unerfreulichem ist immer derselbe, ob ein Mensch nun mit einem Misserfolg, mit einer Trennung oder eben mit seiner Sterblichkeit konfrontiert wird. Damit ist aber nur die menschliche Seite des Sterbens erfasst. Nach Renz geschieht im Sterben mehr. Das Ich mit seinem Denken und Lenken tritt in den Hintergrund und macht dem Umfassenden Platz.
Nach Renz «...durchläuft der Mensch dreierlei Zustände oder Befindlichkeiten, und dies nicht selten mehrfach. Ich spreche von einem Davor (vor einer inneren Bewusstseinsschwelle) einem Hindurch (über diese Schwelle) und einem Danach (nach dieser Schwelle), welches aber nicht als ‚Jenseits’ zu begreifen ist, sondern als äussersten Zustand noch im Diesseits.» (RM1, S. 24).
(1) Das Davor ist eine Zeit der Entäusserungen. «Dem Ich wird alles genommen, was ihm gehörte, alles was Ich war, alle Identität und Erwartung im Ich.» «…Manche Patienten bedenken jetzt nochmals ihr Leben und lassen sich von ungeahnten Seinsdimensionen dahinter berühren.» (RM2, S.26).
(2) Im zweiten Stadium, im Hindurch, findet ein «Loslassen schlechthin» statt, in ein gänzlich Unbekanntes hinein. Das Hindurch geschieht dem Ich und ist nicht mehr bewusstseinsgesteuert. «Alle vertrauten Strukturen, alle Gesetzmässigkeiten unserer Wahrnehmung (oben-unten, hell-dunkel, Ich-Du) sind – zumindest zeitweise – wie verloren.» (RM2, S.35) Das Hindurch kann mehrmals erlebt werden oder überhaupt nicht stattfinden. In diesem Stadium müssen manchmal bedrohliche Passagen bewältigt werden. Jetzt kann kundige Begleitung viel bringen. «Der positive Aspekt des Hindurchs wird erlebt als ‚endlich findet es statt’.» (RM2, S. 34)
(3) Schliesslich mündet das Hindurch in das Danach. «Die Zeit aller Kämpfe ist durchgestanden. Irgendwann und zugleich unvermittelt ist es, als wäre selbst die Angst losgelassen. Sterbende treten ein in einen Zustand von Ruhe, Gelassenheit, Glückseligkeit. Qualitäten wie Friede, Würdigung, Freiheit oder echter Liebe sind fast greifbar.» (RM2, S. 41) Die Sterbenden sind im Danach bezogen auf ein Transzendentes. «Sie sehen, ahnen, was wir nicht sehen.» (RM2, S. 41). Das Danach führt nicht in allen Fällen zum Tod. Menschen, die nach dem Danach ins Leben zurückkehren, sind nicht mehr dieselben. Viele bedauern ihre Rückkehr ins Leben.
Nahtoderfahrungen
Nahtoderfahrungen gehören in den Bereich des von Renz beschriebenen Danach. Der Auslöser für eine Nahtoderfahrung ist immer ein körperliches Trauma, sei es ein Unfall oder ein krisenhafter Krankheitsverlauf. Menschen, die aus der Todesnähe ins Leben zurückkehrten, berichten von eindrücklichen Erfahrungen. Ein befreundeter Architekt teilte mir ein derartiges Erlebnis mit: «Für diese Erfahrung gibt es keine adäquate Sprache. Ich spreche wenig darüber, weil Worte sie nur verkleinern. Aber ich will es versuchen. Es geschah im März 1984 auf der Ausfallstrasse von Liestal ins Schwarzbubenland. Ich fuhr im Auto in einer Kolonne. Da sah ich plötzlich auf der entgegengesetzten Fahrbahn ein Auto im Zickzackkurs auf uns zuschlingern. Das Auto rammte den Wagen vor mir. Meine Wahrnehmung verlangsamte sich und ich sah wie in der Zeitlupe den Kopf der Fahrerin des vorderen Wagens nach vorn und dann zurückfallen. Dann knallte es bei mir. Ich wurde vom Steuerblock eingeklemmt und konnte meine Beine nicht mehr bewegen. Im ersten Moment war ich normal in meinem Körper, aber dann bin ich weggekippt. Ich befinde mich über dem Auto und sehe mich unten liegen. Ich bewege mich vom Auto weg. Es ist eine körperlose Bewegung in einem tunnelartigen Raum, der in einem etwa 45-Grad-Winkel schräg nach oben führt. Ich erlebe mein ganzes Leben von der Gegenwart rückwärts als handelnde Person und tauche in ein Staccato von Situationen ein. Es ist auch sehr schmerzhaft, trostlos und angstvoll. Ich spüre das Leid, das ich andern zugefügt habe, in mir selber, sehe mein kleines Ego und seine fehlgeleiteten Handlungen und nehme aber auch das Gute wahr. Vom Ende des Tunnels kommt Licht auf mich zu, ein unbeschreibliches Licht: Hell, nicht gleissend, wärmend, nicht heiss. Das Licht hat eine dichte Qualität von Sympathie, Liebe und Barmherzigkeit. Alles Schmerzvolle, alles Unerledigte löst sich in diesem fliessenden, vibrierenden Licht auf. Ich bin völlig entspannt und spüre keine Unfallfolgen. Ich bin zuhause angekommen und erfahre eine Ruhe und einen Frieden, wie ich sie nie gekannt habe. Die Sehnsucht nach diesem Ort hat mich seither nie mehr verlassen. Ich durfte aber nicht bleiben. Im energetischen Zentrum des Lichts erschien ein Wesen. Es hielt die rechte Hand nach oben. ‚Es ist zu früh,’ war seine Botschaft. Da erwachte ich wieder eingeklemmt im Auto und hörte die Polizeisirenen. Meine Abwesenheit kann nicht mehr als einige Minuten gedauert haben.»
In den Sonetten an Orpheus IX ist das Gedicht von Rainer Maria Rilke zu lesen:
Nur wer die Leier schon hob
auch unter Schatten,
darf das unendliche Lob
ahnend erstatten.
Nur wer mit Toten vom Mohn
ass, von dem ihren,
wird nicht den leisesten Ton
wieder verlieren.
Mag auch die Spiegelung im Teich
oft uns verschwimmen:
wisse das Bild.
Erst in dem Doppelbereich
werden die Stimmen
ewig und mild.
Die Einordnung von Nahtoderfahrungen ist umstritten. Während Materialisten sie als durch den physischen Prozess des Sterbens hervorgerufene Reizung des Hirns erklären, versuchen andere diesen Erfahrungen mit wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden auf die Spur zu kommen. Nahtoderfahrungen werden immer wieder übereinstimmend geschildert. Der Blick von oben auf den verlassenen Körper, der Tunnel, der Lebensüberblick, das Licht und der Friede sind Elemente, die in den Nahtoderfahrungen regelmässig vorkommen.
Deshalb werden diese Phänomene von verschiedenen Disziplinen von der Theologie über die Medizin bis zur Physik erforscht. Die Nahtodforschung ist unterdessen zu einem eigenen Forschungszweig geworden. So veröffentlichte der Kardiologe Sam Parnia 2014 Interviews mit reanimierten Opfern eines klinisch festgestellten Herzstillstandes. Die Resultate der Nahtodforschungen sind von der Interpretation des Gefundenen abhängig. Das Geheimnis bleibt.
Der Sterbeprozess als Wachstum
Reinkarnationslehren wie der Buddhismus oder die Anthroposophie legen ein besonderes Gewicht auf die Transformationsmöglichkeiten der Seele vor dem Tode. Es wird angenommen, dass der Sterbeprozess ein Wachstum der Seele einleiten kann. «Wenn ich nur schon früher begriffen hätte, was ich jetzt weiss! Viel zu lange lebte ich blind und gleichgültig meinen Trott. Jetzt habe ich nur noch wenig Zeit, aber ich bin dankbar für jeden einzelnen Tag. Erst jetzt spüre ich, wie lieb sie mir alle sind. Gut, dass ich noch erwacht bin,» sagt ein Mann nach einer Nahtoderfahrung.
Tolstoi beschreibt in «Krieg und Frieden» die Sterbephase des alten Fürsten Bolkonsky, die den aufbrausenden, bösen Greis in einen liebenden Menschen zurückverwandelt. Derartige Wandlungen in Todesnähe brauchen Raum. Ein natürlicher Sterbeprozess ermöglicht wichtige Seelenerfahrungen, die durch einen selbstbestimmten Tod gefährdet werden. Eine unsinnige Bekämpfung des Todes mit ihren Verstrickungen in medizinische Interventionen kann derartige Wandlungen genauso erschweren wie eine vorzeitige Beendigung des Lebens. Das spricht für das Zulassen des natürlichen Sterbeprozesses mit palliativer Begleitung.
Todesangst
Wird jede Seele von der Todesangst gepeinigt? Unverblümt offenbart sich die Todesangst in folgendem Traum, der im Laufe einer Psychotherapie auftauchte. Die Träumerin, eine Frau in ihren Achzigern, hatte schon mehrere schwere Operationen hinter sich, und träumte am Todestag ihrer Mutter: «Ich mache meinen gewohnten Spaziergang über die Felder. Da sehe ich in der Ferne am Waldrand eine schwarze Figur auftauchen und höre ein Lied, das wir ahnungslos in der Primarschule sangen: ‚Es ist ein Schnitter, der heisst Tod, hat G’walt vom grossen Gott. Heut wetzt er das Messer, es geht schon viel besser, bald wird er dreinschneiden, wir müssens nur leiden. Hüt dich, schön’s Blümelein.’ Trotzdem will ich mich von meinen Spaziergang nicht abhalten lassen und gehe weiter auf den Waldrand zu. Da reisst sich plötzlich direkt vor meinen Füssen ein grosses schwarzes Loch auf und die dunkle Figur steigt in unmittelbarer Nähe heraus. Ich sehe sie von hinten. Es ist der Tod. Seine Sense hat er über die Schulter gehängt und ihr Blatt ragt mir entgegen. Gleich wird er sich umdrehen. Ich erwache an meinem Versuch, zu schreien.» Hier zeigt sich die Todesangst ganz direkt. Wenn man den Mechanismus der Symptomverschiebung einbezieht, kann jede Angst als verkappte Todesangst gedeutet werden. Sie lauert im Unbewussten, bereit, jede Angst zu verstärken, und ist so bedrohlich, dass sie sich häufig nur verschleiert zeigt.
Menschen, die gefragt werden, ob sie Angst vor dem Tod hätten, unterscheiden in ihrer Antwort oft zwischen Sterben und Tod. Das Sterben scheint mehr Angst zu machen als die Idee, irgendwann nicht mehr zu existieren. Die Angst vor Schmerzen, die Angst vor dem Ausgeliefertsein, die Angst vor dem Verlust der Denkfähigkeit und die Angst, anderen zur Last zu fallen, treiben viele um. Von der Furcht vor dem, was nach dem Tod sein könnte, hört man kaum etwas. Was nicht heisst, dass es sie nicht gibt.
Ist Todesangst eine Zivilisationskrankheit?
Ist Todesangst unumgänglich im Grundinventar des Menschen angelegt, oder hängt sie von bestimmten Rahmenbedingungen ab? Beide Ansichten haben ihre Vertreter. Nach Kübler-Ross ist Todesangst eine Zivilisationskrankheit. Menschen, die im Einklang mit der Natur leben, kennen keine Todesangst. Alte Indianer, Aborigines aber auch westliche Bauern, die noch naturnah arbeiten, verstehen den Tod als Übergang in ein anderes Leben. «Die Angst vor dem Tod ist eine künstliche Angst, die erst mit dem technischen Fortschritt in den letzten 200 Jahren gekommen ist. Erst mit der Technologie und auch mit der Apparatemedizin, mit der Entfremdung in den Familien, mit der Abwesenheit von spirituellen und religiösen Ritualen, ist es mit der Todesangst so schlimm geworden.» (KE 2)
Cave (CS) argumentiert ähnlich. Auch für ihn ist die Todesangst eine Folge der modernen Bewusstseinsentwicklung. Er macht die Individualisierung des modernen Menschen für die Todesangst verantwortlich. Alle Kulturen haben Verhaltensnormen im Umgang mit dem Tod, die eine Orientierung im Unbegreiflichen anbieten. Da sich aber die kulturellen Verankerungen gelockert haben, ist die Schutzwirkung dieses Angebotes am Schwinden. Erst der moderne Mensch mit seiner ungebundenen Individualität ist dem gewaltigen Ereignis Tod derart hilflos ausgeliefert.
Der homo faber in seinem Machbarkeitswahn stösst im Tod überdeutlich an seine Grenzen. Gewohnt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und eigenverantwortlich zu handeln, ist er auf den Tod schlecht vorbereitet. Der Tod ist die ultimative Entmachtung, die uns die ganze mühsam erworbene Werkzeugkiste zur Bewältigung des Lebens aus der Hand schlägt. Auf diesen Kontrollverlust sind wir nicht vorbereitet. Wir wollen vom Tod nichts wissen, nichts von seinem Schrecken, seinem Geheimnis und seinem Wunder. Und so ist die vorherrschende Bewältigungsstrategie unserer Kultur gegenüber dem Tod die des Wegschauens. Der Tod ist kein Thema und wird von der Diskussion über Machbares wie medizinische Begleitung oder den Freitod zugedeckt.
Das inakzeptable Thema
Da bei uns der Tod weitgehend unsichtbar geworden ist, lässt er sich gut ignorieren. In unserer Gesellschaft findet der Tod meist im Verborgenen statt. Oft fehlt die unmittelbare Erfahrung mit Sterbenden. Der Tod versteckt sich hinter den Mauern der Pflegeheime und Krankenhäuser und die Begleitung der Sterbenden wird uns abgenommen. Der Tod zuhause ist seltener geworden. Wir kommen manchmal nicht einmal mit dem Sterben unserer Allernächsten wirklich in Berührung.
Der Tod ist ein Tabu, über das man nicht spricht. Das Thema ist so inakzeptabel, dass sich manchmal selbst Sterbende und ihre Angehörigen nicht darüber austauschen können. Der Sterbende wird «geschont», indem man ihm die Wahrheit über seinen Zustand vorenthält, die er in vielen Fällen längst selber begriffen hat. Und so verhindert das Tabu um den Tod nicht selten eine letzte echte Begegnung zwischen dem Sterbenden und seinen Angehörigen und erschwert ihm seine Orientierung im Sterbeprozess.
Flirt mit dem Tod
Mit der Wiederkehr des Verdrängten ist zu rechnen. Was nicht bewusst angeschaut wird, wirkt trotzdem und steuert das Verhalten am Bewusstsein vorbei. Die Auseinandersetzung mit dem Tod findet dennoch statt, wenn auch indirekt. So ist gegenwärtig ein seltsamer Todesvoyeurismus zu beobachten. Ausstellungen von präparierten Leichen, von sogenannten Plastinaten, ziehen Massen von Schaulustigen an. Bei Verkehrsunfällen behindern Gaffer die Rettungsbemühungen. Bilder von Toten aus Kriegsgebieten oder Toten in Kriminalfilmen flimmern zuhauf über den Bildschirm, wo sie weggezappt werden können, sollten die Distanzierungsmechanismen des Fernsehkonsums doch einmal versagen.
Der fehlende Bezug zum Tod kann auch durch Risikoverhalten hergestellt werden. Der Adrenalinschub der Angstlust hilft beim Überleben. Hanggliding, Fallschirmspringen, Bungeejumping oder Riverrafting können durchaus Gelegenheit zu einem Flirt mit dem Tod bieten. Schon der Kick auf der Achterbahn vertreibt jede Lethargie. Auch Autofahren kann zur Angstlust instrumentalisiert werden mit überhöhten Geschwindigkeiten und riskanten Überholmanövern. Es sind vor allem junge Menschen, die so die Grenzen austesten. Sie fühlen sich unsterblich und spielen mit dem Tod, weil sie ihn nicht ernst nehmen.
Der Tod des andern
Die Angst vor dem Tod des Partners belastet harmonische alte Ehen. Paare, die über Jahre und Jahrzehnte zusammenwuchsen, Paare, die praktisch und mental eine Überlebenseinheit bilden und einander Heimat sind, fürchten den eigenen Tod oft weniger als den Tod des anderen. Gerade auch im Alter, wenn die Bewältigung des Alltags schwieriger wird, wenn Freunde sterben und Gebresten ertragen werden müssen, ist der Partner Zufluchtsort. Die Geborgenheit in den guten Routinen des täglichen Zusammenseins fängt Altersdefizite auf, und das zuverlässige Wohlwollen des anderen mildert die Kränkungen des Älterwerdens. Man ist mehr aufeinander angewiesen als früher.
Alles hat seinen Preis: Aus dem Daheimsein beim geliebten Partner resultiert eine erhöhte Verwundbarkeit durch seinen Tod, denn, wie Mascha Kaléko sagt «...den eignen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod des andern muss man leben.» Der Tod des Partners hängt bedrohlich am Horizont, und gerade deswegen kann die Verbindung durch ihre erkannte Vorläufigkeit an Tiefe gewinnen. Wenn der Tod eine solche Einheit auseinanderreisst ist der überlebende Teil nicht immer lebensfähig. Paare sterben einander nach. Männer sterben im ersten Jahr nach dem Tod ihrer Frau signifikant häufiger als Gleichaltrige.
Der Tod und das Unerledigte
Eine Spitalpfarrerin erzählt: «Die alte Frau konnte einfach nicht sterben. Ihr Tod war überfällig. Sie verfaulte lebendigen Leibes und der Geruch in ihrem Zimmer war kaum auszuhalten. Es war Unruhe und Spannung um sie herum. Es gelang mir nicht recht, sie zu erreichen. Sie drehte immer wieder den Kopf weg, wenn ich mit ihr sprechen wollte. Aber ich spürte, dass etwas geschehen musste, und versuchte es weiterhin. Schliesslich begann sie, auf meine Fragen zu antworten, anfänglich stockend. Ich musste vieles erraten und nachfragen, ob ich sie richtig verstanden hatte. Ich ergänzte ihre Bemühungen mit Vorschlägen und fragte sie wiederholt, wovor sie Angst habe. Langsam kam ihre schmerzhafte Geschichte heraus. Vor langer Zeit in ihrer Jugend hatte sie sich in einen verheirateten Mann verliebt und ihrem Verlangen nachgegeben. Das konnte sie sich nie verzeihen. Sie schämte sich lebenslänglich dafür, sprach mit niemandem darüber und litt unter ihrem Fehltritt. Ihre Selbstverachtung verbot ihr, sich je wieder einem Mann zu öffnen, und sie blieb ledig. Sie hatte eine Todsünde begangen, für die man nach ihrer Auffassung im Jenseits beim jüngsten Gericht schwer bestraft wird. Deshalb stemmte sie sich mit der Kraft der Verzweiflung gegen den Tod. Ich versuchte, ihr einen barmherzigeren Gott näher zu bringen, einen Gott, der versteht und nicht bestraft. Sie saugte meine Worte auf, zuerst erstaunt und ungläubig. Aber dann entspannte sie sich langsam. Nach zwei Tagen konnte sie sterben.» Diese Art von Schuldqualen dürften seltener werden. Gott sei Dank sind lebensfeindliche Dogmen unterdessen weniger wirksam. Aber die Behinderung des Sterbens durch Unerledigtes bleibt.
Quälende Reue verbaut den Weg zum inneren Frieden. «Was ich mir wirklich übelnehme ist, dass ich nie den Mut fand, meine Ehe zu verlassen,» sagt eine Frau. «Nun ist es zu spät. Wir hatten uns längst auseinandergelebt, und seine mit grossen Gesten inszenierte Pseudogenerosität, die seine gefühlsmässige Kargheit und Unzuverlässigkeit übertünchte, ging mich immer weniger an, und ich beobachtete ihn mit distanzierter Verachtung. Weshalb schaffte ich es nicht, mich aus dieser leeren Beziehung zu befreien? Da war die Resignation. Da war die Gewohnheit. Da war die Angst vor dem Alleinsein, die Angst vor dem Misserfolg. Da waren die eingeschliffenen Ausweichmanöver. Ich wollte die Rationalisierungen glauben, mit denen ich das Debakel in den Rahmen des Akzeptablen zu rücken versuchte: Eigentlich ging es ja ganz gut. Es war normal, dass man sich nach Jahren des Zusammenlebens nicht mehr so viel zu sagen hatte. Keine Paarbeziehung hält auf die Dauer, was die erste Verliebtheit verspricht. Mit einem anderen Partner, so dachte ich, wäre es auch nicht besser. Ich bemühte mich. Je mehr ich mich bemühte, je besser ich mich anpasste, und je mehr Zeit verstrich, desto mehr hatte ich zu verlieren. Ich investierte in ein Verlustgeschäft und versuchte mit immer weiteren Investitionen den Turnaround zu schaffen. Die Angst vor der Bankrotterklärung trübte meine Urteilsfähigkeit. Ein an sich löblicher Durchhaltewillen wurde vor den falschen Karren gespannt und meine Bereitschaft, Abstriche zu machen, war nicht mehr ein reifer Verzicht im Dienste einer gesunden Gemeinschaft, sondern Feigheit, die mich immer weiter in die Wüste führte.»
Unerlöste Paare pendeln zwischen Verleugnungen und Lösungsversuchen hin und her und hinterlassen eine Schleimspur der Qual, wie eine ganz langsam verendende Schnecke. Paare, die Jahre und Jahrzehnte in lieblosen Beziehungen dahinvegetieren, haben dem Tod wenig entgegenzusetzen. Er kann im Gegenteil sogar ein willkommener Ausweg sein, und der hinterlassene Partner blüht auf, wenn der Tod das Gefängnis aufbricht.
Kontrollverlust als persönliche Beleidigung
Eine andere Form von Unerledigtem liegt bei Hochleistern vor, denen die Lebenslektionen der Demut keinen Eindruck machten. Sie haben nie gelernt, sich ins Gegebene zu schicken. Es gelang ihnen zu oft, die Situationen so zu instrumentalisieren, dass sie die Kontrolle behielten. Sie erleben das Alter, das Schwinden der Kräfte und ihre Sterblichkeit als eine persönliche Beleidigung, die sie möglichst ignorieren. Der Kontrollverlust durch eine fortschreitende Schwächung darf nicht sein. Sie ertragen eine krankheitsbedingte Abhängigkeit von anderen schwer.
Oft tyrannisieren sie ihre Umgebung durch eine dominante Anspruchshaltung. Der Kampf um das Leben wird mit allen Mitteln weitergeführt, auch wenn der Körper nicht mehr will und längst das Einlenken fällig wäre. Jeder Arzt, der das Unmögliche nicht fertigbringt, ist ein Versager und muss ausgewechselt werden. Der Tod wird als der grosse Widersacher bis zur letzten Minute bekämpft, und der Widerstand macht das Sterben schwer.
Verpflichtungen, Illusionen, Versäumtes: vorbei
Die Erkenntnis, dass existenzielle Verpflichtungen nach dem Tod nicht mehr wahrgenommen werden können, bedrückt und ist schwer zu ertragen. In Familien mit behinderten Kindern ist Geschwistern die Mitverantwortung für das schwächste Familienglied oft von früh auf selbstverständlich, und die Eltern können ohne Sorge sterben. Ein behindertes Kind ohne eine tragende Einbindung seinem Schicksal überlassen zu müssen ist unerträglich. Der durch das Sterben erzwungene Verzicht auf eine notwendige Beschützerfunktion belastet und behindert das Sterben. Der begreifliche Ausweg, auf dem Sterbebett die Verpflichtung weitergeben zu wollen, setzt die Adressaten unter Druck. Sterbende, die Angehörigen Versprechungen abringen, haben zu lange weggeschaut.
Das Ungelebte bäumt sich gegen den Tod auf. Angesichts des nahenden Todes wird die mentale Parallelspur eines erträumten ganz anderen Lebens erbarmungslos als Illusion entlarvt. Der nicht mehr zu kompensierende Misserfolg, das ungeborene Kind und die nie erfüllte Liebe heulen durch die durchwachten Nächte. Der penetrante Chor ist nicht zu beruhigen. Das ungelebte Leben verlangt sein Recht. Unterlassene Sünden bereuen wir oft mehr als begangene. Es ist das versäumte Leben, das keine Ruhe gibt. Es darf nicht sein, dass dieses mickrige Leben schon Alles war. Die grosse Liebe, das rauschende Abenteuer und der Erfolg müssen einfach noch kommen.
Tragischerweise kann das Versäumte von einem bestimmten Punkt an nicht mehr nachgeholt werden, auch wenn das manchmal mit hektischer Lebensgier versucht wird. Torschlusspanik trübt das Urteil und macht für die konkreten Möglichkeiten blind. Ein schäbiger Flirt hinterlässt bloss ein schales Gefühl, die grosse Reise überfordert den Kreislauf, und für den geplanten Bestseller findet sich kein Verlag. Es ist zu spät. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Die offenen Rechnungen mit dem Leben erschweren das Sterben.
Eine terminale Diagnose erscheint dem vom Leben Geprellten als die ultimative Ungerechtigkeit. Der Neid auf die Gesunden, die sich ungehindert am reichen Buffett des Lebens bedienen können, vergiftet Beziehungen. Sie sollen sich schuldig fühlen, schuldig für ihre mangelnde Zuwendung und schuldig für ihre Lebensfreude. Unzufriedene sind schwierige Patienten, die den Pflegenden das Leben schwer machen.
Das Ende moralischer Buchführung
Das, was das Sterben behindert, kann der Tod aber auch vernichten. Die moralische Buchführung ist eine menschliche Erfindung, die von einem barmherzigen Tod annulliert werden kann. Lebensbereinigungen brauchen eine Kraft, die vielleicht nicht mehr vorhanden ist. Nicht allen ist das Leben wohlgesinnt. Alte, schwache Menschen, die nicht mehr mögen, ersehnen den Tod. Kumulative Belastungen physischer und psychischer Art haben den Lebenswillen geschwächt. Die Nörgeleien des alternden Körpers, mit Schmerzen und langwierigen Behandlungen mit ungewissem Ausgang, zehren an der Substanz. Lebensfreude und Hoffnung auf bessere Zeiten schwinden. Der Verlust des Ehepartners, Demütigungen als Folge schwindender Kapazitäten und Vereinsamung führen zu Hoffnungslosigkeit und Selbstaufgabe.
Der Tod verspricht das Unerledigte und Unbefriedigende des Lebens aufzulösen. Der lebensmüde Mensch gleitet willig hinüber. Im Lied «Der Tod und das Mädchen» von Schubert sagt der Tod dem kranken Mädchen: «...bin Freund und komme nicht zu strafen. Sei guten Mut’s, ich bin nicht wild. Sollst sanft in meinen Armen schlafen.» Der Tod als willkommener Erlöser entbindet vom Leben. Sanft, wenn es denn so sein darf.
Sterben lernen
Lässt sich das Unerledigte rechtzeitig erledigen? Es geht dabei um mehr als ein gutes Sterben. Die mentalen Voraussetzungen für ein gutes Sterben sind letztlich dieselben wie die für ein gutes Leben. Das Unerledigte stört den inneren Frieden und verhindert ein Alter im Einklang mit sich selber. Zum Unerledigten gehören anstehende Verzichtleistungen, Selbstvorwürfe und Versöhnungsbedarf.
Alle wünschen sich, zufrieden sterben zu dürfen. Menschen, die in dankbarer Ruhe auf ihre Existenz zurückblicken, können sich mit einer terminalen Diagnose eher befreunden. Sie müssen sich nicht an das Leben klammern, weil sie genug gelebt haben. Sie integrierten ihre Endlichkeit und regelten in der Folge, was geregelt werden muss. Sie sind mit sich selbst im Reinen. Die Kämpfe gegen Selbstentwertung und die Auseinandersetzung mit Schuldgefühlen gehören der Vergangenheit an. Eine wachsende Selbstempathie mildert die Selbstverurteilung. Erfüllt und lebenssatt gelingt es ihnen nach einem langen Leben, im Einverständnis mit dem Gegebenen das Sterben gefasst anzunehmen. Der Tod rundet ihren Lebensbogen ab. Aber wie wird man ein solcher Mensch?
Da helfen Alter und Lebenserfahrung. Das Innewerden der eigenen Endlichkeit löst manchmal Denkkonventionen auf und ermöglicht neue Sichtweisen. Die vielen ernüchternden Erfahrungen mit der Wirkungslosigkeit von Bestrebungen haben das Ego abgeschliffen und die Werthierarchie verändert. Untersuchungen zeigen, dass der Altruismus mit dem Alter tendenziell zunimmt, solange ein Mensch noch über sich selber verfügen kann. Verbundenheit und Sorge um die anderen nehmen mehr Raum ein. Nur schon weil mit dem Alter die physische und mentale Wehrhaftigkeit abnimmt, ist Friedfertigkeit eine vernünftige Strategie.
Das Ego kann zurücktreten
Im Alter lässt sich das ganze Panorama des Lebens überblicken. Die grösseren Zusammenhänge scheinen auf und lassen das Ego in den Hintergrund treten. Das mit dem grösseren Ganzen identifizierte Individuum hat vom Tod weniger zu befürchten. Bertrand Russel empfiehlt, im Alter «die eigenen Interessen schrittweise weiter und weniger persönlich zu fassen, so dass die Mauern des Ego immer weiter zurückweichen und das eigene Leben immer stärker mit dem universellen Leben verschmilzt.» (CS, S. 329)
Die innere Ruhe ist nur über die Versöhnung mit dem Schicksal und die Versöhnung mit sich selber zu haben. Versöhnung fordert Verzicht, freiwilligen Verzicht, Verzicht auf Perfektion, Verzicht auf Anerkennung, Verzicht auf Gerechtigkeit und Verzicht auf erhofftes Verständnis oder erhoffte Zuwendung. Frieden zu machen mit dem Misslungenen und dem Unerreichbaren haben wir ein Leben lang an der Bewältigung vieler Lebensenttäuschungen eingeübt und uns mit dem nicht mehr zu Ändernden arrangiert. Diese Lernprozesse, die jeder unzählige Male durchlaufen hat, kommen uns im Alter zugute. Wenn der Verzicht gelungen ist, kann die Gegenwart wieder stattfinden.
Versöhnen und verzeihen
Das wachsende Bewusstsein der Endlichkeit verändert die Einstellung zu problematischen Beziehungen. Sie verlangen oft nochmals ein Stück innere Arbeit. Und dafür ist es nie zu spät. Einstellungsveränderungen lassen sich auch im Alter erreichen. Versöhnung wird uns nicht geschenkt. Während die Versöhnung zwei Entfremdete wieder zusammenführt, verändert das Verzeihen den Einzelnen. Versöhnung setzt Verzeihen voraus.
Im Gegensatz zur Versöhnung ist Verzeihen als innerseelischer Prozess nicht vom Verhalten eines anderen abhängig. Verzeihen heisst, sich mit dem Täter auf die gleiche Stufe zu stellen und den moralischen Vorsprung des Opferstatus aufzugeben. Hinter der selbstgerechten Opferhaltung mit der Schuldzuweisung an andere kommt vielleicht die eigene Beteiligung am Unheil hervor, was zu Selbstbeschuldigungen führen kann.
Der Schreck über die eigenen Schattenseiten muss verarbeitet werden. Das Leiden an der eigenen Schuld und das Leiden an der eigenen inneren Hässlichkeit lassen sich nicht überspringen. Dieses Leiden entspringt dem Wissen, dass man sich liebevoller hätte verhalten können. Eine zeitliche Distanz zu den verletzenden Ereignissen und eine grosszügigere Perspektive erlauben mit der Zeit einen verständnisvolleren Blick auf das eigene Verhalten. Die Selbstempathie führt zur Selbstversöhnung. Erst dann wird ein Verzeihen möglich.
Gelassenheit
Menschen, die dem Tod gelassen entgegengehen, nehmen uns die Angst. Eine abgeklärte alte Frau sagt: «Nach den Voruntersuchungen im Spital sassen mir die beiden jungen, engagierten Ärzte gegenüber. Sie waren sehr nett zu mir und machten mir Komplimente über mein jugendliches Aussehen. Sie empfahlen mir, ein Herz-MRI zu machen. Sie hätten dann eine bessere Entscheidungsgrundlage. Da hatten sie sicher recht. Aber nach drei Tagen des Nachdenkens habe ich mich dagegen entschieden. Ich weiss, dass es mit einer Abklärung in der Regel nicht getan ist. Nachher geht es weiter. Oft sind die Befunde nicht klar, und dann braucht es weitere Untersuchungen. Oder es könnte eine Operation empfohlen werden, die vielleicht meine Chancen erhöht, und wenn ich sie nicht mache, bin ich sozusagen selber schuld, wenn mein Herz versagt. Vor 15 Jahren wurde meine Herzklappe saniert. Ich habe die Operation gut überstanden, aber es war kein Zuckerschlecken. Ich will keine Operationen und keine Spitalaufenthalte mehr, solange ich es vermeiden kann. Es geht mir gut, und ich möchte diesen wunderschönen Frühling geniessen und nicht von Untersuchung zu Untersuchung leben. Wenn mein Herz nicht mehr will, bin ich zu sterben bereit.»
Eine weitere Geschichte illustriert ein gutes Sterben: «Meine Freundin aus der Primarschulzeit, ich und unsere beiden Männer waren ein eingespieltes Quartett. Wir sahen uns regelmässig, gingen miteinander in die Ferien und vertrauten einander. Wir konnten über beinahe alles sprechen, so über die Belastung durch die Phase der Arbeitslosigkeit unseres Freundes und über das Scheitern der Ehe unserer älteren Tochter, das mich sehr bedrückte. Die gegenseitige Offenheit rückte die Dinge wieder ins richtige Licht. Alle wussten, wie kostbar diese zuverlässige, wohlwollende gegenseitige Anteilnahme war. Die katastrophale medizinische Diagnose meiner Freundin überrumpelte uns alle vier. Während der wenigen Monate bis zu ihrem Tod waren wir vollständig auf sie ausgerichtet. In dieser Zeit wuchs sie über sich hinaus. Wir versuchten, mit unserer Trauer und unserer Angst vor dem Unvermeidlichen fertig zu werden und ihr zu helfen. Sie aber brauchte nur praktische Hilfe. Seelisch half sie eher uns. Sie akzeptierte das Todesurteil viel schneller als wir und schickte sich mit einer lockeren Selbstverständlichkeit in ihren baldigen Tod. Es war, wie wenn sie sich schon vor der Diagnose bereit gemacht hätte. Sie wollte unsere Freundschaft so lange wie möglich geniessen und erleichterte uns die Situation mit einer ruhigen Heiterkeit, über die ich immer noch staune. Es war hell um sie herum. Was ich durch ihr gelassenes Sterben gelernt habe, hat mich tief erschüttert. Wie war es ihr möglich, so ruhig auf den Tod zuzugehen? Ihr Tod warf mich ins Leben zurück, wo nichts mehr war wie vorher. Wie unwichtig war vieles geworden, was mich beschäftigt hatte! Auch ich werde sterben, und ich möchte so leben, dass ich sterben kann wie sie.» Ein gutes Sterben unterstützt die Überlebenden bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Tod
Der Wechsel von Gleichgewicht, Spannung und neuem Gleichgewicht wiederholt sich während des ganzen Lebens und lässt das Vertrauen in den Lauf der Dinge wachsen, sodass wir leichter auf den Tod zugehen können. Das grosse Stirb und Werde, das uns seit jeher als Grundrhythmus des Lebens umgab, hilft uns dabei. Hoffnungen starben und schafften Raum für neue Ziele. Zugehörigkeiten lösten sich auf und schickten uns auf die Suche und schliesslich in eine neue Heimat. Das Ja zum Ungewollten wird vom Leben immer wieder gefordert. Es läuft oft anders als geplant. Schicksalschläge weisen uns in unsere Grenzen und zerstören die Illusion, das Leben sei kontrollierbar. Das zu akzeptieren, bereitet auf das letzte Loslassen vor. Das berühmte Stufengedicht von Hermann Hesse ist eine Aufforderung zur Wandlungsbereitschaft bis zum Ende des Lebens und darüber hinaus.
Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten
an keinem wie an einer Heimat hängen.
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewohnheit sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde.
Die Perlensammler
Die Zukunft des Alters ist der Tod. Dient die lebenslängliche Gewohnheit, Kommendes zu antizipieren und sich darauf einzustellen, auch im Alter? Ist die mutige Konfrontation mit Schwierigkeiten, mit der wir uns früher auf Hindernisse vorbereiteten, jetzt unserer Lebensqualität dienlich? Oder gehört diese Haltung zu einem früheren Lebensabschnitt, als sich die Zukunft noch unendlich vor uns ausbreitete und wir die Weichen für unser Leben stellten und eingeschlagene Richtungen durchzogen, zur Zeit des Navigierens in einem reissenden Lebensstrom?
«In die Sonne schauen» ist die Metapher, die der Psychiater Irvin Yalom (YI) für die Auseinandersetzung mit dem Tod wählt. Wie die Sonne dem Auge verunmöglicht, sie zu sehen, so setzt der Tod das Bewusstsein ausser Kraft. Wir gehen unweigerlich auf etwas zu, das unsere Regeln und unsere Bewältigungsstrategien unterläuft. Der Tod als die ultimative Transformation, als das unfassbare, unvermeidliche Ende unserer körperlichen Existenz ist der Vorhang, hinter den wir nicht sehen.
Die Lebenskunst im Alter verbietet ein obsessives Grübeln über den Tod. Man bekommt ihn nicht in den Griff, indem man sich zuviel mit ihm beschäftigt. Das Alter kann dabei helfen. Die altersbedingte Entschärfung der kognitiven Kompetenzen trägt zur Beruhigung bei. Vielleicht ist es genau das Innewerden des unausweichlichen Todes, das die Forderungen nach Klarheit und nach Entscheidungen relativiert. Die fordernde Ungeduld ungelösten Fragen gegenüber hat sich teilweise gelegt. Wir haben unterdessen gelernt, mit ihnen zu leben.
Es ist nicht nur so, dass man in bestimmten Situationen nichts machen kann, sondern auch so, dass man nichts machen muss und es trotzdem geht. Der Tod bedeutet das Ende des Planbaren, des Überschaubaren. Der Tod wird sich einstellen. Das braucht keine Planung. Was Planung braucht, ist das Sterben, die Hinterlassenschaft und der Umgang mit der unendlich wertvollen Zeitstrecke, die uns noch bleibt.
Den Tod Tod sein lassen
Es ist Zeit geworden, sich vom Welträtsel abzuwenden, um im Hier und Jetzt die verbleibende Lebenstrecke voll auszukosten. Die Verdrängung von Unbewältigbarem kann auch im Alter zum psychischen Gleichgewicht beitragen. Aber es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen einem gesunden Bemühen, den Tod Tod sein zu lassen und gerade angesichts der Endlichkeit gut zu leben, und der irrationalen Annahme, er gehe uns nichts an. Das Auge hält den Blick in die Sonne nicht aus. Und doch ist die Sonne da, auch wenn man wegschaut. Es geht nicht um Hinschauen oder Wegschauen, sondern um ein Seinlassen des nahenden Todes, um ein Leben in der anschwellenden Begleitmusik des Wissens um seine Endlichkeit.
Solange sich das Leben unendlich vor uns ausbreitet, ist das Alter nur deprimierend. Aus der Perspektive der jüngeren Jahre droht das kommende Alter mit mannigfachen Verlusten. Das Älterwerden verpasst uns happige Lektionen in Machtlosigkeit. Der Körper, früher ein zuverlässiger Verbündeter, muss jetzt sorgfältig gehätschelt werden, damit er einigermassen auf der Schiene bleibt. Gedächtnislücken und Wortfindungsstörungen verändern die soziale Präsenz. Der Einflussbereich schrumpft. So gesehen ist das Alter ein einziges Verlustgeschäft.
Erstaunlicherweise verändert sich das Bild des Alters, wenn man es vom Ende her denkt. Das endliche, durch einen akzeptierten Tod begrenzte Alter fühlt sich anders an. Der integrierte Tod wirft auf die verbleibende Wegstrecke ein neues Licht, das die Altersdefizite in den Hintergrund drängt und unerwartete Qualitäten aufscheinen lässt. Wenn die Botschaft der eigenen Endlichkeit gehört und ins Leben eingebaut wird, kann sich das Alter aus der Resignation lösen.
Die Konfrontation mit dem unweigerlich früher oder später bevorstehenden Tod verändert die Prioritäten. Die Grenzen zwischen relevant und irrelevant definieren sich neu. Wer den Tod nicht verdrängt, sondern ins Auge fasst, lebt anders. Schlimmstenfalls in defensiver Angst oder mit einem Gefühl der Sinnlosigkeit, aber oft auch mit einer erhöhten Präsenz, die einen Gewinn an Lebensqualität bringen kann.
Akzeptierte Endlichkeit
Paradoxerweise intensiviert und relativiert die akzeptierte Endlichkeit das Leben gleichzeitig. Angesichts des Todes sind viele Anliegen nur noch lächerlich. Das Streben nach Geld, nach Macht, Ansehen und Bedeutung verliert seinen Sinn zunehmend. Man staunt, wie viele der Ziele, die mit grossem Aufwand erreicht oder verfehlt wurden, unwichtig geworden sind. Wem wollte man was damit beweisen? Das Publikum für die Selbstinszenierungen verändert sich und schwindet.
Man kann die Erwartungen, die Anpassungsforderungen von aussen und die eigenen Perfektionsvorgaben nicht mehr richtig ernst nehmen, und entzieht sich diskret unerspriesslichen Verpflichtungen. Zudem hat sich der Schraubstock beruflicher Verpflichtungen gelockert und die mit ihnen verbundene Identität auch. Wir müssen uns an kein Regelwerk mehr anpassen, weil wir nicht mehr an den Schalthebeln sitzen. Der Druck, den ganz grossen Wurf zu machen und den ganz hohen Berg zu erklimmen nimmt ab. Die schwindenden Kräfte verunmöglichen das Mithalten. Man kann nicht mehr, aber gnädigerweise muss man auch nicht mehr.
Aus dem Lamento in Moll schwingt sich eine ganz andere Melodie in Dur empor: Das haben wir hinter uns! Wir sind entlassen. Dem Anpassungsdruck der Hochleistungsgesellschaft entronnen, können wir wieder wählen. Wir sind frei zu staunen, zu spielen und zu lieben. Die unendliche Leichtigkeit des Seins feiert sich gerade angesichts des unvermeidlichen Todes.
Nicht verlängern, sondern verdichten
Der grosse Übergang kündet sich an. Wir leben in einer immer existenzieller werdenden Vorläufigkeit. Es gilt, die Gegenwart zu gestalten, die angesichts der schrumpfender Zukunft wichtiger wird. Das Leben kann nicht verlängert werden, wohl aber verdichtet. Die Durchlässigkeit und Empfänglichkeit für die Lebensgeschenke ist jetzt eine Entscheidung. Sie muss im Gegenwind der Zumutungen durch das Alter durchgehalten werden. Jetzt kann es nicht darum gehen, die Vergangenheit zu verlängern, sondern mit der sich unausweichlich ins Bewusstsein drängenden Endlichkeit gut umzugehen. Sie ist der dunkle Hintergrund, vor dem das noch geschenkte Leben umso farbiger aufscheint.
Die akzeptierte Endlichkeit verdichtet jeden Moment. Seine Vorläufigkeit macht den Augenblick kostbar. Das Noch verwandelt Selbstverständliches in ganz Besonderes. Noch ist Zeit. Noch sind wir mobil und unternehmungslustig. Noch haben wir eine Wahl. Noch sind die Reisen möglich, die Feste realisierbar und die Allernächsten da. Man muss mit ihnen zusammen sein, solange man sie noch hat, solange sie noch freie Valenzen haben. Eine Diagnose – und schon ist alles ganz anders. Für die Noch-Generation ist Aufschieben keine Option mehr. Der unvermeidliche Tod verleiht dem individuellen Leben eine drängende Einmaligkeit. Es ist alles nur jetzt, nur auf dieser kurzen Strecke, bis es nicht mehr ist. Verweile doch, du bist so schön! Die integrierte Sterblichkeit würzt die Gegenwart. Ihre Verdrängung hingegen nimmt ihr den Glanz und die Tiefendimension.
Es glänzt ein Tropfen Morgentau
im Strahl des Sonnenlichts.
Ein Tag kann eine Perle sein –
und ein Jahrhundert nichts.
Gottfried Keller
Es sind die ihrer Endlichkeit bewussten Alten, die zu dankbaren Perlensammlern werden.
Weiterführende Literatur:
BG Borasio, Gian Domenico: Über das Sterben. München 2011
BM Von Brück, Michael: Ewiges Leben oder Wiedergeburt? Freiburg 2007
CS Cave, Stephen: Unsterblich. Frankfurt am Main 2012
GP Gross, Peter: Wir werden immer älter. Vielen Dank. Aber wozu? Freiburg im Breisgau 2013
KE 1 Kübler-Ross, Elisabeth: Interviews mit Sterbenden. Chicago 1969
KE 2 Kübler-Ross, Elisabeth im Interview mit Franz Alt 2005. Google 19.11.14
KH 1 Küng, Hans und Jens, Walter: Menschenwürdig sterben. München 2009
KH 2 Küng, Hans: Jesus. München 2012
FR Reich, Felix: Exit-Offensive für den Altersfreitod, reformiert, 25. September 2014
RM 1 Renz, Monika: Zeugnisse Sterbender. Paderborn 2000
RM 2 Renz, Monika: Hinübergehen. Feiburg im Breisgau 2011
TB Tommer, Benjamin: Demenz verursacht alarmierend hohe Kosten. Neue Zürcher Zeitung vom 12.9.10
YI Yalom, Irvin D.: Staring at the sun. San Francisco 2009