In den belgischen Gemeinderatswahlen, die diesen Sonntag in sämtlichen Gemeinden des Landes angeordnet waren, hat die flämisch-nationalistische Partei NVA („Nieuwe Vlaamse Alliantie“, Neue flämische Allianz) des starken Politikers Bart de Wever einen grossen Durchbruch erzielt. Die internationale Journaille ist massiv anwesend, weil dieser Durchbruch absehbar war und sie sich jetzt aufgeregt fragt, ob die Spaltung Belgiens in Flandern und Wallonien bevorsteht. Ihr Interesse ist verständlich. De Wever strebt eine „Konföderation“ an, und im flämischen Sprachgebrauch heisst das, dass Flandern und Wallonien sich zunächst selbständig machen und dann einen „föderalen Pakt“ mit einem Minimum von belgischen Gemeinsamkeiten aushandeln. De Wever strebt offen eine Separation Flanderns von Belgien an, aber klüger und flexibler als die schwer dezimierten radikalen flämischen Nationalisten des „Vlaams Belang“.
Erste Crux: Brüssel
Mindestens auf kurze Frist ist die Spaltung unwahrscheinlich. Es gibt da eine erste Crux: Das zu 90 Prozent französischsprachige Brüssel. Es würde sich wahrscheinlich für ein Zusammengehen mit Wallonien entscheiden, doch dürfen die flämischen Separatisten ihre 10 Prozent Flamen in der Hauptstadt nicht einfach vernachlässigen. Sie propagieren grossspurig die Idee einer „internationalen Exklave“, wie das aber mit demokratischer Selbstbestimmung der Brüsseler zu vereinbaren ist, wissen sie nicht.
Bart de Wevers Durchbruch ist unbestreitbar und gross, muss aber nuanciert werden. Erstens: Es waren ja Gemeinderatswahlen, und die Teilresultate vom Sonntagabend zeigen in den hunderten von flämischen Gemeinden ein farbig-differenziertes Bild. Von fast nichts in den letzten Gemeindewahlen vor sechs Jahren, bis diesen Sonntag kaum in den Gemeindeparlamenten vertreten, ist die NVA auf etwa 30 Prozent und vielerorts auf mehr gesprungen und wird, wenn man daraus rein rechnerisch ein Durchschnittsergebnis ableitet, die grösste flämische Partei vor den bisher dominierenden Christlichdemokraten mit vielleicht 20 Prozent und den stark zurückgebundenen Liberalen und Sozialisten um je 10 oder weniger Prozent, denen oft die Grünen nahekommen. Das hindert nicht, dass unter den Gemeinden grosse Unterschiede bestehen. In vielen werden christlichdemokratische, liberale und sozialistische Bürgermeister wechselnde Koalitionen bilden und weiterregieren, in wohl ebenso vielen wird die NVA Koalitionsführer. Diese Koalitionsverhandlungen werden einige Wochen dauern und in jeder Gemeinde auch nach rein lokalen Interessen, Machtverhältnissen und Opportunitäten unterschiedliche Resultate produzieren
Ein Sieg, aber nirgends die absolute Mehrheit
Damit wird eine weitere nötige Nuancierung klar: Gemessen am bisherigen Quasi-Null-Einfluss ist der Durchbruch gewaltig – aber eine absolute Mehrheit hat die NVA nur in wenigen Kleingemeinden erzielt. Sie ist die stärkste Partei Flanderns geworden, aber diktieren kann sie nicht, sie wird Koalitionen formen und dafür Kompromisse schliessen müssen.
Und drittens: Die NVA hat ihren Gewinn nicht nur selber erzielt, sondern auch mit vielen Überläufern aus der seit Jahrzehnten in ganz Belgien gefürchteten und boykottierten Partei der rechtsradikalen fremdenfeindlichen flämischen Separatisten „Vlaams Belang“, „Das Interesse Flanderns“. Der Vlaams Belang ist dezimiert worden, von früher über 30 Prozent auf jetzt 10 oder darunter. Zählt man die Stimmen des „Belang“ und der NVA zusammen, dann ist der Vorstoss des flämischen Separatismus also weniger gross als er scheint. Und de Wever hat schon in seinem ersten Interview angedeutet, dass er nicht mit dem Belang zusammenspannen will.
Spaltung? Nein
Ein viertes Argument wird in der jetzigen Hektik kaum erwähnt, ist aber vielleicht das wichtigste. 70 bis 80 Prozent der Flamen sind zwar mit Belgien unzufrieden, doch alle Umfragen der letzten Jahre zeigen, dass sie kein unabhängiges Flandern wollen. Sie sind von Bart de Wever begeistert, weil er kräftiger als die traditionellen Parteien für Flanderns Interessen kämpft und den Französischsprachigen unverblümt seine Meinung sagt, aber die Spaltung Belgiens wollen sie offenbar nicht. De Wever hofft, dass er in den nationalen Wahlen von 2014 seinen Erfolg noch verstärken kann – auch das ist nicht sicher, wenn die drei traditionellen Parteien der Regierung de Rupo das Land erfolgreich durch die Euro-Krise steuern.
In der grössten flämischen Stadt Antwerpen hat De Wever den populären sozialistischen Bürgermeister mit 37 gegen 20 Prozent besiegt und wird ihn aus dem Bürgermeistersessel vertreiben. Die Journalisten werden das als Vorzeichen für die Spaltung Belgiens in die Welt hinaustrompeten. Aus den erwähnten Gründen halte ich das für nicht sehr wahrscheinlich.