Die 29-jährige Maria A. wird an Heiligabend von ihrem 63-jährigen Mann mit 12 Messerstichen getötet. Das Delikt ereignete sich bei Trapani im Westen Siziliens. Seit längerer Zeit wollte sich die Frau von ihrem Mann Ernesto F., einem pensionierten Fischer, trennen. Bei der Festnahme hielt Ernesto ein grosses, blutverschmiertes Messer in der Hand.
Kurz vor Weihnachten tötete der 41-jährige Salvo P. in Villabate bei Palermo seine 44-jährige Ex-Frau Giovanna B. mit einem Messer. Auf Facebook bat er Gott «demütig um Entschuldigung». Dann brachte er sich um.
In Chieti in den Abruzzen schoss der 39-jährige Giovanni C. wenige Tage vor Weihnachten der 41-jährigen Eliana C. mit einer Pistole ins Gesicht. Im Gefängnis brachte sich der Mörder um.
An jedem dritten Tag ein Frauenmord
Maria A., Giovanna B. und Eliana C. sind die vorläufig letzten Opfer einer langen Serie von Frauenmorden. 115 Frauen wurden bisher in diesem Jahr in Italien umgebracht, meist von ihren Ehemännern, ihren Freunden oder ihren Ex. Das ist die höchste Zahl seit neun Jahren. Das heisst: An jedem dritten Tag wird in Italien eine Frau getötet. 2013 waren 179 Frauen umgebracht worden.
Ignazio La Russa, der Präsident des Senats, erklärte vor Weihnachten im Plenarsaal: «Ein Teil der Männer hat die Fortschritte in der Gesellschaft nicht verdaut.» Laut einer Untersuchung gehen 57 Prozent der Frauenmorde auf das Konto des Partners und 13 Prozent auf jenes des Ex.
Trotz Anzeige: Nichts geschieht
Ministerpräsidentin Giorgia Meloni erklärte: «In tausend anderen Fragen mag es unterschiedliche Standpunkte zwischen Regierung und Opposition geben, aber ich glaube, in dieser Frage kann es keine Unterschiede geben.»
Der Kampf müsse weitergeführt werden. Gesetze würden nicht ausreichen, erklären sowohl die Regierung als auch die Opposition. Unter anderem existiert in Italien eine Telefonnummer (1522), die von Hilfesuchenden angerufen werden kann. Viele Frauen hatten vor ihrer Ermordung die Polizei aufgesucht und Anzeige wegen Gewalt eingereicht – und es geschah nichts.
Soziologen sagen, es brauche im Land einen grundlegenden Kulturwandel. In Schulen, bei der Polizei, bei Rechtsanwälten, Richtern, Ärzten und Sozialarbeitern müsse vermehrt und vehement auf das Problem hingewiesen werden. Die allermeisten Morde werden von Italienern verübt, viele kommen aus Süditalien, die meisten vom Land.
Oft wird in Italien immer noch den Frauen die Schuld gegeben, dass sie ermordet wurden, erklärte die sizilianische Lega-Senatorin und Frauenrechtlerin Giulia Bongiorno.
Die absolute Hoheit über die Frau
Soziologen sind sich einig, dass das Problem viel mit der Emanzipation der Frauen zu tun hat – und der Rückständigkeit der Männer. Viele Männer glauben noch immer, sie hätten die absolute Hoheit über das Leben der Frau. Das Nord-Süd- und Stadt-Land-Gefälle sind enorm. Soziologen fordern einen grundlegenden Kulturwandel im Land. Doch ein solcher kann nicht auf Knopfdruck erreicht werden.
Vor allem im Süden und auf dem Land haben Frauen noch immer kaum Rechte. Die meisten befinden sich in einer schwachen Position, da sie keine Arbeit und meist keinen Beruf haben. Italien weist europaweit eine der niedrigsten weiblichen Beschäftigungsquoten auf. Ein Ausbruch ist rein finanziell kaum möglich. Also müssen sie erdulden, was ihnen die Männer antun.
Hohe Dunkelziffer
Laut Statistiken erleiden je nach Region bis zu 40 Prozent der Frauen häusliche Gewalt. Aus Scham oder aus Angst vor dem Partner erzählen die meisten Frauen nicht, was ihnen geschieht. Die Zahlen zeigen, dass 63 Prozent der Frauen, die Gewalt erleiden, noch nie mit jemandem darüber gesprochen haben, nicht einmal mit einer Freundin. Man rechnet damit, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist.
Auch in Italien ist ein tiefgreifender sozialer Wandel im Gang. Viele Frauen sind selbstbewusster geworden, wollen studieren oder arbeiten. In den allermeisten Fällen geschehen die Frauenmorde, weil die Frau ihren Partner verlassen will.
Macho-Gesellschaft
Die italienische Gesellschaft ist noch immer in weiten Gebieten eine Macho-Gesellschaft. Männer stellen ihre Männlichkeit zur Schau und sind in ihrer traditionellen männlichen Geschlechterrolle gefangen. Sie ertragen es nicht, dass sie verlassen werden. «Sie fühlen sich so toll», sagt uns eine Soziologin, «dass in ihrem Weltbild nicht vorkommen darf, dass sich eine Frau von ihnen abwendet.»
Eine üble Rolle spielt wieder einmal die Kirche. Priester rufen immer wieder hilfesuchende Frauen auf, bei ihrem Mann zu bleiben. Die Ehe sei doch heilig und unauflösbar. Man müsse eben ab und zu Konzessionen machen, heisst es Beichtstuhl. Im Klartext bedeutet das: Lasst euch verprügeln!