Da steigt er aus dem Meer, braungebrannt, mit geschwellter Brust. Neun Kameras sind auf ihn gerichtet. Junge Frauen umschwärmen ihn, einige Ragazze kreischen und betteln um ein Selfie. Er streichelt Babys und fährt alten Frauen übers Haar. Hier am Adriastrand südlich von Ravenna hält er Hof. Es war der Sommer des Matteo Salvini. Das war vor drei Jahren. Und heute? Heute ist alles anders. Ziemlich anders.
Vor drei Jahren lag ihm Italien zu Füssen. Bei den Europawahlen im Mai 2019 hatte er über 34 Prozent der Stimmen erhalten – das mit Abstand beste Ergebnis. Kurz darauf erreichte seine populistische Lega in Umfragen gar sensationelle 38 Prozent. Mehrmals täglich erschien er am Fernsehen. Die Zeitungen überschlugen sich mit Salvini-Berichten. Die Klatschmagazine geiferten.
Hier an der «Papeete Beach» in Milano Marittima sammelte Salvini Kraft für seinen geplanten Putsch gegen die Regierung von Giuseppe Conte. Salvini war zu jener Zeit Innenminister. Doch das genügte ihm nicht: Er wollte Ministerpräsident werden.
Am 8. August 2019 stürzte er die Regierung Conte. Er rechnete damit, dass es jetzt Neuwahlen geben würde – Wahlen, die seine Lega laut Umfragen grandios gewinnen würde.
Doch statt Ministerpräsident zu werden, begann sein Abstieg.
Staatspräsident Sergio Mattarella, eine der besonnensten Persönlichkeiten der italienischen Politik, schrieb keine Neuwahlen aus. Er beauftragte die Sozialdemokraten und die Protestbewegung Cinque Stelle mit der Bildung einer Koalitionsregierung – wieder mit Ministerpräsident Giuseppe Conte an der Spitze. Salvini war an die Wand gedrückt.
In der Opposition hoffte er nun die Regierung vorführen zu können und an Popularität zu gewinnen.
«Bald werden wir gemeinsam mit Viktor Orbán regieren. Wir werden Europa verändern.»
Schon immer tanzte er auf vielen Hochzeiten. Er flirtete offen mit den neofaschistischen Organisationen Casa Pound und Forza Nuova. Das Buch «Io sono Matteo Salvini» erschien in einem Verlag, der von Francesco Polacchi gegründet wurde. Polacchi bezeichnet sich offen als Faschist. «Ein bisschen Diktatur kann nicht schaden», erklärt er.
Salvini flirtete mit Marine Le Pen und dem ungarischen Ministerpräsidenten. «Bald werden wir gemeinsam mit Viktor Orbán regieren», sagte Salvini vor den Europa-Wahlen. «Wir werden Europa verändern.»
Sardinen gegen Salvini
Zu Salvinis Feinden gehörte die EU, die Italien eine rigorose Sparpolitik verordnet hatte. Und der Euro. Die Einheitswährung «ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit», erklärte der Lega-Chef einst.
Dann, im November 2019, kamen die Sardinen. Zehntausende Italienerinnen und Italiener demonstrierten während Wochen – gedrängt wie Sardinen – auf Strassen und Plätzen gegen Salvini. Die Demonstranten warfen dem Lega-Chef seine unappetitliche Nähe zu den Neofaschisten vor.
Dann begann eine Serie von Rückschlägen. Die Regionen Emilia-Romagna und Toscana sind Bollwerke der Linken mit hohem Symbolwert. Salvini war ausgezogen, beide «roten Hochburgen» zu schleifen. Bei den Regionalwahlen warf er sein ganzes Prestige in den erbitterten Wahlkampf. Erfolglos. In beiden Regionen verlor er. Schlimmer noch: Die Linke gewann die Bürgermeisterwahlen in den grossen Städten Rom, Mailand, Bologna und Neapel.
Am 13. Januar 2021 wurde die zweite Regierung Conte, die aus den Cinque Stelle und den Sozialdemokraten bestand, vom früheren Ministerpräsidenten Matteo Renzi gestürzt.
Wieder nichts
Wieder hoffte Salvini, dass Staatspräsident Mattarella Neuwahlen ausschreiben könnte. Und wieder kam es anders.
Mattarella beauftragte den «Technokraten» Mario Draghi, den früheren Chef der Europäischen Zentralbank, mit der Bildung einer Koalitionsregierung. Salvini erhielt keinen Ministerposten.
Und dann kam Corona, und Salvini gab ein klägliches Bild ab.
Das Interesse an ihm verblasste. Auch innerhalb seiner eigenen Partei formierte sich Widerstand. Sein Foto wurde da und dort aus dem Wahlemblem der Lega verbannt.
Jetzt auch noch ein Prozess. In Catania auf Sizilien musste er wegen Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauchs vor Gericht erscheinen. Er hatte dem Flüchtlingsschiff «Open Arms» mit 130 Migranten an Bord sechs Tage lang das Anlegen in einem italienischen Hafen verweigert. Der Senat hob seine Immunität auf, eine Demütigung sondergleichen.
Lockdown, ein «terroristisches Komplott» der Regierung
Und dann kam Corona, und Salvini gab ein klägliches Bild ab. Wie Trump und Bolsonaro sprach er von einem «Grippchen» und machte sich über die Maskenpflicht lustig. Den Lockdown bezeichnete er als «terroristisches Komplott» der Regierung, um die Leute daran zu hindern, auf den Strassen für ihn und gegen die Regierung zu protestieren.
In den Meinungsumfragen begannen seine Beliebtheitswerte arg zu bröckeln. Aus 38 Prozent im Sommer 2019 wurden 24 Prozent im Sommer 2021.
Und noch ein Coup Salvinis misslang. Die Amtszeit von Staatspräsident Sergio Mattarella lief im Februar 2021 aus. Der Staatspräsident wird vom Parlament gewählt. Salvini hatte einen Plan. Er wollte eine Allianz zwischen seiner Lega und Berlusconis Forza Italia zimmern. Zusammen hätten die beiden im Parlament einiges Gewicht. Salvini schlug vor, den 85-jährigen Berlusconi zum Staatspräsidenten zu wählen – und er, Salvini, würde dann zum Ministerpräsidenten erkoren.
Doch: wieder nichts. Berlusconi wurde nicht Staatspräsident und Salvini nicht Ministerpräsident. Mattarella verlängerte seine Amtszeit.
Shootingstar Meloni
Salvinis Abstieg hat viel mit dem Aufstieg einer anderen populistischen Partei zu tun, der aus den Postfaschisten hervorgegangenen Fratelli d’Italia. Sie wird geführt von der energischen Giorgia Meloni. Ihr Handicap ist, dass sie vom rechtsextremen Geruch nicht los kommt. Viele ihrer Anhänger und Anhängerinnen sind alte und neue Faschisten. Bisher hat sie sich nicht deutlich vom Neofaschismus distanziert.
Sie war die einzige, die sich als Oppositionsführerin aufspielen konnte, da sich die Fratelli als einzige Partei weigerten, der Draghi-Koalition beizutreten. Und: Meloni ist gewiefter als der plötzlich etwas plump wirkende Salvini. Viele einstige Salvini-Anhänger wechselten nun zu Meloni, die in den Umfragen zulegte.
Zu allem Übel kam der Ukrainekrieg. Plötzlich wurden Salvinis enge Verbindungen zu Putin dem italienischen Publikum drastisch vor Augen geführt. Fast in allen Medien wurde ein Foto von Salvini gezeigt, das ihn auf dem Roten Platz abbildet – gekleidet mit einem T-Shirt mit Putins Konterfei.
2017 hatte Salvini gesagt: «Zehn Jahre Putin in Italien, dann hätten wir Ordnung.» Und 2019: «Lasst mich sagen, dass Putin einer der besten Regierungschefs der Welt ist, zusammen mit Trump.»
Für einiges Aufsehen in Italien hatte gesorgt, dass die Kreml-Partei Einiges Russland ein «Partnerschaftsabkommen» mit Matteo Salvinis Lega eingegangen war.
«Putin ist ein Geschenk Gottes und verdient den Friedensnobelpreis.»
Später tauchte Salvini in einer Bar des Moskauer Hotels Metropol auf und soll – so besagen es mehrere Indizien – mit Emissären des Kreml über eine Mitfinanzierung des Lega-Wahlkampfs für die Europa-Wahlen verhandelt haben. Salvini sagte, er habe «keinen einzigen Rubel» erhalten. Vielleicht aber einige Euro.
«Putin ist der fähigste Staatsmann der Welt», hatte Salvini geschwärmt. Der russische Präsident sei «ein Geschenk Gottes» und verdiene den Friedensnobelpreis.
Wenn die Regierung nicht vorher zerbricht, finden im kommenden Frühjahr in Italien Wahlen statt. Dann wird das verkleinerte Parlament neu gewählt. Die Zeit des parteilosen Mario Draghi läuft dann ab.
Die drei Rechtsparteien, die Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni, die Lega von Matteo Salvini und Forza Italia von Silvio Berlusconi verfügen zur Zeit lauf Umfragen zusammen über eine klare Mehrheit. Bleibt das so, wird die Rechte die künftige Regierung bilden – und den Ministerpräsidenten stellen. Oder eben: die Ministerpräsidentin.
«Confusione»
Seit längerem herrscht im rechten Haifischbecken «Confusione» und ein verstecktes Alle-gegen-Alle. Gegen aussen geben sie sich als beste Freunde, doch Meloni mochte Salvini nie. Salvini mag Meloni nicht, und Berlusconi mag beide nicht.
Die Fratelli-Chefin stellt sich nicht ganz zu Unrecht auf den Standpunkt, dass die stärkste Partei innerhalb des rechten Blocks den Regierungschef stellen sollte. Das wäre dann – Stand heute: sie selbst. Sie sagt unverblümt offen: «Ich will Regierungschefin werden.» Nur: Das gefällt weder Berlusconi noch Salvini, der dann wieder nicht zum Zuge käme.
Es sieht nicht gut aus für ihn. Politisch zustande gebracht hat Salvini eigentlich gar nichts.
Dem Super-Populisten, arrogant und überheblich, leicht rassistisch und rechtsextrem, schien das Land vor drei Jahren zu Füssen zu liegen. Der Personenkult, den er entwickelte, nahm Züge an, die an frühere italienische Zeiten erinnerten. Keiner beherrschte die populistische Klaviatur so gut wie er. Er war omnipräsent. Täglich veröffentlichte er teils Dutzende Tweets und Videos; in den sozialen Medien hat er Millionen Follower. Einen Journalisten, der ihm eine kritische Frage stellte, kanzelte er ab mit den Worten «Sei un maleducato» (Du bist ein Flegel) und lief ihm davon.
Jetzt ist er kleinlaut geworden. Laut der am Samstag vom «Corriere della sera» veröffentlichten Isop-Umfrage ist Meloni – nach Mario Draghi – die beliebteste Politikerin Italiens. Salvini folgt abgeschlagen auf Platz acht. Melonis Fratelli d’Italia kämen bei den Parlamentswahlen auf 20 Prozent der Stimmen und Salvinis Lega auf 15 Prozent. Das sind 24 Prozent weniger als vor drei Jahren.
Hochmut kommt vor dem Fall.
Parteienstärke
Sozialdemokraten (PD, Enrico Letta) 20,8%
Fratelli d’Italia (Giorgia Meloni) 20%
Lega (Matteo Salvini) 15%
Cinque Stelle (Giuseppe Conte) 12,1%
Forza Italia (Silvio Berlusconi) 9,8%
Umfrage Isop vom 2. Juli 2022, veröffentlicht im «Corriere della sera»