Ein Aufenthalt im Berner Oberland gibt dem Verfasser Anlass, die historischen Spuren seiner Familie zu erforschen. Sie gründen in der Geschichte der Walser, jenes faszinierenden Bergvolks, das im Kampf ums Überleben in vielen Regionen der Alpen und weit darüber hinaus heimisch wurde.
Obschon Bürger von Unterseen und damit Berner Oberländer, kenne ich die Heimat meiner Vorfahren fast nur als Hotspot des internationalen Alpentourismus. Und diesen assoziiert man heutzutage unweigerlich mit «Overtourismus» – also mit etwas, das man besser meiden sollte.
Mein jüngerer Bruder und seine Frau, beide einst im Berner Tourismus tätig, haben uns als Geschenk für eine Woche ihre Wohnung in Wengen zur Verfügung gestellt. Und jetzt sind wir also hier, für Überraschungen empfänglich, neugierig und – im weitesten Sinne – auf der Suche nach Spuren, nach persönlichen und allgemeinen, nach physisch konkreten und historisch abstrakten.
Zum Wort «Spur» sagt der Duden: mittelhochdeutsch spur, spor, althochdeutsch spor, eigentlich Fussabdruck.
Nach einem Fussabdruck meiner Vorfahren zu suchen, wäre wohl sogar für Winnetou und Old Shatterhand ziemlich schwierig. Aber vielleicht gäbe es ja noch andere Spuren, zum Beispiel auf der Anreise mit der Eisenbahn, welche im Holländischen «spoorbaan» heisst und mich daran erinnert, dass auf der Fahrt vom Zürichsee nach Wengen die Spur(-weite) laufend abnahm, von der Normalspur (1435 mm) über die Schmalspur (1000 mm) auf die 800 mm der Wengneralpbahn. Ist das vielleicht ein versteckter Hinweis darauf, dass die Spur meiner Vorfahren eng gewesen ist? – Vielleicht erinnert er uns daran, dass die Spur der Schweizer Bergbauern schon immer schmal gewesen ist, auch wenn wir uns heute an die karge Vergangenheit der Schweiz nicht so gerne erinnern.
Die Imboden sind ein altes Walser Geschlecht. Wie viele Walser verdanken sie ihren Namen jenem Ort, wo sie einst siedelten, nämlich im (Tal-)Boden der Matter Vispa bei St. Niklaus. Seit mein Vater mir erstmals von den Walsern erzählt hat, bin ich von diesem zähen Bergvolk fasziniert. Also kein Zufall, dass ich an dieser Stelle schon einmal über die Walser berichtet habe, im Mai 2022 anlässlich eines Besuches in Bosco/Gurin im obersten Rovanatal, einem Seitental des Maggiatals, wo bis heute Walserdeutsch gesprochen wird.
Die richtigen Imboden seien Walliser und katholisch, belehrten mich einst drei Studierende der Elektrotechnik, die alle den Namen Imboden trugen und welche es zusammen mit zwanzig andern Studierenden in mein Seminar über Technik und Umwelt verschlagen hatte. Es brauchte zwar etwas Angewöhnung, bis im «Imboden-Seminar» die katholischen Walliser den protestantischen Berner Oberländer Walser, der überdies eine Mischung aus Basler und Zürcher Dialekt sprach, als ihresgleichen akzeptiert hatten. Aber danach lernten wir gegenseitig viel voneinander, nicht nur über Energie- und Nahrungsautarkie, sondern auch über die Geschichte der Walser.
Die Walser sind alemannischen Ursprungs. Wahrscheinlich haben sie im 9. Jahrhundert vom Berner Oberland aus zuerst das Goms und später auch andere Teile des oberen Rhonetals besiedelt. Sie müssen Meister gewesen sein im Überleben in höhergelegenen Bergregionen, wo sich andere Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel die Rätoromanen, bisher nicht niedergelassen hatten. Und sie waren kinderreich, füllten neue Siedlungsräume rasch und wurden dadurch auch immer wieder Opfer ihres eigenen Erfolges.
Im 13. und 14. Jahrhundert sahen sich wegen des enger werdenden Platzes viele Walser Familien genötigt, anderswo nach Lebensraum zu suchen, so in Graubünden (z. B. Safiental, Landschaft Davos, Surselva), im Piemont südlich des Monte-Rosa-Gebietes, in Liechtenstein, Vorarlberg, Südbayern und im Tirol. Auch im Berner Oberland, aus dem sie einige Jahrhunderte zuvor gekommen waren, gründeten sie Niederlassungen, so Mürren und Gimmelwald. Zuhinterst im Tal der Weissen Lütschinen wurde der Weiler Ammerten gegründet. Heute erinnern nur noch wenige Mauerresten sowie der Flurname Ammerta an das einstige Walser Dorf, welches immerhin während rund 500 Jahren bewohnt gewesen ist. Doch davon später.
Der Oberländer Imboden-Ast gelangte erst viel später und auf anderem Weg nach Unterseen. Nicht Mangel an Lebensraum war der Grund für das Auswandern gewesen, sondern konfessionelle Auseinandersetzungen. Diese hatten im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert die Schweiz und weite Teile Europas in blutige Kriege gestürzt. Tatsächlich war um 1560 das Wallis praktisch vollständig zum neuen reformierten Glauben übergetreten. Um 1630 erreichte die Gegenreformation das Oberwallis und brachte dieses wieder unter den katholischen Glauben, was offenbar viele Walser Familien spaltete. Wer am reformierten Glauben festhielt, wurde zum Auswandern genötigt.
Die reformierten Imboden zogen über die Grimsel ins Haslital, wo sie sich zuerst in Guttannen niederliessen und später bis in die «Oberländer Hauptstadt» Unterseen vorwagten. Dort erhielten sie das Bürgerrecht, wurden Gewerbetreibende, Lehrer, Filmer, Velorennfahrer und gehören heute zu den sechzehn «alteingesessenen» Familien von Unterseen. Mein Grossvater Karl Imboden (1880–1941), geboren in Unterseen, war meines Wissens der erste Imboden mit einem Universitätsabschluss. Nach seiner Heirat mit der Kinderärztin Frida Kaiser war er in St. Gallen als Psychiater tätig.
Hatte ich eingangs nicht etwas von Spurensuche verlauten lassen? – Plötzlich realisiere ich, dass sich die Spur der Helden meiner Jugend, der zähen, genügsamen, pionierhaften Walser, denen ich im Berner Oberland zu begegnen gehofft hatte, buchstäblich unter meinen Augen verflüchtigt hat. Da kam mir glücklicherweise die Bibliothek meiner Schwägerin zu Hilfe. Dort stiess ich auf das Buch von Therese Bichsel, dessen Titel mich sofort packte: ‚Die Walserin’ (Zytglogge, 2016). Darin verknüpft die Autorin das Leben dreier Walser Frauen und ihrer Familien. Die erste Figur, eine Barbara des 14. Jahrhunderts, ist zwar erfunden, aber sie basiert auf den damaligen Wanderbewegungen der Walser. Im Gegensatz dazu ist die Existenz von Elisabeth und Anna, welche im 19. bzw. 20. Jahrhundert von Iselfluh im vorderen Lauterbrunnental in den Kaukasus ausgewandert waren, anhand von Briefen und andern Zeugnissen dokumentiert. Nach der Russischen Revolution wurden die Familien enteignet. Die einen zogen nach Kanada weiter (Elisabeth), andere kehrten in die Schweiz zurück (Anna).
Was die drei Figuren verbindet, ist der Name des schon erwähnten Weilers Ammerten bzw. der daraus entstandene Familienname Ammeter. Es sind drei interessante Lebensgeschichten, welche vom zähen Willen und der schier unerschöpflichen Arbeitskraft zeugen. Ich werde mich auf meiner gedanklichen Wanderung vom Lötschental nach Unterseen auf das Leben der spätmittelalterlichen Barbara beschränken müssen; wer mehr erfahren möchte, konsultiere Therese Bichsels Buch.
Anfangs des 14. Jahrhunderts beschliessen die wegen Raumnot auf die Schattenseite des Lötschentals verbannte junge Frau Barbara und ihr Mann nach einer Lawinenkatastrophe zusammen mit anderen Familien mit Sack und Pack, Kleinvieh und Saatgut und vielem mehr über die von ewigem Schnee und Eis bedeckte, zwischen Breithorn und Tschingelhoren gelegene, fast 3200 Meter hohe Wätterlicka ins Lauterbrunnental auszuwandern. Im Gebiet des heutigen Schiirboden, etwa 1400 Meter hoch gelegen, lassen sie sich nieder. Es ist früher Sommer, und es bleibt nur wenig Zeit, aus Lärchenstämmen Häuser zu bauen, Roggen anzupflanzen und genügend Heu zu ernten, um Mensch und Tier über den Winter zu bringen. Der Weiler wird in Anlehnung an den lokalen Namen für die Blüten der Vogelkirsche Ammerten genannt.
Später im Jahr kehren einige Männer nochmals über die Wetterlücke zurück, um im Lötschental ihre Kühe zu holen. Auf dem Rückweg stürzt Barbaras Mann in eine Gletscherspalte. Eine Rettung ist unmöglich; sein Leichnam wird erst viele Jahre später vom Eis freigegeben. Barbara hat während der Abwesenheit ihres Mannes einen Buben geboren und kann sich nachher als alleinstehende Frau in der stark patriarchisch geprägten Gesellschaft nur schwer behaupten. Dank ihres grossen medizinischen Wissens, das sie sich im Laufe der Zeit aneignet hat, wird sie als «weise Frau» und Hebamme schliesslich von der kleinen Gemeinschaft von Ammerten akzeptiert.
Die Autorin beschreibt den Alltag der Siedler und wie sie sich im neuen Umfeld organisieren. Auch wenn sie ihren Weiler im scheinbaren Niemandsland aufgebaut haben, so unterstehen sie doch der Obrigkeit von Unterseen und derjenigen der katholischen Kirche. Letzteres bedeutet, dass sich die Siedler jeden Sonntag auf den langen Weg in die nächstgelegene Pfarrkirche von Gsteig am Ausgang des Lütschinentals machen, gute zwanzig Kilometer Hinweg und ebenso viel Rückweg, nur dass es am Abend bergauf geht. Damit ist der als Ruhetag gemeinte Sonntag voll ausgefüllt.
Es gibt nur wenig Information über die Geschichte von Ammerten. Immerhin überlebte der Weiler trotz der abgelegenen und für die Landwirtschaft nicht gerade günstigen Lage bis Mitte des 19. Jahrhunderts, also während mehr als 500 Jahren. Einige Familien müssen später in das gegenüber von Wengen gelegene Iselfluh gezogen sein; darauf deutet der Name Ammeter hin, welcher bis heute in Iselfluh häufig ist. Als im 19. Jahrhundert auch dort der Platz eng wird, wandern viele Familien nach Russland und später nach Kanada. Diesem Teil der Geschichte widmet Therese Bichsel den andern Teil ihres Buches.
Als ich vor einigen Tagen von Stechelberg entlang der Lütschine – sie soll ihren Namen von den Auswanderern aus dem Lötschental erhalten haben – nach Lauterbrunnen wanderte, vorbei an vollen Parkplätzen und prachtvollen, blumengeschmückten Häusern, den Arbeitern zuschaute, die in luftiger Höhe mit dem Bau der neuen Seilbahn nach Mürren und aufs Schilthorn beschäftigt waren, in Lauterbrunnen das emsige Treiben der Menschen betrachtete, welche hier von der Berner Oberlandbahn auf die Wengneralpbahn oder auf die Seilbahn zur Grütschalp und weiter nach Mürren umstiegen oder mit ihren Elektro-Mountainbikes die engen Bergwege unsicher machten, sah ich vor meinem inneren Auge ein Trüppchen das Tal hinunterkommen, angeführt von der weisen Barbara auf dem Weg in die Pfarrkirche zu Gsteig. Was würden die Ammerter heute wohl sagen, wenn sie einen Blick auf das muntere touristische Treiben werfen könnten?