Früher war alles besser. Vor dreissig Jahren konnte sich Ihr Korrespondent in der chinesischen Hauptstadt zwar frei bewegen. Nicht selten jedoch folgte meist ziemlich auffällig ein Auto ohne Nummernschilder. Alle wussten, es war die Staatssicherheit. Wie chinesische Kollegen mir, schon damals schmunzelnd, berichteten, mussten sie nach jeder Begegnung mit dem ausländischen Journalisten einen ziemlich detaillierten Bericht verfassen.
Doch in den späten Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts ging dieser schöne Brauch verloren. Der ausländische Journalist bewegte sich frei und ab den Olympischen Spielen in Peking 2008 freier in der Hauptstadt und im ganzen Lande – mit Ausnahme natürlich von Tibet.
«Nützliche Hinweise»
Jetzt sollen die Schräubchen offenbar wieder angezogen werden. Seit neuestem belohnen die besorgten Behörden Chinesinnen und Chinesen für die «Enttarnung ausländischer Spione». Für «nützliche Hinweise» spendieren die Sicherheitsbehörden zwischen 10‘000 und 500‘000 Yuan oder umgerechnet zwischen 1‘450 und 72‘000 Franken. Wachsame Bürgerinnen und Bürger können die Hinweise per Post an die Amtsstellen schicken oder eine Hotline anrufen. Auch eine persönliche Vorsprache auf dem Sicherheitsbüro ist möglich.
Aber Achtung, falsche Anschuldigungen werden bestraft. Ob bei «nützlichen Hinweisen» auch Ausländer bezugsberechtigt sind, ist aus der Mitteilung der Sicherheitsbehörden nicht ersichtlich.
«Gefährliche Liebe»
Die neuen Massnahmen kommen nicht von ungefähr, denn – so die amtliche Mitteilung – «inzwischen haben auch ausländische Spionagedienste und andere feindliche Kräfte ihre störenden Aktivitäten in China intensiviert». Besonders gefährlich: «einige chinesische Staatsbürger» würden «ihre Nation verraten» und mit ausländischen Diensten zusammenarbeiten.
Primärer Standort für solch perfide, illegale und unpatriotische Aktivitäten ist nach Ansicht der Staatssicherheit die Hauptstadt Peking. Bereits im vergangenen Jahr warnte auf einem in den Strassen angebrachtes Comic-Plakat Chinesinnen vor «gefährlicher Liebe», d. h. sogenannten ausländischen «Romeo-Agenten».
«Falsche Trends»
Es musste ja so kommen. In weiser Voraussicht hat die allwissende KP in einem vertraulichen Papier der Parteileitung bereits im Frühjahr 2013 auf sieben «falsche ideologische» Trends und Konzepte hingewiesen. Darunter fallen der «westliche Verfassungsstaat», die «universellen Werte», «Bürgerbeteiligung», «Neoliberalismus», das Prinzip des «westlichen Journalismus», «historischer Nihilismus» und «Hinterfragung der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik».
Gerade mit der Öffnungspolitik schwappen westliches Gedankengut und okzidentale Werte ins Reich der Mitte. Über Cyberspace etwa trotz zensiertem und eng überwachten Internet. Dazu kommen Hunderttausende von chinesischen Studenten und Studentinnen, die im westlichen Ausland, vornehmlich in den USA, Universitäten besuchen. Darunter auch Kinder der hohen und höchsten KP-Funktionäre. Die Tochter von Staats- und Parteichef Xi Jinping zum Beispiel studierte erfolgreich an der Harvard-Uni in Boston.
0,06 Prozent
Nun gibt es ja nicht gerade viele Ausländer in China. Bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 1,4 Milliarden leben nicht ganz 800‘000 Ausländer in der Volksrepublik. Das entspricht einem Ausländeranteil von 0,06 Prozent (Ausländer in der Schweiz: 24,9 Prozent). Darunter 608 Schweizer und Schweizerinnen in Peking, 898 in Shanghai, 208 in Kanton und 2‘275 in Hong Kong. Das sind summa summarum rund 4‘000 in ganz China.
Verglichen mit den rund 17‘000 Chinesinnen und Chinesen in der Schweiz ein Pappenstiel. In den Zahlen nicht enthalten sind Touristinnen und Touristen. Da kann natürlich der eine oder andere Tourist als simpler Reisender verkleidet hemmungslos spionieren.
Auf der Hut
Die traditionellen Nachbarschafts-Komitees – meist ältere Frauen und Männer mit einer roten Armbinde – werden nun wie immer flächendeckend noch genauer hinschauen, wer was in den Gassen und auf den Strassen treibt. Schliesslich winkt eine ansehnliche Summe bei erfolgreicher Spionenjagd. Ein besonderes Augenmerk gilt da – wie in China verächtlich gesagt wird – den Langnasen.
In der Pekinger Altstadt im Goldfisch-Hutong wurde Ihr Korrespondent neulich von Frau Wang mit der roten Armbinde angehalten. «Was machen Sie da», wollte die alte Bekannte freundlich aber bestimmt wissen. Antwort: «Die schöne Goldfisch-Gasse fotografieren.» Buddha sei Dank wusste Frau Wang, dass ich Journalist und nicht Spion bin. Oder beginnen sich die Berufsgrenzen in der Spionage-Paranoia bereits zu verwischen?
Ihr Langnase-Korrespondent ist fortan jedenfalls auf der Hut. Wenn jemand früher in Peking nach dem Beruf fragte, war die Antwort meist ein ironisches «Journalist, sehr gefährlich». Ein Lacher war gewiss. Doch heute verbieten sich solch lockere Scherzchen von selbst.