Mag sein: Diese kommenden, wegen Covid-19 von März auf Juni verschobenen Regionalwahlen, werden mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2022 nur bedingt aussagekräftig sein. Traditionell gibt es vor allem bei der Wahlbeteiligung eine riesige Diskrepanz. Wenn bei den Regionalwahlen 50 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen gehen, so sind es beim Kampf um das Präsidentschaftsamt, der Mutter aller Wahlen in diesem hyperzentralisierten, präsidial regierten Frankreich, immer noch rund 80 Prozent.
Und doch: Verfolgt man diesen Regionalwahlkampf, der wegen Corona immer noch so gut wie nur in den Medien stattfindet, darf man für das darauf folgende Präsidentschaftswahljahr wenig Gutes ahnen.
Letzte Meinungsumfragen
Zehn Tage vor dem ersten Wahlgang in den Regionen kommen die traditionellen Konservativen von der Partei «Les Républicains» und die extreme Rechte von Marine Le Pen mit ihrem «Rassemblement National» in den Meinungsumfragen landesweit gemeinsam auf über 50 Prozent.
In der nordfranzösischen Region «Hauts de France» mit der Metropole Lille auf mehr als 60, in der Mittelmeerregion «Provence-Alpes-Côte d’ Azur», sogar auf über 70% der Stimmen. Am Mittelmeer, mit den wichtigen Grossstädten Marseille und Nizza, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass die extreme Rechte nach dem 27. Juni erstmals in der Geschichte Frankreichs eine Region regieren wird. Ihr Spitzenkandidat, Thierry Mariani, ist im Übrigen ein Überläufer von den Konservativen. Gut zwei Jahrzehnte lang sass er einst für die Partei «Les Républicains» in der französischen Nationalversammlung bzw. im Europaparlament.
Mehr als 50 Prozent der Stimmen also für die Rechte und extreme Rechte im ganzen Land, ohne dass dabei die Listen der Präsidentenpartei «La République en Marche» (LREM) mitgezählt wären. Emmanuel Macrons Mitstreiter, die auch nach mehr als vier Jahren lokal und regional an der Basis fast nirgendwo wirklich verankert sind, dürfen mit gerade mal 13 Prozent der Stimmen rechnen und werden in den kommenden fünf Jahren mit Sicherheit in keiner einzigen der zwölf französischen Regionen federführend sein.
Und die Linksparteien – die Überreste der Sozialisten, «La France Insoumise» des Linksaussen Mélenchon und die Grünen, die fast nirgendwo eine gemeinsame Liste zustande gebracht haben, rangieren unter «ferner liefen», erreichen jeweils gerade mal 10 bis 12 Prozent.
Aufgewühlte Stimmung
Vor allem aber herrscht in den Wochen vor den Wahlen im Land ein reichlich angespanntes, von verbaler, ja auch von physischer Gewalt begleitetes Klima, in dem gleich eine ganze Reihe von Dämmen zu brechen scheinen.
Ein höchst symbolisches Bild davon lieferte die Aktualität gerade erst an diesem Dienstag. Präsident Macron, der sich am Wochenende zu einer «Tour de France» aufgemacht hatte, um, wie es hiess, «nach über einem Jahr der Pandemie den Puls des Landes zu fühlen» – er bekam ihn prompt in Form einer Ohrfeige zu spüren.
Nach dem Besuch einer Hotelfachschule im südfranzösischen Tain l’Hermitage an der Rhône, eilte der Präsident zum Händeschütteln an die Absperrungen, wo ihn prompt der erste Zaungast etwas unsanft an der linken Wange berührte. Dabei stiess der Täter einen royalistischen Schlachtruf aus, der auf das 12. Jahrhundert zurückgeht und heute in der ultrarechten Szene als Erkennungszeichen gilt. Danach rief er die Parole «Nieder mit der Macronie». Dies wiederum erinnerte so manchen an die Monate dauernden, gewaltsamen Proteste der Gelbwesten vor über zwei Jahren.
Polizeidemo vor dem Parlament
Es herrscht in der öffentlichen Debatte Frankreichs eine aufgewühlte Stimmung, in der selbst gestandene Politiker, bis hin zum amtierenden Innenminister, in einem Anflug von Hysterie in Sachen innere Sicherheit keine Skrupel mehr zu haben scheinen, auch an grundlegenden, rechtsstaatlichen Prinzipien zu kratzen.
Beispiel 1:
Nachdem in Frankreich innerhalb weniger Wochen zwei Polizisten während ihres Dienstes getötet worden waren – der eine von einem Drogendealer, seine Kollegin von einem psychisch Gestörten, der radikalislamistische Parolen rief –, hatten Polizeigewerkschaften zu einer Grossdemonstration vor der französischen Nationalversammlung in Paris aufgerufen. Just am Tag, da die Parlamentarier im Inneren des Hohen Hauses über ein neues Sicherheitsgesetz und eine Justizreform debattierten.
Jede Demonstration, die sich auf ein Parlament zubewegt, hat in einer Demokratie ohnehin etwas Anrüchiges und Bedrohendes. Ganz besonders aber, wenn es sich um die Demonstration eines Berufsstandes handelt, dem diejenigen angehören, die über die demokratische Ordnung eines Landes zu wachen haben. Vertreter der radikalsten Polizeigewerkschaften, die aus ihrer Nähe zur extremen Rechten von Marine Le Pen mittlerweile keinen Hehl mehr machen, hielten bei dieser Demonstration hasserfüllte Reden gegen die angeblich zu lasche Justiz, ja erklärten diese schlicht zu ihrem Feind.
Und wer bitte war bei dieser im Grunde skandalösen Demonstration höchstpersönlich dabei? Frankreichs Innenminister, Gérald Darmarin, mit dem Argument, er sei nun mal der oberste Chef der Ordnungskräfte und demonstriere hier nur seine Solidarität mit den geplagten Polizisten.
Doch es sollte sogar noch schlimmer kommen. Als die sozialistische Spitzenkandidatin für die Grossregion Paris davon sprach, dass es ihr beim Anblick der Polizeidemonstration vor dem Parlament kalt den Rücken heruntergelaufen sei, erklärte der Innenminister doch tatsächlich, er werde diese Frau wegen Diffamierung und Verunglimpfung der Polizei verklagen. Er wusste von vorneherein, dass er mit dieser hanebüchenen Klage keine Chance haben würde, jedoch hatte er über Tage hinweg das von ihm offensichtlich gewünschte Gedöns in der Öffentlichkeit.
Gérald Darmarin, einst ein politischer Ziehsohn von Nicolas Sarkozy, war von Präsident Macron vor einem Jahr mit Blick auf die kommenden Präsidentschaftswahlen auf Grund seiner strengen Law-and-Order-Positionen sehr bewusst angeheuert worden, in der Hoffnung, mit ihm 2022 möglichst viele rechte Wähler in sein angeblich sowohl linkes, als auch rechtes Boot zu holen. Von daher darf es nicht verwundern, dass der Präsident, und als solcher oberster Hüter der französischen Verfassung, sich zum dubiosen Auftritt seines Innenministers bei der Polizeidemonstration mit keinem Wort geäussert hat, und schon gar nicht mit einem kritischen Wort.
Beispiel 2:
Nur wenige Tage nach der Demonstration der Polizisten machte der Vizepräsident der konservativen Partei «Les Républicains», Guillaume Peltier, von sich reden. Er forderte nichts weniger als die Einrichtung eines «Sicherheitsgerichtshofes» (cour de sûreté) für radikalisierte Islamisten. Eine Ausnahmejustiz, die bei «erwiesenem Verdacht», dass jemand ein Attentat begehen wolle, erlauben soll, eine Person präventiv festnehmen zu können, ohne Recht auf Berufung.
Ausserdem, so liess der Vizepräsident der französischen Konservativen mit Blick auf die Regionalwahlen wissen, halte er die so genannte «Republikanische Front» – ein Zusammengehen der traditionellen politischen Parteien, ob links oder rechts, um einen Sieg der rechtsextremen Le Pen Partei zu verhindern – schlicht für eine Betrügerei.
Und letztendlich, so Peletier, fände er auch Robert Ménard, den von der Le-Pen-Partei unterstützten Bürgermeister der südfranzösischen Stadt Béziers, durchaus in Ordnung und teile dessen Überzeugungen. Ein Bürgermeister, der in den letzten Jahren wiederholt wegen rassistischer und ausländerfeindlicher Ausfälle für Aufsehen gesorgt und vor Gericht zu erscheinen hatte und seit Jahren aktiv daran arbeitet, zwischen den Konservativen und den extremen Rechten Brücken zu bauen. Ganz im Sinne von Marine Le Pen, die seit einem guten Jahrzehnt davon träumt, die Partei der klassischen Konservativen zu zerschmettern.
Peltier, der seine politische Karriere bei der Jugendorganisation von Le Pens damaliger «Front National» begonnen hatte und mit seiner alten politischen Heimat offensichtlich erneut zu liebäugeln scheint, musste sich von der alten Garde der Konservativen zwar herbe Kritik gefallen lassen, zum Rücktritt von seinem Amt des Vizeparteipräsidenten hat ihn aber niemand aufgefordert.
Denn letztlich verkörpert der Newcomer vom rechten Rand inzwischen einen Teil der postgaullistischen Partei «Les Républicains», welche sich heute mehr oder weniger offen für eine Annäherung an Le Pens «Rassemblement National» ausspricht. Und dies ist eine echte und inzwischen ernsthafte Zerreissprobe für Frankreichs traditionelle, konservative Partei, in der ein anderer Teil – siehe der derzeitige Innenminister – bereit ist, den entgegengesetzten Weg zu gehen und mit Präsident Macron und seiner Partei «La République en Marche» gemeinsame Sache zu machen. Man braucht nicht auf Frankreichs Eliteschulen gewesen sein, um sich vorzustellen, was am Ende dieser tendenziellen Entwicklung von dieser konservativen ehemaligen Volkspartei «Les Républicains» (früher RPR oder UMP) noch übrigbleiben wird.
Linksaussen Mélenchon verrennt sich
In diesem Klima der heruntergekommenen politischen Diskussionskultur leistete dann auch noch der Chef der französischen Linkspartei, Jean-Luc Mélenchon, einen ganz besonders peinlichen Beitrag.
Am Ende eines langen Radiointerviews prophezeite er der staunenden Hörerschaft, bei der Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr werde kurz vor dem Urnengang eine Art Attentat stattfinden, wie schon 2012, als der Islamist Mohamed Merah in Toulouse drei Soldaten und vier jüdische Kinder getötet hatte, oder 2017, als auf den Champs-Elysées ein tödliches Attentat gegen ein Polizeifahrzeug verübt wurde. Dass so etwas geschehen werde, stehe schon heute fest, so der Linkspolitiker im Brustton der Überzeugung.
Ein Ausrasten, eine billige Provokation oder ist Mélenchon unter die Komplottisten gegangen? Immerhin kandidiert dieser Mann, der jetzt suggeriert, irgendwelche dunklen Kanäle hätten bei zwei vorhergehenden Präsidentschaftswahlen mit Attentaten dafür gesorgt, dass die Wähler im letzten Moment für mehr Sicherheit und somit verstärkt für die Rechte stimmen, bereits zum dritten Mal für das höchste Amt im Staat und hatte 2017 im ersten Durchgang sogar 19 Prozent der Stimmen bekommen.
Armee auf Abwegen
Zu allem Übel hat in dieser aufgewühlten Atmosphäre der letzten Monate auch noch die französische Armee in unrühmlicher Art und Weise von sich reden gemacht. Sowohl ehemalige, als auch aktive Armeeangehörige haben gleich zwei Mal, im Abstand weniger Wochen, in öffentlichen Appellen zur Verteidigung der französischen Zivilisation aufgerufen, angesichts eines angeblich aufkeimenden bzw. drohenden Bürgerkriegs. Vielleicht sind es nicht mehr als Putschfantasien; für das Image der republikanischen Armee ist es aber allemal ein Desaster.
Zunächst waren es zwanzig pensionierte Generäle, die in einem namentlich unterzeichneten Text, in kryptofaschistischem, ultranationalistischem Tonfall gehalten, zur Verteidigung des Vaterlandes aufriefen. Der Regierung warfen sie Laschheit vor angesichts der Bedrohung des Landes durch den Islamismus und durch die Horden der Bewohner der Vorstadtghettos. Wörtlich, so die Generäle in Filzpantoffeln, wie sie von Kritikern bezeichnet wurden: «Frankreich ist in Gefahr. Wir bleiben Soldaten und können nicht ignorieren, was mit unserem schönen Land passiert.» Dieser Appell wurde in den Tagen darauf von hundert Offizieren und rund tausend weiteren Armeeangehörigen unterzeichnet.
Und der Tag der Veröffentlichung des Traktats war alles andere als zufällig gewählt. Es war der 21. April. An diesem Datum hatten im Jahr 1961 weit rechts stehende Generäle in Algier gegen De Gaulle und die kommende Unabhängigkeit Algeriens geputscht. Und an einem 21. April war im Jahr 2002 der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen im Kampf um das Präsidentenamt in die entscheidende Stichwahl gelangt.
Drei Wochen später, am Vorabend des 10. Mai 2021, 40 Jahre nachdem der damalige Chef der Sozialisten, François Mitterrand, zum Präsidenten der Republik gewählt worden war, erschien das 2. Manifest von Angehörigen der französischen Armee, das sich an den Staatspräsidenten, die Regierung und die Abgeordneten der Nationalversammlung richtete.
Darin geisselten derzeit noch aktive Soldaten anonym «das Chaos und die Gewalt, die derzeit im Land herrschen». Ein Aufruf, den angeblich mehr als 70’000 weitere Soldaten – natürlich ebenfalls anonym – unterzeichnet haben und in dem sich Sätze wiederfinden wie: «Wir müssen feststellen, dass in diesem Land der Hass auf Frankreich und seine Geschichte zur Norm geworden ist», oder: «Es geht nicht mehr darum, ob Sie, die Politiker, ihre Mandate zu Ende bringen oder neue Mandate anstreben, sondern es geht um das Überleben unseres und ihres Landes». Und dann auch noch der Satz: «Ja, wenn ein Bürgerkrieg ausbricht, dann wird die Armee auf ihrem eigenen Boden für Ordnung sorgen, weil man sie dazu aufrufen wird».
Veröffentlicht worden waren beide Aufrufe der Armeeangehörigen übrigens in der rechtsextremen Wochenzeitung «Valeurs Actuelles», die mittlerweile eine Auflage von mehr als 100’000 Exemplaren hat und gemeinsam mit dem Info-TV «CNews», das dem Grossindustriellen Vincent Bolloré gehört, zum Sprachrohr all derer geworden ist, die sich im Dunstkreis von Marine Le Pens «Rassemblement National» bewegen.
Letztere fand im übrigen nichts Anstössiges an den Appellen der Militärs und forderte diese prompt auf, sich doch ihrer Partei der Patrioten anzuschliessen. Diese Einladung war im Grunde wohl überflüssig. Denn es ist seit über einem Jahrzehnt allgemein bekannt, dass bei Urnengängen in den Wahlbüros, die in der Nähe einer Kaserne liegen, die Le-Pen-Partei ihre mit Abstand besten Ergebnisse erzielt, häufig zwischen 50 und 60 Prozent der Stimmen.