Der Zerfall des katholischen Milieus und das Hereinbrechen der Moderne reflektiert sich im regionalen literarischen Schaffen. Die Geschichte des Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellervereins ist unter dem Titel «Schneisen ins Heute» aufgearbeitet worden.
Das Alte lässt sich nicht auf Dauer vor dem Neuen retten. Diese Einsicht gehört zu den Axiomen der Moderne. Und dieses Neue hat auch die Innerschweiz im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts wie ein Wirbelwind mitgerissen: Ent-Traditionalisierung, Pluralisierung, Internationalisierung sind die Chiffren. Dieser Mentalitätswandel lässt sich auch an der Geschichte des Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellervereins (ISSV) darstellen. Sie ist das Abbild der jüngeren Zentralschweizer Literaturströmungen. Die Herausgeber Daniel Annen und Dominik Riedo, beides promovierte Germanisten, spiegeln anhand von poetischen Textbeispielen den Wandel des Denkens und Empfindens.* Zahlreiche Innerschweizer Autorinnen und Autoren erklären im persönlichen Rückblick den rapiden gesellschaftlichen Umbruch. Und ihren Aufbruch und Ausbruch aus der Enge. Dazu zählt beispielsweise Dominik Bruns Beitrag «Von einem Autor, der keinen Gott fand».
Nach dem Rhythmus der Kirchenglocken
Bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus ist die katholische Innerschweiz eine mental und soziokulturell weitgehend homogene, in sich gefestigte Welt. Die Kirche setzt die Akzente; das Religiöse prägt den Alltag und bestimmt den Jahreslauf. Da hinein gehören die Anfänge des ISSV. Ich selbst bin in diese Welt hineingeboren.
Aufwachsen und zur Schule gehen im katholisch geprägten Milieu des Städtchens Zug hiess gross werden im manichäischen Weltbild von gut und böse, fleissig und faul, korrekt und nonkonform, immer auch belastet mit dem bleischweren Gewicht der Sünde und dem Strafgericht Gottes als finaler Drohung. Das Weltgericht über dem Chorbogen in der Stadtzuger Kirche St. Oswald wies den Weg: hier die Gottesfürchtigen – dort die Sündigen.
Das imposante Bild des Jüngsten Gerichts, gemalt von Melchior Paul von Deschwanden, zeigt mit der Hierarchie von Himmel, Fegefeuer und Hölle die gottgegebene Vertikalspannung. Ein Leben fast nach dem Rhythmus der Kirchenglocken. Sie läuteten nicht nur, sie gaben auch den Ton an und setzten damit Werte und Normen. Religion und Tradition prägten den Alltag. Der sonntägliche Messbesuch war wie der Militärdienst: obligatorisch.
Das Messgewand über der Militäruniform
Aus dieser St. Oswaldkirche stammt die Reminiszenz des Zugers Max Huwyler (1931–2023). Als Ministrant begegnet der spätere Autor dem damals bekannten und anerkannten Jugend- und Volksschriftsteller Josef Konrad Scheuber (1905–1990). Manchen ist der Pfarrhelfer aus Attinghausen vielleicht noch als «Trotzli»-Dichter im Gedächtnis oder als Radioprediger unter dem Pseudonym Pilgrim.
Max Huwyler erzählt: «Es war Weltkriegszeit, ich war vielleicht zwölfjährig, hatte Altardienst in der Frühmesse um halb sieben. Ich kam in die Sakristei. Gelobtseijesuschrist. Und sah den fremden Körper. Ein Hauptmann in Uniform. So sah kein Geistlicher aus, der hier verkehrte. Ich zog meinen Ministrantenrock an. Und jetzt geschah etwas Eigenartiges. Der Hauptmann zog den langen weissen Rock über und dann das Messgewand. Vom Offizier sah man nur noch die Militärschuhe. Ich habe den Militärmann nicht mit dem Priester zusammengebracht. Besonders dann in der Messe nicht beim «Hoc est corpus meum». Man hat uns Ministranten beigebracht, was das heisst und dass der Priester bei diesem Satz eine ganz besondere Kraft hat. (…) Während der Messe hat mich der verkleidete Mann mehr beschäftigt als der arme gekreuzigte Heiland.»
Katholizismus und Patriotismus
Solche Geschichten prägen und beleben die Publikation. Sie spiegeln mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen und die Art, wie die Menschen und die Gesellschaft gesehen werden. So holen sie Denkweisen und Gefühlsbedrängnisse in die Gegenwart zurück. Sie belegen, wie der ISSV in seinen Anfängen dem Katholizismus und der vaterländischen Erinnerungskultur verbunden ist. Die beiden Gründungs-Triebfedern liegen im katholischen Milieu und in der geistigen Landesverteidigung mit ihrer Wertschätzung des Ländlichen.
Der Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein wird 1943 gegründet. Mitten im Zweiten Krieg, damals noch als ISV, als Schriftstellerverein. Zum ISSV wird der Zusammenschluss erst 1987. Zu Beginn der 80er Jahre öffnet er sich Neuem. Nun kommt auch die Mundart wieder zurück – allerdings nicht im Rahmen eines patriotischen Konservativismus, sondern als Material für Sprachspiele, als Spoken Word. Mundart wird zu MundArt. Das Spielerische wird bedeutsamer als das regional begrenzte Lob der Heimat wie in den Anfangsjahren des ISV. «Mundart als Aufbruch», wie André Schürmann seinen Beitrag überschreibt.
Mehr als eine Vereinsgeschichte – eine Mentalitätsgeschichte
Der gesellschaftliche Wandel in der Innerschweiz kommt spät, und er kommt grundsätzlich. Im wirtschaftlichen Boom der Nachkriegszeit und im zivilisatorischen Fortschritt der Moderne verliert die Tradition ihre stabilisierende Kraft. Die katholische Homogenität zerrinnt. Kontinuitäten in den Lebenswelten und Lebensstilen werden aufgebrochen, neue Ideen manifestiert und alternative Entwürfe realisiert. Die Zivilisationsdynamik führt innert kurzer Zeit zu einer pluralen, multikulturellen Gesellschaft.
Auch das zeigt die Publikation auf. Sie ist darum mehr als eine Vereinsgeschichte, mehr als ein Mix von Jahreszahlen und Personennamen. Anhand des ISSV skizziert das Buch eine auch für die Schweiz und die moderne Welt bedeutsame Mentalitätsgeschichte. Es sind «Schneisen ins Heute» – so der Buchtitel. Die Vergangenheit erscheint als Pfad in die Gegenwart. Doch manches bleibt bestehen, einfach mit anderen Vorzeichen.
Im Vorwort vermerkt der Herausgeber Daniel Annen, die heutige Reglementiererei in vielen Lebensbereichen erscheine wie eine säkulare Variante jenes Katholizismus, der mit seiner einseitigen Gebotsmoral die schweizerische «Frömmigkeit» bis in die Sechzigerjahre bestimmt hat. Mit der aktuellen «Juristifizierung und Reglementierung aller Lebensbereiche (…) kehrt sie heute auf andere Art zurück». Auch deshalb brauche es «die Gegenkraft der Literatur».
Daniel Annen und Dominik Riedo (Hg.): Schneisen ins Heute. Mentalitätswandel – Die Geschichte des Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellervereins ISSV als Abbild von Zentralschweizer Literaturströmungen. Pro Libro, Thun/Gwatt 2023
An der Buchvernissage diskutieren Franziska Geising, Daniel Annen, Dominik Brun und Thomas Zaugg aktuelle Problemfelder und Zukunftsperspektiven. Die Moderation des Gesprächs liegt bei Dominik Riedo. Der Anlass findet statt am Mittwoch, 31. Januar 2024, 19:00 Uhr im Literaturhaus lit.z in Stans.