Die Beobachtung des Sonnenaufgangs auf dem Pfannenstiel am letzten Tag des Jahres regt zum Denken an über die Rolle des Homo sapiens im Rahmen der Evolution und ruft Epikurs Grundsatz der Ataraxie (Gemütsruhe oder Gelassenheit) in Erinnerung.
Silvester 2021. Jemand scheint angeordnet zu haben (wem wohl können wir dafür die Verantwortung zuschieben?), die von Corona, dem Bundesrat, den Impfgegnern und Impfbefürwortern pausenlos geplagten Schweizerinnen und Schweizer an diesem letzten Tag des Jahres mit einem ganz besonderen Geschenk zu erfreuen: mit einem sonnigen Tag unter blauem Himmel bei frühlingshaften Temperaturen.
Noch in der Morgendämmerung fahren wir hinauf zum Pfannenstiel. Kaum haben wir beim Restaurant Hochwacht das Auto verlassen, schiessen rechts vom Mürtschenstock die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont. Es ist 8:27 Uhr. Für eine Welt ohne Hügel und Berge hätten die Astronomen den Sonnenaufgang für 8:13 Uhr prognostiziert. Die Glarner Berge spenden dem Zürcher Oberland etwas länger Schatten.
Wir spüren die ersten wärmenden Strahlen im Rücken, als wir am Aussichtsturm vorbei hinauf zur Feuerstelle am Waldrand wandern und beobachten, wie sich die Sonne vom Horizont löst und, wie von einem mutigen Ballonfahrer gesteuert, zielstrebig in den Morgenhimmel steigt.
Während wir schauen und schweigen, fliegen unsere Gedanken der Sonne hinterher, ziehen ihre individuellen Bahnen, machen Luft- und Seitensprünge und setzen sich schliesslich gesittet wieder zu uns auf die Bank, als ob sie sagen wollten: «Lasst uns weitergehen, die Sonne findet ihren Weg auch ohne uns, hat ihn immer schon gefunden, auch ohne Menschen.»
Das gedachte «Auch ohne Menschen» begleitet mich, als wir später auf den Höhen des Pfannenstiels nordwärts wandern. Der Wald liegt noch im Halbdunkel, doch die Sonne lässt die sich im Südwestwind wiegenden Wipfel einer Gruppe von Föhren vor dem blauen Himmel aufleuchten.
Mir kommt das Buch «Hybris» in den Sinn, das ich vor kurzem gelesen habe, in welchem der Archäogenetiker Johannes Krause und der Wissenschaftsjournalist Thomas Trappe anhand neuster Erkenntnisse aus der Genanalyse fossiler Knochen die Geschichte des Menschen auf seinem langen, weit verzweigten Weg vom Affen zum Homo sapiens neu erzählen (1). Unsere DNA enthalte, so die Autoren, den Beweis dafür, dass die «Reise der Menschheit zwischen Aufbruch und Scheitern» (Untertitel des Buches), welche vor mehreren Millionen Jahren in Afrika begonnen hat, weit komplizierter und verzweigter sei, als wir bisher geahnt hätten.
Genetischer Unfähigkeit zum Masshalten
Der Konkurrenzkampf des jüngeren Homo sapiens mit älteren Linien des Menschen, etwa mit dem Neandertaler oder dem später entdeckten Denisovaner, hätte anders ausgehen können. Auch vermischten sich die Linien offenbar immer wieder. So tragen wir in unserem Erbgut Gene der Neandertaler, und diese trugen Gene von uns. Offenbar hat unsere Linie von der genetischen Durchmischung mit den Neandertalern mehr profitiert als umgekehrt, denn letztere verschwanden vor ungefähr 40’000 Jahren – oder leben seither nur noch indirekt in den vom Homo sapiens übernommenen Genabschnitten weiter.
Wir aber, die erfolgreichen Konkurrenten, tragen das «Sieger-Genom» in uns, welches – dies die Rückseite der Siegermedaille – auch die Unfähigkeit zum Masshalten beinhaltet. Krause und Trappe formulieren das so: «... dass der Mensch unfähig ist, etwas zu unterlassen, zu dem er fähig ist.» Dieses Defizit – wir Konsummenschen meinen, es sei ein besonderes Laster der Gegenwart – begleitete den Homo sapiens offenbar schon immer. Nochmals Krause und Trappe: «... egal, wo sie [die modernen Menschen] auftauchten, dauerte es nicht lange, bis sämtliche Grossfauna verschwunden war.» – Gegenwärtig sind weniger die grossen Tiere dran, sondern die Rohstoffe, der Regenwald, das Wasser, das Klima und vieles mehr.
Während wir weiter über den Pfannenstiel wandern und an einem Stück Wald vorbeikommen, das vor einigen Jahren wegen des Borkenkäfers kahlgeschlagen werden musste, wird mir bewusst, dass der Buchtitel «Hybris», der auf Eigenschaften wie Überheblichkeit, Vermessenheit oder Selbstüberschätzung weist, nicht nur unsere Masslosigkeit kritisiert. Das Buch nimmt auch unser verzerrtes anthropozentrisches Bild aufs Korn, das wir uns von der zeitlichen Dynamik evolutiver Prozesse und von unserer Rolle und Bedeutung darin machen.
Aus Sicht von uns Menschen mag es verständlich und richtig sein, dass der Förster auf dem Pfannenstiel Kahlschlag verordnet hat. Doch er hat es nicht für das Überleben des Waldes an sich getan, sondern der Gesellschaft zuliebe, die sich an den Wanderweg über den Pfannenstiel gewöhnt hat und ganz allgemein den Wald als nützliche Ressource betrachtet.
Aussterben gehört zum Programm
Die Natur hätte Zeit gehabt und warten können, bis die Borkenkäferinvasion vorbei ist. Das hat sie auch bei grösseren «Katastrophen» getan, lange vor dem Auftauchen des Menschen – auch wenn dabei ein paar (oder gar sehr viele Arten) ausstarben; die Natur hat neue geschaffen. Das Aussterben gehört ohnehin zum normalen «Programm» der Evolution: Mehr als 90 Prozent der Arten, welche es je gegeben hat, sind ausgestorben.
Auch den Homo sapiens wird dieses Los eines Tages treffen, so wie es die andern Hominiden, die Neandertaler, die Denisovaner, den Homo floresiensis und alle andern getroffen hat. Es ist vermessen zu glauben, uns sei, in Zeiträumen von Jahrtausenden gerechnet, ein anderes Schicksal bestimmt. Der Homo sapiens ist noch keine zweihunderttausend Jahre alt, die Entstehung von Hochkulturen liegt gerade einmal 6000 bis 8000 Jahre zurück.
Die Sonne, die wichtigste Energie- und damit Lebensspenderin der Erde, wird noch mindestens fünf Milliarden Jahre scheinen und damit das Leben auf der Erde weiterhin in der einen oder andern Form ermöglichen. Der Mensch wird das Leben auf unserem Planeten nicht zerstören können, weder durch die Atombombe, die Klimaveränderung noch durch sonst etwas. Er wird höchstens der Evolution ein paar zusätzliche Kurven verpassen, wie es früher schon vulkanische Extremereignisse, Meteoriteneinschläge oder die Verschiebung der Landmassen (Plattentektonik) getan haben und auch in Zukunft wieder tun werden.
Wir sind unterdessen beim Waldhaus der Korporation Pfannenstiel angelangt, wo die schweren Maschinen nach der plötzlichen Schneeschmelze den Waldweg in Morast verwandelt haben. Auch meine Gedanken haben glitschiges Terrain erreicht. Vom schmalen Grat der Vernunft drohen sie entweder in die Schlucht der Zyniker und Hedonisten abzugleiten, wo die Sorge um unseren Planeten als nutzlose Hysterie abgetan wird, oder auf der Gegenseite in diejenige der Fundamentalisten, welche – oft nicht weniger absolut – das Leben der Menschen allein dem Ziel der «Planetenrettung» unterstellen möchten.
Von Epikur lernen
Weder das eine noch das andere kann absoluter Massstab unseres Lebens sein. Die Relativierung unserer Rolle im Rahmen der Evolution ist weder ein Freipass für ein Laissez-faire noch umgekehrt ein Auftrag zur »Ein-Ziel-Politik». Tatsächlich aber trägt uns das Menschsein auf, in erster Linie vor der eigenen Tür zu kehren, will heissen, nach jenen ethischen Prinzipien zu handeln, welche unsere Kultur geprägt haben. Dazu gehört vor allem, das Wohl und die Würde der Mitmenschen zu respektieren, auch wenn diese andere Vorstellungen über die Welt haben als wir.
Das ist keine Aufforderung zur Kritiklosigkeit. Doch der absolute Wahrheitswahn, welchem eine wachsende Zahl von «Teilgesellschaften» frönen, legt das wichtigste und letztlich auch das effizienteste Gut gesellschaftlicher Entwicklung lahm, nämlich den Dialog zwischen den Menschen, ohne den wir nichts mehr voneinander lernen. Toleranz heisst nicht Gleichgültigkeit, sondern Chance für den Fortschritt. Sie setzt im Sinne der Aufklärung selbständig denkende, unaufgeregte Menschen voraus. Epikur hat dafür in seiner Ethik den Begriff Ataraxie benützt, was am treffendsten mit Gemütsruhe oder Gelassenheit zu übersetzen wäre.
Gelassenheit. Sie wünsche ich allen Menschen, auch mir, der ich trotz guter Vorsätze manchmal um sie ringe. Man kann auch gelassen engagiert sein, ja es ist sogar leichter und überzeugender. Gelassenheit setzt voraus, dass wir uns befreien vom emotionalen Aufgeputschtsein, von Vorurteilen und Feindbildern, und so Energie und Zeit gewinnen, um andern zuzuhören und sie zu verstehen versuchen.
Es ist guter Brauch, sich für ein neues Jahr etwas zu wünschen. Wünsche werden – bildlich gesprochen – meist mit zusätzlichem materiellem oder geistigem Besitz assoziiert. Im Sinne Epikurs würden uns auch Wünsche gegenteiliger Wirkung guttun, Wünsche, welche uns von Besitz befreien, von Vorurteilen, festgefahrenen Vorstellungen über die Welt, über andere Menschen und Völker, von negativen Emotionen und Hass.
In Selbstbedienungsrestaurants gibt es dafür eine nützliche Einrichtung, die Abräumstation. Zu ihr, der persönlichen Abräumstation, sollten wir im neuen Jahr öfters gehen, nicht nur mit schmutzigem Geschirr.
(1) Johannes Krause, Thomas Trappe: Hybris – Die Reise der Menschheit zwischen Aufbruch und Scheitern. Propyläen Verlag, Berlin 2021
Alle Fotos von Dieter Imboden