„Eine Skulptur ist ein dreidimensionales, körperhaftes Objekt der bildenden Kunst. Die Begriffe Skulptur und Plastik sind weitgehend deckungsgleich. Beide bezeichnen einerseits ein einzelnes Kunstwerk (auch Bildwerk genannt), andererseits werden sie auf die Bildhauerkunst insgesamt als Kunstgattung angewandt.“
Das sagt Wikipedia über den Begriff Skulptur. Das ist griffig und klar, aber zugleich aktbacken. Besucht man die Ausstellung „Moment.Monument – Aspekte zeitgenössischer Skulptur“, die Winterthurs Museumsdirektor Konrad Bitterli zusammen mit Lynn Kost mit Werken von 16 Künstlerinnen und Künstlern eingerichtet hat, so hilft dieses Griffige nicht weiter. „Körperhafte Objekte“ gibt es. Man trifft natürlich auf Dreidimensionales. Geschnitztes oder Modelliertes, herkömmliche Skulptur also, findet sich aber nicht.
Der Ausstellungstitel „Moment.Monument“ sagt, dass es den Kuratoren nicht um die traditionellen Kategorien geht, wohl aber um weitreichende Sinnfelder – um die Dimension von Zeit und Vergänglichkeit, um Denkmal und Erinnerung, um Inhalte, vor allem aber um Bedeutungsstränge über das eng begrenzte Objekt hinaus in weite Denkräume. Diese sind voll spannender Überraschungen, doch man kann sich in ihnen mitunter auch verlieren. Hätte Joseph Beuys den Begriff „Soziale Plastik“ nicht für seine eigene gesellschaftspolitische Vision besetzt, so liesse er sich hier bestens verwenden.
Ungeahnte Weite
Er liesse sich zum Beispiel anwenden auf Félix Gonzáles-Torres (1957–1996), der aus Kuba stammte und in den USA lebte. In einer Raumecke sind rund 200 kg blau-rot verpackter Bazooka-Kaugummis aufgehäuft, Inbegriff amerikanischen Lifestyles der Nachkriegszeit (überschrieben mit „Untitled, Welcome Back Heroes“). In der Raummitte steht ein fein säuberlich zum Kubus aufgeschichteter, etwa 60 cm hoher Papierstapel („Monument“ lautet hier der Titel). Auf die Blätter ist aufgedruckt: „Ten Men Came, Only Three Returned“.
Man darf, ja soll sich bedienen und einen Bazooka in den US-Farben und einen Papierbogen mit nach Hause nehmen. Raumecke und Stapel muten, trotz ungewohnter Materialien, wie nüchtern-klar gestaltete Minimal Art an, zielen aber in die Weite: Die beiden Werke schwinden mit zunehmender Ausstellungsdauer und wachsen – über die Besucherinnen und Besucher, die sich bedienen – zugleich in einen imaginären, nicht mehr überschau- und kontrollierbaren gesellschaftlichen Raum hinaus. Das gibt der Kunst eine ungeahnte Weite.
Fragmentierte Freiheit
Ähnlich der 1975 geborene Danh Vō. Er stammt aus Vietnam, floh 1979 mit den Eltern auf einem selbstgebastelten Boot, wurde von einem dänischen Frachter aufgefischt und gelangte über Singapur nach Dänemark. Eines seiner wichtigsten Werke ist „We The People“. Vō hat die Freiheitsstatue in New York in rund 300 Teilen in Kupfer und Eisen in Originalgrösse nachgebildet. In Ausstellungen rund um die Welt zeigt er jeweils Bruchstücke, die teils kaum zu identifizieren sind. Die Freiheit gibt es nur in Fragmenten.
Danh Vōs Konzept lässt sich lesen als das Bild einer schwer einlösbaren Utopie, die gerade im Zusammenhang mit den Emigrantenströmen, wie sie auch das Leben des Künstlers prägen, von vitaler politischer Bedeutung ist. Es sind diese vielschichtigen Dimensionen und nicht die Materialität oder die Ästhetik des Objektes, die Sinn und Geist des Kunstwerkes ausmachen. Mit dem Werktitel unterstreicht Danh Vō diese Qualität: „We The People“ sind die ersten Wörter der Verfassung der USA.
Monument der Malerei
Auch das Werk des englischen Künstlers Simon Starling (geboren 1967) weist weit über das greifbare Objekt hinaus. Ausgangspunkt von „La Decollazione“ (Die Enthauptung) ist Caravaggios Gemälde der Enthauptung Johannes des Täufers, das sich in Malta befindet (Bild ganz oben). Zu sehen ist eine originalgrosse Röntgenaufnahme des Bildes, die den „Grund“ der berühmten Malerei ausleuchtet. Starling stellt ihr das auf Italiens Strassen omnipräsente Fahrzeug Ape Piaggio Pentarò gegenüber. Der Künstler selbst fuhr mit einem solchen Fahrzeug von der Lombardei, wo Caravaggio geboren wurde, bis in den Süden, um so auf einer Art Pilgerreise den Lebensweg des berühmten Meisters nachzuzeichnen. Beladen war der Piaggo mit den Grundmaterialien der Pigmente, die Caravaggio für sein Gemälde in Malta verwendete.
Ist „La Decollazione“ eine Skulptur? Sicher nicht im herkömmlichen Sinn. Vielmehr dokumentiert Starling seine eigene emotionale Beziehung zu Caravaggio als einer Art Monument der italienischen Malerei. Dass er sich dabei auch eines „Monuments“, der italienischen Design-Ikone Piaggo bedient, verleiht dem Werk eine ironisch-humorvolle Note.
Einfache Schönheit und komplexe Realität
Oder die aus Polen stammende Alicja Kwade (geboren 1979): Ihre Werke muten auf den ersten Blick wie klassische Minimal-Art-Skulpturen an. Die Künstlerin legt auf Hochglanz polierte rechteckige Metallplatten aufeinander – Aluminium, Zink, Blei, Kupfer, Nickel, Zinn, Silber, Gold. Nach oben werden die Platten immer kleiner. Das Gold ist nur noch ein dünnes Plättchen.
Die Titel – zum Beispiel „Dienstag 5. Mai 2015“ – und eine eingravierte Zahl – 146,50 Euro – lassen vermuten, dass es der Künstlerin nicht nur um den ästhetischen Reiz der verschiedenfarbigen Metalle geht, sondern um Bezüge hinein in die Welt des Handels: Die Preisangabe nennt den Tagespreis für fünf Gramm Gold am angeführten Datum. Die übrigen Metallplatten sind so gross, dass ihr Materialwert ebenfalls 146,50 Euro beträgt. Die Künstlerin lässt so die als abstrakt empfundenen Informationen der kommerzialisierten Warenwelt sinnfällig und nachvollziehbar werden. Die Skulptur rührt an die sensible Grenze zwischen perfekter Schönheit der Form und schwer fassbarer gesellschaftlicher Realität.
Ein Problem der Ausstellung „Moment.Monument“ mag sein, dass die Besucherinnen und Besucher manche Werke nur schwer in ihrer Vielschichtigkeit rezipieren können. Die informativen Saaltexte helfen da teilweise weiter. Kaum zum Erfolg führt das aber beim Deutschen Martin Pernice (geboren 1963), der sich in der Installation „Rommel“ nicht etwa mit dem Wehrmachtsgeneral Erwin Rommel auseinandersetzt, sondern mit dem hierzulande völlig unbekannten, in der DDR erfolgreichen Bildhauer Gerhard Rommel und einem seiner Arbeiterdenkmäler in Ost-Berlin. Bei aller atmosphärischen Präsenz dieser Arbeit von Pernice werden sich ihre Sinnzusammenhänge den Besuchern ohne detaillierte Begleitinformation kaum erschliessen.
Klarheit und Vielschichtigkeit
Ganz anders die in London lebende Libanesin Mona Hatoum (geboren 1952). „Quarters“, ihr Werk in der Ausstellung, besteht aus vier knapp fünf Meter hohen fünfgeschossigen Stahlgestellen. Assoziationen stellen sich ganz unmittelbar ein, denn die Dimensionen der fragil gestalteten Objekte setzen wir sogleich in Bezug zu menschlichen Körpern: Wir denken an Pritschen, an Kasernen, an Lager beispielsweise in Zivilschutzanlagen – und bald fühlen wir uns an Bilder aus Konzentrations- oder Gefangenenlagern erinnert.
Doch die Künstlerin geht mit solchen Hinweisen sorgsam um und vermeidet das Eindimensionale. Was von Düsterem und von der Gefährdung der menschlichen Existenz berichtet, ist zugleich von filigraner ästhetischer Qualität. Was als Alltagsgegenstand – ein Gestell im Keller – gelesen werden kann, wirkt gleichzeitig als Metapher für städtebauliche Ordnung oder gesellschaftliche Struktur, wie der Werktitel „Quarters“ nahelegt. Mona Hatoums Werk besticht mit der Klarheit seiner Präsenz im Raum. Die Gleichzeitigkeit aller Aspekte reizt zum Fragen nach Hintergründen und tieferen Bedeutungsschichten der Skulptur.
Ebenfalls von selbstverständlicher Einfachheit ist die Rauminstallation „How to control the view of a room any kind of days“ des 1975 in Kolumbien geborenen Gabriel Sierra. Gerade die Einfachheit stellt Fragen. Auf zwei Hubwagen vor einem Fenster steht eine weisse Wand, eine Stellwand, wie man sie aus Museen kennt: Man sieht fast nichts, und doch beginnt ein Nachdenken: Warum bleibt eine Wand im Museum leer, wo doch das Museum üblicherweise Bilder an die Wand hängt? Für welche Bilder steht sie bereit? Warum versperrt sie die Aussicht? Ist die Wand so schwer, wie sie aussieht? Wie könnten die beiden Rollis sie denn transportieren? Warum ist sie mobil?
Selber Skulptur sein
Lauter Fragen also, als sei das der Sinn der Skulptur, der Zweck der Institution Museum und der Kunst überhaupt. Das Antworten fordert die Besucherinnen und Besucher. Sie können dabei Erfahrungen sammeln – und am Ende selber Skulptur werden. Zum Gaudi allfälliger Zuschauer? Um die eigene prekäre Existenz zu erproben und zu befragen?
Erwin Wurm (geboren 1954) gibt genau diesen Anstoss. Er legt auf weissen Podien Alltagsgegenstände aus und skizziert, wie man mit ihnen und mit dem eigenen Körper umgehen kann. Wurm nennt das „Minutenskulpturen“. Man darf zum Beispiel als Paar gemeinsam einen Pullover anziehen. Das Selfie wird Freundinnen und Freunde entzücken.
Der Ausstellungstitel „Moment.Monument“ ist mit Bedacht gewählt. Er spielt nicht nur mit dem Beinahe-Gleichklang der Wörter, sondern mehr noch mit dem Widerspruch zwischen Augenblick und Dauer, zwischen Vergänglichkeit und Bestand. Das Monument gibt dem Moment, damit er in der Erinnerung bleibe, Dauer – eine meist brüchige Dauer. Das lehren uns die Erfahrungen mit Denkmälern und ihrem Sturz. Zur Erfahrung gehört auch: Das, wofür das Denkmal steht, lässt sich nicht so leicht auslöschen. Und das ist gut so.
Die übrigen Werke der Ausstellung „Moment.Monument“ stammen von Phyllida Barlow (GB), Katinka Bock (D), Dora Budor (Kroatien/USA), Isa Genzken (D), Bethan Huws (Wales), Magali Reus (NL), Thomas Schütte (D) und Roman Signer (CH).
Kunst Museum Winterthur ∣ Beim Stadthaus, bis 15. August