Man glaubt sich in die Endphase des Kalten Krieges zurückversetzt – genauer in die 1980er Jahre. Damals tobte in Westeuropa und vor allem in der alten Bundesrepublik Deutschland ein aufwühlender Streit um den sogenannten Nato-Doppelbeschluss. Angeregt vom damaligen SPD-Bundeskanzler Schmidt hatte das westliche Bündnis beschlossen, ab Mitte der 1980er Jahre neue atomare Mittelstreckenwaffen in Europa zu stationieren, falls die Sowjetunion ihre bereits aufgestellten nuklearen SS-20-Geschosse nicht abbauen würde.
Ein voller Erfolg
Nach jahrelangen stürmischen Debatten, Massendemonstrationen, Regierungskrisen (Schmidt musste zurücktreten, hauptsächlich deshalb, weil ihn die Mehrheit seiner eigenen Partei in der Nachrüstungsfrage im Stich liess) und zähen Verhandlungen erwies sich schliesslich das Rezept des Doppelbeschlusses als voller Erfolg: Präsident Reagan und der neue Kremlchef Gorbatschow unterzeichneten im Dezember 1987 im Weissen Haus den INF-Vertrag, die sogenannten Null-Lösung: Beide Seiten verschrotteten sämtliche in Europa stationierten landgestützten Nukleargeschosse mit einer Reichweite von 500–5500 Kilometern.
Dieser Vertrag hat 22 Jahre lang für Europa eine nützliche Wirkung entfaltet. Doch nun haben ihn die Regierung Trump Anfang Februar und kurz darauf auch die russische Regierung Putin gekündigt. Die Kündigung tritt sechs Monate später in Kraft. Warum sie diesen Schritt getan haben, darüber kann man lange streiten. In unzähligen Medien werden in diesen Tagen Berge von Artikeln und Kommentaren zu diesem Thema publiziert. Viel klüger, weshalb Washington und Moskau den INF-Vertrag vorerst ersatzlos über Bord geworfen haben, ist man nach deren Lektüre kaum. Die Zahlen und angeblichen Fakten, mit denen auf allen Seiten zu diesem Thema jongliert wird, sind für gewöhnlich sterbliche Zeitgenossen ohnehin nicht überprüfbar.
Vorwurf gegen Vorwurf
Fest steht nur: Die beiden Vertragsparteien begründen ihre Kündigung mit Vertragsbrüchen der Gegenseite. Vorwurf steht also gegen Vorwurf. Washington behauptet, Russland habe neue, nuklear bestückte, landgestützte Marschflugkörper (Cruise missiles) mit Reichweiten entwickelt, die gemäss INF-Vertrag nicht zulässig wären. Moskau bestreitet dies und wirft den USA seinerseits vor, mit neuen Waffenentwicklungen den Vertrag zu unterlaufen.
Was nach der Vertragskündigung im Bereich der Mittelstreckenwaffen in Europa weiter geschehen wird, ist kaum durchschaubar. Zunächst besteht immer noch die Möglichkeit, dass Washington und Moskau Verhandlungen über ein neues und präzisiertes Abkommen zur Beseitigung dieses Waffentyps aufnehmen.
China einbinden?
Allerdings hat inzwischen die amerikanische Botschafterin bei der Nato, Kay Bailey Hutchinson, in einem Interview mit dem deutschen «Tagesspiegel» mit Nachdruck erklärt, die USA planten als Gegengewicht zu den neuen russischen Bummelflugkörpern keineswegs die Entwicklung neuer nuklear bestückter Geschosse. Vielmehr gehe es bei den amerikanischen Plänen um landgestützte Raketen mit konventionellen Sprengköpfen. Wenn das stimmt, dürfte auch der vermutete öffentliche Widerstand gegen eine Stationierung derartiger Systeme erheblich zahmer ausfallen als etwa beim Streit um die Nato-Nachrüstung in den 1980er Jahren.
Dennoch würde es im Interesse von ganz Europa liegen, wenn Moskau und die Nato sich darauf verständigen könnten, die Stationierung jeder Art von landgestützten Mittelstreckenraketen und Cruise missiles (nuklear oder konventionell bestückt) auch für die Zukunft zu verbieten. Doch inzwischen hat sich auch China zu einer militärischen Grossmacht entwickelt, die über ein breites Arsenal von nuklearen Mittelstreckenwaffen verfügt. Einiges spricht dafür, dass das grundsätzliche Interesse in Moskau und Washington an einem neuen Vertrag zur Abschaffung oder Begrenzung von Mittelstreckenraketen zunehmen würde, wenn es gelänge, auch China in ein solches Abrüstungsprojekt einzubinden.
Ein deutscher Konferenzplan
Der deutsche Aussenminister Heiko Maas hat die Absicht bekundet, für Mitte März eine internationale Rüstungskontroll-Konferenz nach Berlin einzuberufen. Dazu sind nicht nur Amerikaner und Russen, sondern auch eine Reihe anderer Staaten, unter ihnen die Atommächte Frankreich, Grossbritannien und China eingeladen. Bisher sind kaum Stimmen zu vernehmen, die von solchen Veranstaltungen mehr erwarten als mehr oder weniger wohlfeile und unverbindliche Erklärungen über die Wünschbarkeit von intensivierten internationalen Rüstungskontrollen und geringerer Militärausgaben zugunsten des Kampfes gegen Hunger und Armut.
Wer für konkretere Fortschritte in diesem Bereich plädiert und neue Anstrengungen zur Einschränkung von atomaren Mittelstreckenwaffen oder gar ein Abkommen über deren weltweite Abschaffung als Fernziel deklariert, wird von den sogenannten Realisten unter den Kommentatoren und Politikern leicht als hoffnungslos naiv belächelt.
Doch herablassende Urteile dieser Art waren seinerzeit auch zu vernehmen, als die Nato sich auf Initiative Helmut Schmidts Ende 1979 für den sogenannten Doppelbeschluss über eine mögliche Nachrüstung im Mittelstreckenbereich entschied. Nicht wenige Zyniker links und rechts hielten damals diesen Entscheid lediglich für ein schlaues Täuschungsmanöver, um die tatsächliche Absicht der Nato, die definitive Stationierung eigener Mittelstreckenwaffen auf jeden Fall durchzusetzen, zu verschleiern. Die Unterzeichnung des INF-Abkommens von 1987 hat damals diese Besserwisser klar widerlegt.
Eine Aufgabe für Merkel und Macron
Könnte es nicht eine lohnende Aufgabe der EU und namentlich ihrer führenden Repräsentanten Angela Merkel und Emmanuel Macron sein, gemeinsam einen Vorschlag zur Eindämmung des bereits begonnenen neuen Wettrüstens im Bereich der landgestützten Mittelstreckenwaffen zu lancieren? Allzu grosse Chancen, auch China für ein solches Projekt an Bord zu bringen, darf man sich gewiss nicht ausrechnen. Aber wäre das nicht einen Versuch wert?
Vielleicht könnte die Idee aller Skepsis zum Trotz in Peking ja doch auf interessierte Ohren stossen. In diesem Fall aber würde eine Verhandlungstroika Nato-Russland-China wohl auch genügend Druck entfalten können, um bei anderen Atommächten wie Iran, Indien oder Nordkorea zumindest das Nachdenken darüber zu forcieren, ob das Mitmachen bei diesem Rüstungskontrollprojekt für sie nicht von Vorteil wäre.
Mehr Sicherheit durch noch mehr Wettrüsten?
Solche Pläne mögen reichlich spekulativ oder gar weltfremd klingen. Aber ist es andererseits nicht abenteuerlich und grotesk, dass heutzutage das Thema Abrüstung oder wenigstens Rüstungsbeschränkung kaum noch auf der Agenda der Grossmächte steht? Mutet es nicht hirnverbrannt an, wenn Putin sich damit brüstet, dass sein Land neue superschnelle Raketen herstelle, die x-fache Schallgeschwindigkeit erreichen und deshalb nicht mehr abgefangen werden könnten, wenn in Washington neue Pläne für eine Militarisierung des Weltraums gewälzt werden und die Machthaber verarmter Länder wie Iran und Nordkorea ihren darbenden Völkern regelmässig mit der Vorführung neuer Raketensysteme Eindruck zu machen versuchen?
Glaubt jemand im Ernst, dass mit ständig neuen, unbegrenzten Drehungen an der Rüstungsspirale die Sicherheit in der Welt und für die an diesem Wettrennen beteiligten Länder im Besonderen tatsächlich verbessert würde? Könnte man die obszönen Kosten dieses neu angeheizten Rüstungswettlaufs nicht für sehr viel konstruktivere Projekte verwenden?
In den öffentlichen Debatten werden solche Fragen von angeblich kompetenter Seite schnell als Hirngespinste abgetan und unter den Grossmächten sind im Moment keine Führungsfiguren zu erkennen, die sich – wie einst Schmidt, Reagan und Gorbatschow – mit nüchterner Energie für ein vernünftiges Abrüstungsprojekt wie den INF-Vertrag engagieren. Das muss nicht zwangsläufig so bleiben.