Die ägyptische Armee, die seit über anderthalb Jahren im Sinai gegen Terroristen kämpft, hat am Donnerstagabend zum zweiten Mal einen empfindlichen Rückschlag erlitten. Kurz nach Beginn der abendlichen Ausgangssperre explodierte vor dem Hauptquartier der 101. Armee-Brigade in der am Mittelmeer gelegenen Sinai-Stadt al-Arish eine Autobombe. Das Gebäude wurde weitgehend zerstört. Nach diesem Anschlag wurden weitere Ziele in al-Arish (siehe Karte unten) mit Raketen angegriffen, unter anderem das Hauptquartier des Geheimdienstes sowie Gebäude der Polizei und des Militärs. Auch aus der Grenzstadt Rafah und dem Ort Scheich Zuweid wurden Angriffe gemeldet.
Wie viele Soldaten und Offiziere bei den Anschlägen ums Leben kamen und verletzt wurden, ist unklar. Ägyptische Zeitungen sprachen zunächst von über 20 Toten und vielen Verwundeten. Al-Jazeera jedoch meldete 42 Tote und 74 Verwundete. Der arabische Nachrichtensender ist nicht gut auf Ägypten zu sprechen, seitdem drei ihrer Journalisten von ägyptischen Gerichten zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden waren. Sie waren angeklagt, Nachrichten zu verbreiten, die Ägypten schädigten.
Gleiche Taktik wie der IS
Die Überfälle der "Terroristen", wie sie die ägyptische Presse nennt, laufen immer nach dem gleichen Schema ab. Zunächst werden Explosionen ausgelöst; dann folgen Mörserangriffe. Ihr Ziel ist es, Verwirrung unter den Angegriffenen zu stiften. Schliesslich greifen die Kämpfer mit Sturmgewehren an. Dies ist die Methode, die der IS regelmässig in Syrien und im Irak praktiziert.
Die Sinai-Kämpfer, hatten sich zuerst "Helfer des Heiligen Hauses" genannt, was sich auf Jerusalem bezog. Doch seit dem vergangenen November haben sie sich als Gefolgsleute des „Islamischen Staats“ erklärt und ihren Namen in "Provinz Sinai" geändert. Gemeint damit ist Provinz "des Kalifates" des Islamischen Staats. Ihre neue Zugehörigkeit haben sie auch bereits dadurch dokumentiert, dass sie einen entführten ägyptischen Soldaten hinrichteten, ein Video dazu drehten und dieses ins Internet stellten. Möglicherweise erhalten die Terroristen in Sinai nun auch taktische Ratschläge von Seiten "des Kalifats" oder vielleicht sogar Waffenhilfe.
"Niemandsland" zwischen Gaza und Sinai
Die ägyptische Armee setzte Apache-Helikopter ein. Zehn Stück davon hatte sie im vergangenen Jahr von den USA erhalten. Der ägyptische Verteidigungsminister rief seine Truppenchefs zusammen, um über den Vorfall zu beraten. Staatschef Sisi beendete nach Eröffnung des Afrikanischen Gipfels unverzüglich seinen Besuch in Addis Abeba und flog nach Kairo zurück, um sich der Sache anzunehmen.
Schon am 24. Oktober 2014 war ein mit Soldaten besetzter Autobus überfallen worden. 31 Armeeangehörige starben damals.
In der Folge wurde die Zuständigkeit der ägyptischen Militärgerichte ausgeweitet. So können jetzt praktisch alle Bürger vor ein Militärtribunal gezogen werden. Über den Norden Sinais wurde ein nächtliches Ausgehverbot verhängt. An der Grenze nach Gaza wurde eine Art „Niemandsland“ eingerichtet. Dieser Streifen war zunächst ein halber Kilometer breit, später wurde er auf einen Kilometer Breite ausgedehnt. Etwa 1000 Familien, die in der Grenzstadt Rafah leben, mussten ihre Behausungen räumen. Anschliessend wurden ihre Häuser dem Erdboden gleichgemacht. Auf der Sinai-Halbinsel leben rund 400‘000 Ägypter.
Beduinen gegen die Armee
Die Sperrzone wurde eingerichtet, weil die Armeeoffiziere glauben, die Sinai-Terroristen bezögen Waffen aus Gaza. Vermutet wird auch, dass Kämpfer aus dem Gaza-Streifen auf die Halbinsel eindringen. Möglicherweise kam dies vor, als die Tunnels an der Grenze zwischen dem Gaza-Streifen und der Sinai-Halbinsel noch intakt waren.
Doch der Konflikt hat andere, tiefere Gründe. Die Beduinen auf der Sinai-Halbinsel fühlen sich seit den Jahren 2004 und 2005 von den ägyptischen Machthabern schlecht behandelt. Damals, 2004, wurde auf das Hilton-Hotel im Badeort Taba ein Sprengstoffanschlag verübt. 2005 explodierten im ägyptischen Badeort Scharm el Scheich drei Autobomben. Insgesamt kamen über hundert Menschen ums Leben. Der Anschlag in Taba war wahrscheinlich das Werk von Palästinensern, der zweite im folgenden Jahr in Scharm el Scheich möglicherweise von Beduinen. Sie waren erzürnt über die Behandlung, die ihre Stammesgenossen nach dem ersten Anschlag erfahren hatten.
Die Rache der Beduinen
Nach dem Attentat in Taba nahmen die ägyptischen Behörden 2‘400 Beduinen fest. Viele von ihnen sollen sich heute noch im Gefängnis befinden. Man hat anzunehmen, dass sie misshandelt wurden, um Geständnisse zu erpressen. Schliesslich wurden drei von ihnen durch den Strang hingerichtet. Die meisten der Verhafteten sahen nie einen Richter.
Nach dem zweiten Anschlag gab es eine neue Verhaftungswelle. Dies war noch ausgedehnter und indiskriminierender als die erste. Damals begannen sich die Beduinen zu rächen. Es besteht eine Art „Rachepflicht“. Unter anderem werden Soldaten entführt, um Verwandte aus den Gefängnissen frei zu pressen. In diesem Klima wuchs die Feindschaft zwischen Beduinen und Sicherheitskräften.
Beduinen - zu "Terroristen" gestempelt
Bewaffnete ultraradikale Kämpfer aus dem Gaza-Streifen benutzten die unsichere Lage und wechselten auf die Sinai-Halbinsel. Sie wollten sich nicht dem Hamas-Kommando unterziehen und verlangten Aktionsfreiheit. In Sinai genossen sie den Schutz der aufgebrachten Beduinen-Stämme und verbreiteten dort ihre ideologischen Vorstellungen.
Für jede irreguläre Kampftruppe ist entscheidend, ob sie in der Bevölkerung Rückhalt hat oder isoliert ist. Der frühere ägyptische Präsident Mursi versuchte, eine Politik der Versöhnung einzuleiten. Dabei stiess er jedoch auf den Widerstand der Armee. Sie erklärte sich für die Halbinsel als alleinzuständig.
Die Armee unter dem neuen Präsidenten al Sisi erklärte sowohl die Muslimbrüder als auch alle andern Oppositionsgruppierungen als „Terroristen“. Dies trug dazu bei, dass sich Anhänger der Muslimbrüder für den gewaltsamen Widerstand entschieden. Offenbar haben die Sinai-Kämpfer schwere Waffen aus Libyen erhalten, obwohl sie dabei Ägypten und den Suezkanal von Westen nach Osten überqueren oder zur See umschiffen mussten.
Tausende tote Sicherheitskräfte?
Präsident Sisi und die Armee hatten den Sinai-Rebellen und den Islamisten mit Vernichtung gedroht. Der Kampf dauert nun schon 16 Monate. Laut Angaben ägyptischer Zeitungen sind dabei „Hunderte“ Soldaten und Polizisten gefallen. Ausländische Beobachter sprechen von Tausenden. Präsident Sisi erklärte in Addis Abeba: "Dies wird fortdauern bis wir erfolgreich sind - und wir werden erfolgreich sein!" Der Militärsprecher in Kairo ging so weit zu erklären, die Angriffe seien "eine Reaktion auf den Erfolg der letzten Sicherheitsoperationen gegen Terror-Elemente in Sinai".
Doch es bleibt festzuhalten, dass die ägyptischen Sicherheitskräfte, einschliesslich der Armee über die letzten zehn Jahre hinweg selbst die Lage geschaffen haben, mit der sie nun konfrontiert sind. Die Behandlung der Beduinen in Sinai hat dazu geführt, dass die Halbinsel für sie zu einem Vulkan geworden ist, dessen Ausbruch sie bisher nicht haben eindämmen können.