Ihre Konzerte sind alles andere als brav, und lassen ihre Zuhörer die Musik, die sie engagiert darbietet, neu entdecken und schätzen.
Die Deutsche rockte auf der Casinobühne so leidenschaftlich, dass es das Basler Publikum auf die Füße riss, buchstäblich und wiederholt. Dabei sang sie Arien aus Barockopern. Doch diese wurden nicht akademisch geboten, sondern gelebt - ob intensiv verinnerlicht oder vor Lebenslust explodierend. Bei Johann Adolf Hasses „Come nave in mezzo all onde“ fiel Kermes zuerst sinnig in eine Schaukelbewegung und dann in einen wilden Twist. Und dann war da noch etwas anderes, auf das mich ein italienischer Konzertbesucher aufmerksam machte: die „mossa“. Es ist eine Zitterbewegung, die sich von den zuckenden Schultern wie eine Wellenlinie den Körper hinab bewegt.
Sie wurde in den Anfangsjahren des vergangenen Jahrhunderts von neapolitanischen Volkssängerinnen erfunden, um ihren Darbietungen mehr Pep zu geben, denn die ‚mossa’ lässt die Brüste fliegen und den Hintern zittern. Sie wurde so populär, dass sie auch von nicht singenden Sexsymbolen bei jedem Auftritt lauthals eingefordert wurde. Sofia Loren beherrscht sie wie auch Gina Lollobrigida.
Es ist eine Darbietung, die ernsteren Liebhabern der Barockmusik zweifellos Schauder der Empörung den Rücken hinunterjagt, ähnlich wie in früheren, prüderen Zeiten der Hüftschwung von Elvis Presley. Das leider kleine Publikum in Basel aber goutierte diese hochdramatische Darbietung von „ernster“ Musik.
Wir hörten sie zuerst vor Jahren in Ernen, im barocken Kleinod der Titularkirche des Kardinals Matthäus Schiner, des einzigen Beinahepapstes, den die Schweiz je hatte. (Eine einzige Stimme fehlte ihm nach dem Tod Leo X zur Wahl). Krimiautorin Donna Leon hatte zum Schreibseminar geladen und bot, Barock besessen, ihren Gästen neben Literarischem auch Musikalisches: Jeden Abend gab es ein Konzert und untertags Probenbesuche.
Dort sahen wir zum ersten Mal diesen roten Lockenkopf zu den Klängen der Musiker der „Arts Fleurissants“ in engem Jupe und knappem Pulli auf kniehohen Stiefeln durch den Chor toben. Man fühlte sich an Michael Jackson in einem Music-Video erinnert. Und dann diese Stimme! Sie forderte Aufmerksamkeit, streichelte, stichelte, provozierte, erregte Gänsehaut, wenn sie litt und Anspannung, wenn sie anklagte. Diese Stimme, ob einfühlend zart oder rau angreifend, sie füllte nicht nur mühelos die ganze Kirche, sie nahm die Emotionen der Zuhörer derart gefangen, dass man sich später beeindruckt, doch erschöpft, auf dem kleinen Friedhof wieder traf, um Luft zu holen.
Dort erfuhr man auch, warum man bisher nichts von ihr gehört hatte. Sie war früh Mutter geworden, hatte ihren Facharbeiter für Schreibtechnik gemacht, geheiratet, hatte dann zwar auf der Leipziger Hochschule eine hervorragende Stimmbildung bekommen, doch die DDR bot ihr keine Karrieremöglichkeiten. Donna Leon förderte sie, brachte sie auch mit Cecilia Bartoli zusammen, nahm mit Kermes zusammen sogar eine CD auf.
Doch ein Zerwürfnis beendete dieses Mäzenatentum und Simones Kermes musste sich wieder alleine durchschlagen. Dies tat sie in beeindruckender Weise. Mit der ihr eigenen Zielstrebigkeit durchforstete sie selbst Archive nach versunkenen Barockarien, suchte sich ein Orchester, produzierte und vermarktete die nächste CD selbst. „Lava“ wurde ein durchschlagender Erfolg, bekam mehrere Preise und wurde von DRS 2 noch über „Sacrificium“ , die Barock- CD von Cecilia Bartoli, gestellt, die diese mit der ganzen Unterstützung eines grossen Musiklabels gemacht hatte.
Doch nun kam Hilfe gerade von dieser Seite: Claudio Osele, der Musikwissenschaftler und Lebensgefährte von Bartoli, der unbekannte die Arien für sie gefunden hatte und sie musikalisch beriet, wandte sich von der Italienerin ab und, zumindest beruflich, Simone Kermes zu. Mit seinem Barockorchester „le musiche nove“ begleitet er nun nun jedes ihrer Konzerte. Und doch sind die beiden Diven nicht als Rivalinnen zu sehen wie einst Maria Callas und Renata Tebaldi, die „Tigerin“ und das „Reh“, deren die Feindschaft offenbar auch ein Werbegag war.
Simone Kermes, mit ihrem Temperament und ihrer bis zum Missklang ausdrucksvollen Stimme, mag an die Tigerin Callas erinnern, die sich ebenfalls nicht scheute, den Wohlklang dem Ausdruck zu opfern. Cecilia Bartoli, mit ihrer kleineren, doch technisch optimal geführten Stimme, die nie Form und Mass verliert, mag in diesem Sinne an die Tebaldi erinnern, doch möchte man die lebenslustige Römerin nicht als Reh bezeichnen.
Das nächste Konzert von Simone Kermes in der Schweiz findet am 25. Mai im KulturCasino in Bern statt.