Die Not trieb sie fort. Vom Goms und vom Oberwallis aus zogen die Walser nach 1150 in alle Himmelsrichtungen. Sie rodeten und kultivierten raue Gebirgstäler und schufen 150 Kolonien. Ein wenig bekanntes Phänomen. Impressionen von einer alpinen Randkultur.
In den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts fuhr unsere Familie nach Obersaxen in die Skiferien. Von Zug aus mit der Bahn – eine halbe Weltreise! Aufs Postauto umgestiegen sind wir in Ilanz, der ersten Stadt am Rhein, wie mein Vater dem damaligen Drittklässler erklärte. Die Leute redeten Romanisch, in Obersaxen dann wieder Deutsch, genauer Walserdeutsch. Es ist das Idiom ihrer Urahnen aus dem Goms.
Das hat mich fasziniert. Obersaxen: eine Sprachinsel, eine deutschsprachige Enklave im Rätoromanisch-Surselvischen, umgeben von «Rumanschern». Dazu ist die Walser Gegend katholisch – auf der Gegenseite liegt das evangelische Dorf Waltensburg mit der Kirche und ihren Fresken des unbekannten Meisters. Die Walser – ein Phänomen, das mich nie mehr losgelassen hat. Ein kulturelles Geheimnis in unserem vielfältigen Land. Die Schweiz ist ja so etwas wie ein Maximum an Diversität auf einem Minimum an Raum.
Von den Alemannen zu den Wallisern
Davos und Bosco Gurin, Lech am Arlberg und Gressoney – die vier Orte liegen weit auseinander und in unterschiedlichen Ländern. Und doch haben sie eines gemeinsam: Es sind alte Walserkolonien. Warum aber gibt es sie, und was verbindet sie?
Um das Jahr 1000 herum dringen Alemannen vom Berner Oberland her über den Grimselpass ins Quellgebiet der Rhone ein. Nach und nach besiedeln sie das Goms. Den genauen Zeitpunkt dieses Vorstosses kennen wir nicht; die ersten Siedlungsverhältnisse bleiben uns unbekannt. Über den Alpenkamm stossen Alemannen auch ins Lötschental vor und von dort ins Oberwallis. Man nennt sie «Valliser», abgeleitet vom lateinischen Wort «vallis», was Tal bedeutet. Hier finden die alemannischen Einwanderer neue Siedlungsmöglichkeiten. Sie machen unwirtliches Land urbar und fruchtbar für Gras- und Alpwirtschaft. Für den Getreideanbau legen sie im steilen Gelände Ackerterrassen an. In Findelen bei Zermatt erreichen sie den alpinen Höhenrekord im Getreideanbau – auf 2‘100 Meter über Meer! Spuren solcher Äcker finden sich noch heute, oft im Wies- und Weideland und teilweise vom Wald überwuchert.
Von den Wallisern zu den Walsern
Doch der Boden kann nicht alle ernähren; der Raum ist zu eng. Die Not treibt viele wieder fort. Vom Goms aus ziehen die «Vallser» oder eben Walser, wie sie später heissen, nach 1150 «uber alli Grenzä» und in alle vier Himmelsrichtungen.
Diese inneralpine mittelalterliche Wanderbewegung zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert führt ganze Familien mit Kind und Kegel über hohe Alpenpässe. Sie verlassen die gemeinsame Rhoneheimat des Oberwallis und ziehen weit hinauf in einsame Lebensräume und in abgeschiedene, teils noch unbegangene Gebiete. Sie roden und kultivieren raue Gebirgstäler und schaffen im Alpenbogen rund 150 Kolonien – verteilt auf fünf Länder und eine Länge von rund 300 Kilometern. Es sind verstreute und isolierte Höhensiedlungen. Eine gemeinsame Kultur verbindet sie – und die Sprache als das wohl stärkste und charakteristischste Merkmal der Walser-Identität! Es ist das Erbe aus der Urheimat Goms und dem Oberwallis: «Wo der Walserlaut noch erklingt, ist Walserheimat – Walsertum ist Sprachvolkstum!», heisst es. (1)
Bis hinaus in die Allgäuer Alpen
Die Wanderzüge führen die Kolonisten aus dem Rhonetal in die Täler südlich des Monte Rosa und über den Simplon nach Gondo und ins wilde Zwischbergental, von Ulrichen im Goms über den Griespass ins Val Formazza, ins ennetbirgische Pomat, wie das Tal auf Deutsch heisst. Noch vor 1200 ziehen Gommer Bergbauern über die Furka ins Urserental. Von dort führt sie die Emigration über den Oberalppass ins heutige Graubünden und nach Obersaxen – und hinaus ins Liechtensteinische und ins Kleinwalsertal in den Allgäuer Alpen.
Aus dem Val Formazza geht’s Richtung Osten über die Guriner Furka nach Bosco Gurin, diesem inselartig eingeschlossenen Walserdorf im italienischsprachigen Valle Maggia. Nach Westen ziehen die Walser ins französische Chablais, dazu nach Norden wieder zurück ins Bernbiet, konkret ins hintere Lauterbrunnental und ins Lütschinental mit Grindwald.
In alle vier Himmelsrichtungen wandern die Walser. Die Geschichte dieser Walsermigration hat auch heute – in einer Zeit fast überbordender, grenzenloser globaler Mobilität – nichts von ihrem geheimnisvollen Faszinosum verloren.
Die Walserfreiheit
Meist rufen Territorialherren zur Kolonisation auf – im Bündner Oberland beispielsweise das Benediktinerkloster Disentis mit seinem ausgedehnten Grundbesitz. Im Hinterrhein sind es die Herren von Sax-Misox. Die feudalen Territorialherren wollen Ihre Hoheitsrechte sichern und lassen dazu ganz gezielt Walser ansiedeln. Zuhinterst in den Talkesseln und auf hochgelegenen Terrassen bieten sie ihnen Land an. Die Gommer Hirten sind ja so etwas wie berufsmässige Hochgebirgs-Siedler. Dafür erhalten sie gewisse Rechte und Freiheiten wie die Ammannwahl, die niedere Gerichtsbarkeit und die freie Erbleihe. Umgekehrt müssen sie dem Territorialherrn Kriegsdienst leisten. Freiheitsbriefe dokumentieren diese frühen und wichtigen Kolonistenrechte.
Die Walser Emigration ist darum keine Entdeckungsreise, kein Massenauszug wie die der Israeliten aus Ägypten. Es ist auch kein kriegerischer Aufbruch und keine «Völkerwanderung». Die Walser ziehen während rund 300 Jahren aus den Walliser Stammlanden oder aus Erstsiedlungen im Bündnerland – wie Rheinwald im Quellgebiet des Hinterrheins und Davos – gezielt in weitere und ähnliche Siedlungsräume. Auswanderer suchen ja das Vertraute.
Die Mutterkolonien von Hinterrhein und Davos
Anfänglich sind es meist kleine Kolonien: eine Art Vorhut oder Spähtrupp; dann folgen Siedler nach. Die Orte wachsen rasch und mit ihnen die Existenznöte – und so müssen manche Kolonisten wieder anderswo neuen Lebensraum finden. Das zeigt sich in den Bündner Stammkolonien von Hinterrhein und Davos. Von beiden Siedlungen aus kommt es zu Tochterkolonien.
Die Rheinwaldgruppe, eingewanderte Pomatter Walser, expandiert aus dem Hinterrhein über den Valserberg ins Valsertal. Von Splügen aus stossen Kolonisten ins wilde Safiental vor und vermutlich auch ins Averstal mit Juf, heute die höchstgelegene Dauersiedlung Europas. Aus dem Averstal führt der Vorstoss ins Oberhalbstein an der Julierroute. Wie überall roden und kultivieren die Kolonisten Land.
Die innerrhätische Mutterkolonie Davos wird in gleicher Weise erschlossen. Aufgrund des Dialekts müssen es Walser aus dem unteren Deutschwallis sein, aus der Gegend um Visp und den Tälern rund um den Monte Rosa. Sie emigrieren durch Vermittlung der Territorialherren von Raron. Ihren Weg nach Davos kennen wir nicht genau. Auch diese Kolonie wächst schnell: Davoser Walser besiedeln Arosa, und über die Wasserscheide stossen sie ins Prättigau vor. Zu den typischen Walsersiedlungen zählt beispielsweise St. Antönien.
Entdeckergeist der Walser erstaunt noch heute
Die Migration der Walser ist eine der letzten Kolonisationsbewegungen in Europa; es ist eine inneralpine Migration. Generationen sind aus dem Goms und dem Oberwallis ausgewandert. Ob südlich des Monte Rosa, ob in einem Tessiner Tal, ob in der Ursern oder im Bündnerland, im Vorarlberg oder im Tirol: Die Leistung dieser Walser erstaunt, ihr Pioniergeist ringt uns grossen Respekt ab, ihr Wagemut fasziniert noch heute. Die Geschichte zeigt, wozu unsere Vorfahren imstande waren, wie sie abweisende, unwirtliche Berggegenden urbar gemacht und der harten Natur ein bescheidenes Leben abgerungen haben.
(1) Franz Hohler (2014), Der Autostopper. Die kurzen Erzählungen. Mit einem Nachwort von Beatrice von Matt. München: Luchterhand, S. 16.
Die Walser zogen «uber alli Grenzä» – Von der Faszination einer alpinen Randkultur – so ist der Vortrag vom Montag, 22. April 2024, 19:30 h im CULINARIUM ALPINUM Stans betitelt. Die Walserin Maria Ettlin-Janka aus Obersaxen liest dabei kleine Texte in ‘inschar Sprààch, dm Obarsàxar Titsch‘.
Grundlegenden Einblick in die Kultur der Walser vermittelt das Standardwerk von Paul Zinsli (2002), Walser Volkstum. In der Schweiz, in Vorarlberg, Liechtenstein und Italien. Erbe, Dasein, Wesen. 7., erg. Aufl. Chur: Verlag Bündner Monatsblatt