Der Richter findet, da Simin über ihren Gatten nichts Nachteiliges zu berichten hat, nicht genügend Grund, ihrem Wunsch stattzugeben. Simin will ohne die elfjährige Termeh nicht auswandern und zieht zu ihren Eltern. Ihre Pflegeleistung für den schwer dementen Schwiegervater fällt aus, das Kind bleibt beim nunmehr überforderten Nader.
Zum zweiten Mal vor Gericht
Er engagiert zu seiner Unterstützung eine Frau, welche tagsüber für den alten Mann sorgen soll: Razieh, die jeweils ihre kleine Tochter Somayeh mit zur Arbeit nimmt. Razieh ist auf Geld angewiesen, ihr Mann – dem sie ihre Erwerbstätigkeit verheimlicht – ist arbeitslos und verschuldet.
Eines Tages aber ist der alte Mann aus dem Bett gefallen und es ist Geld weggekommen. Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen Nader und Razieh. Nader wird deswegen nochmals vor Gericht gebracht – angeklagt von Razieh und ihrem gekränkten, explosiven Ehemann Hodjat – es droht ihm schwere Strafe.
Die Frage nach den Grundlagen menschlicher Entscheidungen
Die Entfaltung der Geschichte, wie sie Asghar Farhadi erzählt (Buch und Regie), vollzieht sich im Rahmen verschiedener, komplex verschränkter Spannungsfelder und im ständig wechselnden Licht vielfältiger und zum Teil widersprüchlicher Werthaltungen. Im sie umfangenden Netz von Kräften, Ordnungen, Rechtsauffassungen und Wahrnehmungsmöglichkeiten suchen die einzelnen Figuren – samt Nebenrollen makellos dargestellt – ihre jeweils angemessenen Bewegungen und Haltungen.
Sie sind den gegebenen sozialen, ökonomischen, politischen, rechtlichen, historischen Verhältnissen weder passiv oder rebellierend ausgeliefert, noch verhalten sie sich unabhängig von ihnen. Sie finden vielmehr in jeder einzelnen Konfliktsituation die eigene Entscheidung. In ihren verwirrenden Universen von unterschiedlichen und im Wandel begriffenen Orientierungssystemen müssen sie heterogene Werte gegeneinander abwägen, so etwa den Wert der Wahrheit gegen deren Kosten in iranischen Rials; die Entfaltungsfreiheit der Frau gegenüber der Sorge für Bindungen und Beziehungen; berufliche Pflichten gegen religiöse Gebote.
In jeder einzelnen Entscheidung der ausnahmslos verantwortlich handelnden und denkenden Protagonisten spiegeln sich die Bedingungen, unter welchen diese getroffen werden – wenn nicht sofort, so doch im weiteren Verlauf dieses mit mathematischer Genauigkeit konstruierten Filmes („da darf man keine einzige Zahl mehr verändern“, sagt Farhadi über sein Drehbuch). Und wer hinschaut, wird angeregt, etwas von den labyrinthischen Grundlagen auch der eigenen Wahrnehmungsweisen und Äusserungen zu begreifen.
Die Kinder - Hauptfiguren am Rande
So einsam die erwachsenen Protagonisten in ihren Welten sind, bleiben sie doch nicht ohne Orientierungshilfen. Es gibt beispielsweise eine Hotline zum Imam, welche es Razieh ermöglicht, per Handy rasch anzufragen, ob sie ihrem Pflegling, der sein Pyjama eingenäßt hat, die Hosen wechseln darf, obwohl der Koran ihr verbietet, einen fremden Mann zu berühren. Auch Simin findet Unterstützung bei ihren Eltern und bei einer Lehrerin, und der Richter tut sein Bestes, einen gerechten Blick auf den Streit zwischen dem gebildeten Nader und Hodjat, dem aufbrausenden Mann aus der Unterschicht (Raziehs Ehemann), zu werfen.
Ohne taugliche Hilfe und weitgehend alleine bleiben hingegen die Kinder: Termeh, Nader und Simins Elfjährige (dargestellt von Farhadis eigener Tochter Sarina) und die kleine Somayeh. Sie sind in gewissem Sinne die am Rande stehenden Hauptfiguren. Sie nehmen allzuviel und vor allem allzu Unlösbares auf ihre schmalen Schultern. Ob sie dies freiwillig oder unfreiwillig tun – wer könnte das unterscheiden, wo Kinder ihre Eltern zu unterstützen suchen, die ihre Welt ausmachen und von denen sie abhängig sind?
Persische Erzählkunst und cinematographische Bildung
Asghar Farhadi, 1972 in Isfahan geboren, hat an der Universität Teheran Theater, Dramatik und Regie studiert. Er ist kein Geheimtipp: 2009 bereits hat er für seinen letzten, seinen vierten Film, „About Elly“ („Darbareye Elly“, Iran 2009), der im Herbst in die Schweizer Kinos kommen sollte, in Berlin den Silbernen Bären für die beste Regie gewonnen. „A Separation – Nader und Simin“ („Jodaeiye Nader az Simin“, Iran 2011) nun hat an der diesjährigen Berlinale nicht nur den Hauptpreis, den Goldenen Bären gewonnen, sondern auch zwei silberne Bären für die besten Schauspieler und die besten Schauspielerinnen.
Farhadi erzählt intelligent, unterhaltend und auf unauffällige Weise sehr raffiniert, wie etwa am genialen Vorspann oder dem unvergeßlichen Schluss zu sehen. Mit seinen DarstellerInnen arbeitet er offenbar produktiv zusammen: er hat ihnen bei den Proben gesagt, daß die Figur, die sie spielen würden, recht habe und es für jeden Einzelnen von ihnen richtig sei, so zu handeln, wie sie handeln. Während der Proben liess er sie dann improvisieren – auf das Drehen hin aber wurde alles bis ins Detail festgelegt (Trigon Magazin 54).
So kann man sich auf sein nächstes Werk, das er in Frankreich zu realisieren vorhat, freuen.
Der Film läuft in Aarau, Basel, Bern, Biel, Brugg, Luzern, Zuoz und Zürich am 8. September an, in Baden und Thusis schon am 2. September.