Allerdings holt das Nachbarland Indien schnell auf und wird das Reich der Mitte bevölkerungsmässig in spätestens in drei Jahrzehnten eingeholt haben. Mitte des Jahrhunderts wird dann Chindia (China und Indien) zusammen gut dreissig bis vierzig Prozent der Erdbevölkerung ausmachen. Allerdings ist bei Bevölkerungsprognosen höchste Vorsicht am Platz, wie das Beispiel Malthus zeigt.
Der Brite Thomas Robert Malthus blickte in seinem „Essay on the Principal of Population“ 1798 zur Bevölkerungsentwicklung düster in die Zukunft. Malthus´ These: Die Bevölkerungszahl wächst exponentiell, die Nahrungsmittel-Produktion nur linear. Die Folge für die Menschheit: Armut und Hunger. Ungleich den Ökonomen Adam Smith und David Ricardo hielt Malthus nichts von der Selbstregulierung durch den Markt. Was Malthus am Ende des 18. Jahrhunderts nicht vorhersehen konnte, ist die im 19. und 20. Jahrhundert exponentiell wachsende Produktivität der Landwirtschaft.
Nach der Malthusianischen Katastrophen-Theorie wäre ein Wachstum von der einen Milliarde Menschen zu Malthus’ Lebzeiten auf 2,5 Milliarden im Jahre 1950 und auf sieben Milliarden heute absolut undenkbar. Wo die Reise hingeht, ist höchst ungewiss. Um die Mitte des Jahrhunderts sollen je nach Szenario zwischen neun und elf Milliarden Menschen unseren Planeten bevölkern. In der Zwischenzeit wird heftig gezählt. In Indien, den USA, Europa und anderswo, besonders aber in China.
Niedrigerer Zuwachs als erwartet
So strömten vor einem halben Jahr sechseinhalb Millionen Volkszähler in ganz China aus und nahmen in mehr als 400 Millionen Haushalten während zehn Tagen den numerischen Puls der Nation. Was früher noch Jahre brauchte, geht heute dank Computer sozusagen ruckzuck. Nach nur sechs Monaten verkündete der oberste Statistiker der Nation und Chef des „Nationalen Statistischen Büros“ (NSB), Ma Jiantang, das Resultat.
Am Stichtag, dem 1. November 2010, lebten in China – die „abtrünnige Provinz“ Taiwan sowie die Sonderverwaltungszonen Macau und Hongkong eingeschlossen – exakt 1'370'536'875 Menschen. Für Nicht-Statistiker und mithin verständlicher ausgedrückt sind das rund 1,37 Milliarden Chinesinnen und Chinesen. Das sind 73,9 Millionen mehr als vor zehn Jahren. Der Zuwachs entspricht ungefähr der Bevölkerung der Türkei und ist weit mehr als die Bevölkerungen Frankreichs oder Grossbritanniens.
Diese Zahl ist leicht geringer als erwartet. 1,4 Milliarden war die Zahl, die allgemein von Ökonomen, Bevölkerungswissenschaftern, Parteikadern und Regierungsbeamten prognostiziert worden war. Neunmalkluge, besonders unter den ausländischen Medienleuten, operierten mit noch höheren Zahlen, weil erstens chinesischen Statistiken prinzipiell nicht akkurat zusammengestellt seien und zweitens aus politischen und sozialen Gründen eine möglichst niedrige Zahl ausgewiesen werden sollte. Das ist natürlich blanker Unsinn, leider auch verbreitet in westlichen Medien, die behaupten, „Qualitäts-Journalismus“ zu betreiben.
Privatsphäre und Datenschutz
Tatsache ist, dass heute keine Regierung und zumal jene von wirtschaftlichen Grossmächten ohne glaubwürdige Zahlen nicht mehr auskommt. Das gilt auch für China. Die Zentralregierung hat deshalb im Vorfeld des alle zehn Jahre durchgeführten Census alles unternommen, um Bedenken in der Bevölkerung zu zerstreuen. Religion und Einkommen zum Beispiel wurden nicht abgefragt. Auch in Reich der Mitte gibt es, ob man es glaubt oder nicht, ein wenig Privatsphäre und Datenschutz.
NSB-Chef Ma Jiantang fasste das Resultat griffig zusammen: Chinas Bevölkerung zeige nach dreissig Jahren Ein-Kind-Familienpolitik ein merklich gebremstes Bevölkerungswachstum, eine schnelle Überalterung, eine rasante Verstädterung sowie eine stark wachsende Zahl von Wanderarbeitern. Positiv wird insbesondere die markant verbesserte Erziehung unterstrichen mit einer erstaunlich hohen Alphabetisierungsrate von 96 Prozent.
Die Ein-Kind-Familienpolitik wurde zu Beginn der Reform 1980 eingeführt. Zuvor galt das von Staatsgründer Mao Dsedong deklarierte Prinzip „je mehr, desto besser“. Der „Grosse Steuermann“ Mao apostrophierte in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts deshalb die Atommacht USA als „Papier-Tiger“ mit dem Argument, dass China ohne weiteres einige Dutzend Millionen oder mehr Menschen bei einem atomaren Angriff verlieren könne. Kein Problem, meint Mao. Statistisch gesehen verdoppelte sich die Bevölkerungszahl in den dreissig Jahren von der Gründung der Volksrepublik 1949 bis zum Reform-Beginn 1979 fast von rund 530 auf rund 990 Millionen Menschen.
Problem der Überalterung
Reform-Übervater Deng Xiaoping erkannte, dass die Früchte der Wirtschaftsreform durch ungebremstes Wachstum zunichte gemacht würden. Die Ein-Kind-Familienpolitik – ein Kind in der Stadt, zwei Kinder auf dem Land, drei Kinder für Nationale Minderheiten – wurde eingeführt. Mit durchschlagendem Erfolg. Statistisch gesehen wuchs die Bevölkerung in den letzten dreissig Jahren von rund 990 Millionen auf 1,37 Milliarden. Anders ausgedrückt: Ohne die Ein-Kind-Familienpolitik wäre die chinesische Bevölkerung heute um drei- bis vierhundert Millionen Menschen grösser mit allen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen.
Mit der wirtschaftlichen Entwicklung ging auch eine vehemente Urbanisierung einher. Fast die Hälfte der Bevölkerung, d.h. nach dem neuesten Census genau 49,7 Prozent, wohnt heute in Grossstädten. Vor zehn Jahren waren es erst 36,2 Prozent, 1990 26,4 Prozent und am Anfang der Reform 1980 17,4 Prozent.
Die Überalterung der Gesellschaft wird – ähnlich wie in entwickelten Volkswirtschaften insbesondere in Japan und Europa – nach den neuesten Census-Zahlen langsam aber sicher auch in China ein Problem. über 13 Prozent der Bevölkerung sind bereits über 60 Jahre alt, fast drei Prozent mehr als vor zehn Jahren. Bis in zwanzig Jahren wird der Anteil der Alten nach Vorhersagen chinesischer Bevölkerungswissenschafter auf satte dreissig Prozent ansteigen.
Mit der Überalterung nimmt auch der Anteil der ganz Jungen ab. Der Anteil der bis 14 Jahre alten jungen Chinesinnen und Chinesen ist in den letzten zehn Jahren um über sechs Prozent auf 16,6 Prozent gesunken. Diese Zahl ist deshalb relevant, weil sie in den nächsten zwanzig Jahren einen grossen Einfluss auf den Arbeitsmarkt haben wird. Erste Anzeichen sind bereits sichtbar. Selbst chinesische Privatunternehmer lassen mittlerweile in Billiglohnländern wie Kambodscha, Burma oder Bangladesh produzieren.
Ungleichgewicht der Geschlechter
Auch die Fruchtbarkeitsrate – d.h. die Zahl Kinder, die eine Frau im Durchschnitt während ihres Lebens zur Welt bringt – ist in China dramatisch gefallen. Betrug die Rate zu Beginn der Reform noch 5,8 ist sie nach dem neuesten Census auf durchschnittlich 1,8 Kinder pro Frau gefallen. In industrialisierten Ländern gilt eine Fruchtbarkeitsrate 2,1 Kinder pro Frau als Minimum zur Erhaltung der aktuellen Bevölkerungszahl. Nach Vorhersagen des Nationalen Büros für Statistik sowie von chinesischen und internationalen Bevölkerungswissenschaftern wird Chinas Bevölkerung 2040 bei rund 1,5 Milliarden Menschen den Höhpunkt erreicht haben. Indien – heute nach der neuesten indischen Volkszählung mit einer Bevölkerung von 1,21 Milliarden Menschen – wird zu diesem Zeitpunkt China bereits längst überholt haben.
Ein Problem, das China mit Indien teilt, ist das Ungleichgewicht der Geschlechter. In China ist das besonders ausgeprägt. Knaben sind wie seit alters her immer noch das Glück der Familie. Insbesondere in ländlichen Gebieten, sind dort doch Knaben so etwas wie die Altersversicherung. Mit einer Ausweitung des sozialen Netzes wollen Partei und Regierung diese Schwierigkeiten angehen. Derzeit aber ist das zahlenmässige Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern dramatisch. Nach dem Census sind Im Vergleich mit dem internationalen Durchschnitt gibt es im Reich der Mitte sehr viel mehr Männer als Frauen. Nach dem Census sind 51,3 Prozent der Bevölkerung Männer und 48,7 Prozent Frauen. Die Folgen: weit verbreitete Prostitution, organisierter Mädchenhandel und Abtreibungen.
Der Fremde als Sündenbock
NSB-Chef Ma Jiantang machte auf ein anderes, akutes Problem aufmerksam: die Wanderarbeiter. Gemäss der Volkszählung sind sie mit rund über 250 Millionen weitaus stärker vertreten als erwartet. Ihre Zahl ist in zehn Jahren um achtzig Prozent gestiegen. Diese wachsende Zahl der Wanderarbeiter vor allem im reichen Küstengürtel und in den Grossstädten sind nach Ansicht der Laobaixing – Durchschnittsbürger – genauso gut wie von Sozialwissenschaftern eine Herausforderung für „soziale Stabilität und sozialen Frieden“.
Zum einen erhalten die Wanderarbeiter mit dem Hukou-System – dem Haushaltsregistrierungs-Systems – in den städtischen Agglomerationen nicht die gleichen sozialen Vorteile, wie die dort registrierten Städter: Schuldbildung für Kinder etwa, eine minimale Krankenversicherung oder Rente. Sie sind also krass benachteiligt. Zum andern werden Nongminzuo – die Wanderarbeiter – für alle Übel verantwortlich gemacht, Kriminalität und dergleichen. Dieses Muster ist auch in Europa bekannt und überall eng mit rasanter Wirtschaftsentwicklung verknüpft: der Fremde als Sündenbock
Am Rande sei vermerkt, dass die Ausländer erstmals in den Census einbezogen wurden. Gerade einmal rund 600'000 leben im Reich der Mitte. Darunter 120'000 Koreaner, 72'000 Amerikaner, 66'000 Japaner, 40'000 Burmesen, 36'000 Vietnamesen, 15'000 Franzosen, 15'000 Inder, 14'500 Deutsche und 13'000 Australier. Und Schweizer? Schätzungsweise einige Hundert auf dem Festland und zwei-, dreitausend in Hongkong. Genaueres war von der Botschaft in Peking nicht zu erfahren. Ab Freitagmittag punkt zwölf Uhr nämlich darf man dort auf dem Anrufbeantworter nur noch eine Botschaft hinterlassen. Eine Antwort selbst auf eine einfache Frage erhält man von den total überarbeiteten, aus Steuergeldern gut bezahlten Bürokraten jedoch nie......