Sie sitzt in ihrem Büro auf dem Römer Kapitol und heult vor sich hin. Dies zumindest berichten Römer Journalisten unter Berufung auf Mitarbeiter der Bürgermeisterin.
Mit 67 Prozent der Stimmen war die 38-jährige Virginia Raggi, Mitglied der „5 Sterne-Bewegung“, im Juni gewählt worden. Sie strahlte, weinte vor Freude und gab Dutzende Interviews. Selbst in Papua-Neuguinea wurde über ihre Wahl berichtet.
Beppe Grillo, Chef der „5 Sterne“ und oppositionelles Grossmaul, verkündete schon die Machtübernahme seiner Bewegung in ganz Italien. Ministerpräsident Matteo Renzi wurde von Grillo als „Polit-Leiche“ verhöhnt.
Verzweiflungsschrei
Die glänzende Wahl Virginia Raggis war ein Verzweiflungsschrei der Römer Bürgerinnen und Bürger. Seit Jahren wurde die Hauptstadt von den etablierten Parteien ins Chaos gewirtschaftet. Jetzt also gab es Hoffnung mit einer jungen, politisch unverbrauchten Frau.
Sie versprach, der Mafia die Stirn zu bieten, die sich wie eine Krake in Rom ausbreitet. Sie versprach auch, die Metropole von den Müllbergen zu säubern und die Rattenplage zu bekämpfen. Und natürlich gelobte sie, Velowege zu bauen, den öffentlichen Verkehr zu fördern und Klimaanlagen in die Busse einzubauen – in Busse, die nie kommen.
„Rom ist kein Märchen, sondern ein Desaster“
Die Wähler waren begeistert. Ihre Gegenkandidaten hatten keine Chance. Der 55-jährige Sozialdemokrat Roberto Giachetti galt zwar als der fähigste aller Bewerber, doch sein Charisma-fernes Auftreten liess ihn stolpern. Schon damals fiel auf, wie wenig sich Renzi für seinen Kandidaten in die Wahlschlacht warf. Er wusste wohl, dass gegen die intelligente und attraktive Virginia kein Kraut gewachsen ist.
Für das Berlusconi-Lager war der 51-jährige Alfio Marchini ins Rennen geschickt worden. Der Millionär und Polo-Spieler war bisher mehr als Playboy denn als Politiker aufgefallen. Während des Wahlkampfes höhnte er: „Raggi ist wie Schneewittchen in einer Märchenwelt, die es nicht gibt. ... Doch Rom ist kein Märchen, sondern ein Desaster.“
„Totaler Fehlstart“
Nach Raggis Wahl sagte uns ein Römer Journalist: „Dass man sich um dieses Amt reissen kann, ist mir ein Rätsel.“ In Rom mit seiner Mafia könner man nur verlieren. „Karrierefördernd ist dieses Amt sicher nicht.“ Er wies darauf hin, dass fast alle Römer Stadtpräsidenten gescheitert sind. Fast alle haben auf dem Römer Kapitol, wo sich das Büro des Stadtpräsidenten befindet, ihre politische Karriere beendet.
Genau das droht jetzt dem einstigen Shootingstar Virginia Raggi. Ihre politische Unbeflecktheit, die im Wahlkampf noch als Pluspunkt galt, wird ihr jetzt zum Verhängnis. Nichts gelingt ihr. „Totaler Fehlstart“, kommentieren die Zeitungen. „Totale Unerfahrenheit“, schreibt „La Repubblica“. Man kann sich fragen, ob die Kritik auch so giftig ausfallen würde, wenn Raggi ein Mann wäre. Schon hagelt es Rücktrittsforderungen.
Das sinkende Schiff
Am Donnerstag, während der Feier zum 73. Jahrestag der Kämpfe vor den Toren Roms, riefen einige Bürger der Bürgermeisterin zu: „Sei stark, schmeiss nicht hin.“ Balsam auf die geschundene Seele. Raggi antwortete leise: „Ich gebe nicht auf, ich gebe nicht auf.“
Fünf ihrer wichtigsten Mitarbeitenden haben schon das Weite gesucht. Wie Ratten verlassen sie das sinkende Schiff. Dazu gehören die Kabinettschefin, ferner der für Finanzen zuständige Stadtrat, zwei Manager der öffentlichen Verkehrsbetriebe und der Chef der städtischen Abfallentsorgungsgesellschaft Ama. Vor zwei Tagen bestimmte Raggi Raffaele De Dominicis zum Stadtrat für Haushalt und Budget. Am Donnerstag musste sie ihn entlassen, weil gegen ihn wegen Amtsmissbrauchs ermittelt wird.
Hochgeschraubte Erwartungen
Doch eine bleibt: Paola Muraro. Sie ist seit zwölf Jahren Umweltbeauftragte und für das Abfallchaos wesentlich mitverantwortlich. Wegen Amtsmissbrauchs und Veruntreuung von Geld wird nun gegen sie ermittelt. Doch ausgerechnet an Paola Muraro hält Virginia Raggi fest. Am Donnerstagmorgen untersuchten Carabinieri ein Büro der Abfallgesellschaft und beschlagnahmen Kisten voller Dokumente.
Die Erwartungen in Raggi waren derart hochgeschraubt, dass ein schneller Fall programmiert war. Die leidenden Römer erwarteten Wunder und rasche Besserung. Raggi versprach, bis zum 20. August das Abfallproblem gelöst zu haben. Nichts ist gelöst. Natürlich kann niemand den „Moloch Rom“ in wenigen Wochen sanieren. Doch etwas mehr hätte man von Raggi schon erwartet, vor allem ein Konzept.
Keine road map
Schnell erwies sich, dass die „sindaca“ keinen Plan hat. Ausser schönen Worten im Wahlkampf fehlt ein Konzept, eine road map, wie der Müll beseitigt werden kann. Kürzlich schlug sie vor, den Abfall in Verbrennungsanlagen nach Umbrien zu bringen. Doch postwendend kam aus dem umbrischen Perugia und Orvieto ein kategorisches Nein. „Raggi scherzt wohl“, sagt Catiuscia Marini, die Präsidentin der Region Umbrien.
Ob die linke Region Umbrien aus politischen Gründen den „5 Sternen“ nicht helfen will, sei dahingestellt. Doch auch andere, weniger linke italienische Regionen wollen keinen zusätzlichen Abfall aus Rom.
Grillos grosse Klappe
So türmen sich denn die Abfallberge. Selbst auf dem Campo de’ Fiori, einem Zentrum der Stadt und Touristenmagnet, spazieren fröhliche Ratten zwischen den Marktständen. Die Stadt erstickt im Verkehr. Nichts bewegt sich.
Im Hintergrund lauert Beppe Grillo. Er sagt Raggi, was zu tun ist und was nicht. Doch der laute Grillo musst jetzt schmerzlich erfahren, dass es einfacher ist, Oppositionspolitik zu betreiben und eine grosse Klappe zu führen als zu regieren.
„Aha, die können es auch nicht“
Grillos „5 Sterne-Bewegung“ war in den letzten Monaten immer mehr zur Gefahr für Matteo Renzis Sozialdemokraten geworden. In Meinungsumfragen legten die „5 Sterne“ kontinuierlich zu. Gleichzeitig macht das fehlende Wirtschaftswachstum Renzi schwer zu schaffen.
Doch das Römer Chaos könnte sich nun negativ auf die „5 Sterne“ auswirken. Und zwar nicht nur in Rom, sondern im ganzen Land. Schon sagen sich viele Bürgerinnen und Bürger: „Aha, die können es auch nicht. Mit denen wird es ja noch schlimmer.“
Verschwörungstheorien
Renzi kommen die Römer Turbulenzen nur gelegen. Er hat schwierige Zeiten vor sich. Zwischen dem 15. November und dem 5. Dezember findet die Volksabstimmung über seine Verfassungsreform statt. Diese soll das Land endlich regierbarer machen. Doch die Opposition, vor allem auch auf der linken Seite in Renzis sozialdemokratischer Partei, ist gross. Der Ministerpräsident hatte erklärt, er werde zurücktreten, wenn er die Abstimmung verliert. Selbst wenn er dann doch nicht zurücktritt, wird er bei einer Niederlage schwer angeschlagen und nur noch bedingt regierungsfähig sein.
Renzi hofft jetzt, dass sich die Wähler ihm zuwenden, wenn sie sich wegen des Römer Desasters von den „5 Sternen“ abwenden. Doch das ist längst nicht sicher.
Rom, die Ewige Stadt war schon immer die Stadt der ewigen Verschwörungstheorien. Die jüngste lautet so: Renzi hat sich bei der Wahl zum Römer Bürgermeister bewusst zurückgehalten und seinen Kandidaten nur zögerlich unterstützt. Er wusste, dass der Moloch Rom unregierbar ist. Er wusste auch, dass Virginia Raggi gewählt wird – und bald scheitert. Und dann, so soll der schlaue Renzi spekuliert haben, würde er die Pfründe einheimsen. Se non è vero ...
Siehe auch: Schneewittchen auf dem Kapitol?