Justine Triets Film «Anatomie d’une chute» ist ungewöhnlich auch durch seine Absage an Schönheit in jedweder Form. Im Übrigen steht er in einer grossen Tradition des französischen Films und ist nicht zuletzt Schauplatz einer ausserordentlichen kynologischen Performance.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Sandra Hüller ist nicht schön. Auch nicht «apart», was immer das heissen mag, ja nicht einmal «interessant» mit der groben, fleischigen Nase und Augen, die sich schnell zu Schlitzen verengen. Aber, und jetzt kommen wir von der blossen Bildbetrachtung weg und hin zur Wahrnehmung der Erscheinung auf der Bühne oder, im vorliegenden Fall, auf der Kinoleinwand: Sie ist eine aussergewöhnliche Schauspielerin, die uns durch Sprache (allerdings nicht in «Anatomie d’une chute», dazu gleich mehr), Mimik und Gestik, kurz durch überlegenes Körpergefühl und damit Raum- und Zeitgestaltung unmittelbar fasziniert.
Das Nicht-Schöne
Justine Triet, die Regisseurin von «Anatomie d’une chute», hat mit Hüller bereits in ihrem vorherigen Film zusammengearbeitet, «Sibyl» (2019), wo sie in einer Nebenrolle eine mondäne Regisseurin gab (und wo die eiskalte Titelheldin von «Toni Erdmann» an der Seite von zwei anderen souveränen Nacktdarstellerinnen agierte, Virginie Efira und Adèle Exarchopoulos). Hier nun sollten der Hauptfigur, der in einem Gerichtsprozess die Verantwortung am Tod des Ehegatten vorgeworfen wird, nicht im Vornherein irgendwelche Sympathien des Publikums zuteil werden, sei es im Gerichts-, sei es im Kinosaal. Sympathien, wie sie, zumal bei einer Frau, vorzugsweise Schönheit befördert. Bei den schönen blonden Nachtbewohnerinnen von Hollywoods Film noir droht ja auch das Verbrechen noch einen gewissen Sexappeal anzunehmen.
«Verhässlichung» also anstatt Schönfärberei. Wie zu lesen war, hat die Regisseurin auch bei der Bildgestaltung darauf geachtet, hier eben keine «schönen» Bilder zu präsentieren. Schmucklosigkeit als Stilprinzip. Weil sie nicht schön ist und nichts unternimmt, diesem Eindruck entgegenzuwirken (im Gegenteil, ist man versucht zu sagen), muss diese Sandra Voyter ihre Unschuld umso vehementer beteuern.
Grosse Tradition
«Anatomie d’une chute» steht in einer Tradition des französischen Films, die mindestens bis zu «Justice est faite» (1950) von André Cayatte zurückreicht, in ein Frankreich, in dem noch lange die Todesstrafe gelten sollte. Und Cayatte, von Haus aus Jurist, hat in der Folge wie kein zweiter den Gerichtssaal ins französische Kino gebracht. Jüngstes Beispiel dieser Tradition war der durchaus auch selbstreferentielle «Les choses humaines» (2021) von Yvan Attal gewesen, mit Attal, Charlotte Gainsbourg, seiner Frau, und Ben Attal, ihrem Sohn, in den Hauptrollen. Hier sieht sich der verhätschelte Sprössling eines Promipaars angeklagt, eine Freundin vergewaltigt zu haben, wovon es aber keine direkten Zeugen gibt.
In Cayattes Film ist die Protagonistin, eine Ärztin, zunächst nur der Euthanasie ihres Geliebten angeklagt, der unheilbar an Kehlkopfkrebs erkrankt war. Dann erweist sich, dass sie, die als Erbin eingesetzt wurde, eine Affäre mit einem jungen Mann begonnen hat. Berührungspunkte mit «Anatomie d’une chute» ergeben sich zum einen dadurch, dass durch die Verhandlungen der Geschworenen, die ins Zentrum des Films rücken, der allfällige Mord, der den Sachverhalt des Totschlags zu überlagern beginnt, zunehmend in Zweifel gerät. Die Schuld steht denn auch am Ende des Films nicht fest. Zum andern ist diese Elsa Lundenstein eine Deutsche, was im Nachkriegsfrankreich von einiger Brisanz war – so heikel, dass sogar Verstimmungen mit Deutschland befürchtet wurden.
Die Crux der Sprache
In Triets Film (vgl. die Besprechung im Journal 21 vom 4. November 2023) spielt die Herkunft der Protagonistin auch eine gewisse Rolle, wobei festzustellen ist, dass diese Sandra Voyter nicht als Sympathieträgerin eingesetzt ist – als Deutsche, aber eben auch generell. Interessant ist nun aber, wie die deutsche Sprache hier geradezu gecancelt wird. Triet und ihr Drehbuchautor Arthur Harari betreiben zwar einigen Aufwand, um den Sprachgebrauch, wie er im Film praktiziert wird, zu begründen. Wenn die Protagonistin, die mit französischem Mann und Sohn in den Bergen oberhalb Grenobles haust, die meiste Zeit Englisch spricht, dann wird das damit gerechtfertigt, dass sie sich mit ihrem Ehemann, den sie in London kennengelernt hat, auf das «neutrale Terrain» jener Zweitsprache geeinigt habe, bei der weder das Deutsche noch das Französische einen Heimvorteil ausspielen kann.
Was mit dem (oder gegen den) Gatten zur Not funktionieren mag, wird beim Kind allerdings in hohem Mass unglaubwürdig. Wenn schon, hätte sie mit Daniel (der offensichtlich Französisch als Erstsprache hat) anstelle des Englischen ihre Muttersprache zu sprechen – die einzige «natürliche» Lösung. Zudem: Wenn Sandra wiederholt darauf verweist, vor allem in den Szenen vor Gericht, dass sie sich adäquat hier nur auf Englisch ausdrücken könne, lässt ihr schrecklich klingendes Idiom fast nur den Schluss zu, dass offenbar auch sprachlich «Sympathiereduktion» betrieben werden soll; ihr Französisch jedenfalls wirkt (phonetisch) besser.
Der dubioseste Punkt ist aber das schriftstellerische Œuvre dieser angeblichen Erfolgsautorin, das schon eine ganze Reihe von Titeln umfassen soll. Mit gutem Grund erfahren wir nie, in welcher Sprache es denn greifbar ist: Geschrieben müsste es in Deutsch sein, denn Englisch ist aus dem genannten Grund schwer vorstellbar; vorliegen müssten Sandras Bücher in französischer Übersetzung. Triet und ihr Koautor retten sich vor solchen Aporien, indem sie sich einfach darüber hinwegmogeln.
Dennoch hat «Anatomie d’une chute» in Cannes wohl zu Recht die Palme d’or gewonnen – für ein Seh- und Nachdenkprogramm, das dem Publikum seine Vorurteile (oder seine vorschnellen Urteile) deutlich werden lässt. Nicht ausgezeichnet worden ist die Hauptdarstellerin; hier hat die Jury die schöne (versehrte) Merve Dizdar von Nuri Bilge Ceylans «Les herbes sèches» gekrönt (zurzeit bei uns im Kino).
Palm Dog in Cannes
Wenn sich sagen lässt, dass der Film keine sympathischen Figuren präsentiert (mit Ausnahme allenfalls des Buben, aber auch hier bleibt die Distanz gewahrt), dann gilt das nicht für einen zentralen Charakter –, den ich in keiner der konsultierten Kritiken mehr als beiläufig erwähnt gefunden habe.
Wir reden hier selbstverständlich von Snoop, dem Hund. Ihm gehören nicht nur der Anfang und der Schluss des Films. Bereits die Eröffnungssequenzen machen klar, dass es hier um mehr als einen blossen Pet-Faktor geht Der Hund und seine Läufe durchs Haus lassen uns eindeutig die Perspektive des Tiers einnehmen, und die grosse Vergiftungs- und Sterbeszene wird zur dramaturgischen Schlüsselstelle des ganzen Films, indem sie die Argumentation in letzter Minute in eine neue Bahn lenken wird. Sie wurde, so scheint es, keineswegs durch irgendwelche Tricks bewerkstelligt, sondern ist das Ergebnis einer hart trainierten darstellerischen Meisterleitung Messis, wie sich der siebenjährige Border Collie im richtigen Leben rufen lässt.
Die logische Folge davon war die Verleihung des diesjährigen «Palm Dog» – gegen ansehnliche Konkurrenz (darunter Kaurismäkis «Fallen Leaves», Loachs «The Old Oak» oder Rohrwachers «La chimera»), wie zu lesen war. Und indem Justine Triet – ganz gegen die übrige Laufrichtung ihres bemerkenswerten Films – Snoop am Schluss sich an die erschöpfte Sandra schmiegen lässt, hat sie nicht einfach einen Kuschelfaktor eingesetzt, sondern erinnert uns daran, dass das einzige wirklich (mit)fühlende Wesen in dieser Geschichte kein Mensch ist.
Sandra Hüllers richtiger Hund
Noch sehr viel schärfer artikuliert sich diese Diskrepanz zwischen Tier und Mensch im zweiten Film, in dem Sandra Hüller dieses Jahr in Cannes präsent war: «The Zone of Interest», Jonathan Glazers meisterhafter Konkretisierung von Martin Amis‘ Roman über das Leben der Familie Höss an der Mauer zum Konzentrationslager Auschwitz. Durch diese wie tote Atmosphäre von Hitlers Schlächtern, Schergen und Nutzniessern tollt ein wunderschöner Hund, zugewandt, hinreissend lebendig und von niemandem beachtet, am wenigsten von Sandra Hüllers furchterregender Hedwig Höss – diese Hündin ist keine andere als eben Hüllers schwarzer Weimaraner Dilla.
An den am Samstag, 9. Dezember, in Berlin vergebenen Europäischen Filmpreisen hat erwartungsgemäss «Anatomie d’une chute» triumphiert: Bester Film, Beste Regie (Justine Triet), Beste Darstellerin (Sandra Hüller), Bestes Drehbuch (Justine Triet und Arthur Harari) sowie Bester Schnitt (Laurent Sénéchal). Der Film läuft weiterhin in unseren Kinos.
«The Zone of Interest» soll am 29. Februar 2024 ins Kino kommen.