Schleim löst gemeinhin Ekel aus und gilt, wenn mit menschlichen Verhaltensweisen assoziiert, als unerfreuliche Eigenschaft. Und doch ist das Schleimige für sämtliche Kreaturen essentiell. Vielleicht wird es dereinst gar als Trägermedium künstlicher Intelligenz dienen.
Neulich lief Frank Schätzings «Der Schwarm» im Fernsehen, der zur Öko-Schwarte hochgedonnerte alte Mythos von der Rache der Natur an der arroganten Spezies Mensch. Eigentlich würde der Titel «Der Schleim» besser passen. Denn neckisch am Plot ist, dass es Einzeller sind, die dem Menschen zusetzen. Im Schwarm – also zu einem submarinen, lernfähigen, intelligenten Gel aggregiert – erweisen sie sich als dem Menschen und seiner Intelligenz überlegen.
Das weckt apokalyptischen Schauder. Kommt hinzu, dass Schleim ohnehin nicht oben auf der Sympathieskala figuriert. Man kann ihn schwer kategorisieren. Weder fest noch flüssig, vielmehr amorph und proteisch, spricht er am ehesten unser Ekelgefühl an. Die Fachterminologie spricht neutral von «Hydrogel». Die hoch wasserhaltige Substanz verdunstet schnell im Licht und an der Luft, deshalb versteckt sie sich vorzugsweise im Körper von Tieren oder bei Pflanzen im Boden. Diese Verborgenheit im Dunkel trägt zum zwielichtigen, «luschen» Charakter bei. Ich weiss nicht, ob Schätzing den bedrohlichen Schleim in den Tiefen der Meere als Dramatis personae auch deshalb wählte, um auf die Ängste in den «schleimigen» Tiefen der Zuschauerpsyche abzuzielen.
Schleim muss sein
Aber das ist nicht Hauptthema hier, sondern der Schleim als Grundlage unseres Seins: als Lebensmedium. Wie die Biologin und Wissenschaftsautorin Susanne Wedlich in ihrem faszinierenden «Buch vom Schleim» schreibt, habe sie im Laufe ihrer Recherchen noch keine schleimfreie Kreatur angetroffen, und sie zweifelt, dass so etwas überhaupt existiert: «Es gibt kaum eine evolutionäre Frage, auf die die Natur nicht auch mindestens eine Antwort aus Schleim gefunden hat (…) Alle wirbellosen Tiere setzen bei der Fortbewegung, der Kommunikation, der Fortpflanzung, der Verteidigung, und sogar bei Ernährung auf Schleim.» *)
Schleim war im 19. Jahrhundert prominenter Kandidat für den Ursprung des Lebens. Wissenschafter und Philosophen spekulierten über Urschleim in den Tiefen der Ozeane. Der Arzt und Philosoph Lorenz Oken zum Beispiel gerät in seinem «Lehrbuch der Naturphilosophie» in geradezu erotische Verzückung: «Der Schleim ist dem Meer ursprünglich und wesentlich (...) Alles Leben aus dem Meer, keines aus dem Continent (...) Aller Schleim ist lebendig (...) Das ganze Meer ist lebendig. Es ist ein wogender, immer sich erhebender und immer zusammensinkender Organismus (...) Die Liebe ist aus dem Meerschaum entsprungen».
Der menschliche Körper ist eine einzige Schleimansammlung. Schleimbeutel halten uns gelenkig. Schleimhäute schützen uns vor Krankheitserregern, etwa in den Atemwegen oder im Verdauungstrakt. Milliarden von Mikroben bevölkern sie, sorgen für unser Wohlbefinden. Schleim ist das Lebensmedium der Mikroben. Man spricht vom Biofilm. Wir bilden mit unserem Mikrobiom – der Gesamtheit unserer Mikroorganismen – ein Ökosystem, das man eigentlich nicht als Individuum bezeichnen müsste, sondern – wie das die Biologin Lynn Margulis 1991 vorschlug – als Holobionten: eine vernetzte, verschleimte Lebensgemeinschaft «niedriger» und «höherer» Arten. Bin ich es, der die Mikroben in mir siedeln lässt, oder sind es die Mikroben, die mich als Mehrzeller halten? Wer hat im Holobionten das Sagen?
Schleimhaut der Meere
Auch das Meer trägt eine Schleimhaut, eine millimeterdünne Grenzfläche zwischen Wasser und Luft. Das besondere Ökosystem nennt sich Neuston. Es enthält vorwiegend mikrobielle Bestandteile. Sie sind im Abbau von Stoffen hochaktiv wie die Bakterien im Dickdarm. Durch die Erwärmung der Meere könnten die Mikroorganismen aktiver werden und das fein ausbalancierte Neuston nachhaltig stören, zum Beispiel dadurch, dass sie den Stoffwechsel zwischen Wasser und Luft erschweren.
Man muss sich die Dimension dieser Auswirkung vor Augen führen: Zwei Drittel der Erdoberfläche sind von Meeren bedeckt. Die Plastikverschmutzung gefährdet das Neuston akut. Die Entfernung des Mülls erweist sich als heikel, weil sie gleichzeitg die Schleimhaut gefährdet. Meeresbiologen sehen es nicht als unwahrscheinlich an, dass Plastik sich sozusagen in das Neuston integrieren und so zu einem künstlich-natürlichen Müllschleimschicht verschmelzen würde. Bleibt abzuwarten, welche Spezies davon am meisten profitieren.
Schleim im militärischen Einsatz
Seit alters kennt man das Phänomen der «Morimarusa», des «bewegungslosen», «geronnenen», «toten» Meers: eine gelatinöse Konsistenz des Wassers, die an Schleim erinnert. Ursache kann der Schleimaal sein. Das Tier, dessen Kopf an die gigersche Kreatur im Film «Alien» erinnert, kann bei Gefahr Unmengen einer gelatinösen Substanz freisetzen. Die Verfolger kommen dann in diesem Schleim kaum mehr vorwärts.
Das hat militärisch denkende Köpfe, die sich immer wieder mal für die Taktiken der Tierwelt interessieren, auf die Idee gebracht, den Stoff im Labor zu synthetisieren. Die US-Navy führt Experimente durch, den Glibber als Bremsmittel in der Verfolgung von verdächtigen Schiffen einzusetzen. Der Trick besteht darin, mit synthetischem Aalschleim das Meer so zu «versteifen», dass verfolgte Schiffe im Schleim kleben bleiben.
Wir sind gewohnt an die Vorstellung von Geräten aus solider, fester Materie. Wir müssen sie revidieren. Hinter der beständigen Form des Computerbildschirms wabbelt eine gelatinöse Masse: Flüssigkristall. Im elektronischen Schleim können auch Informationen fliessen. Und vielleicht führt der Glibber zu einer Neueinstellung des Blicks auf die KI-Forschung: eines nicht siliziumbasierten. Die organische Intelligenz hängt vermutlich enger mit unserer biologischen Wetware zusammen als bisher angenommen. Man müsste also Computer, um sie «intelligenter» zu machen, schleimiger machen. Bereits experimentieren unkonventionelle Informatiker wie etwa der Brite Andrew Adamatzky mit Schleimpilzen. Er betrachtet deren Problemlösungsverfahren bei der Nahrungssuche als Vorbild alternativer organischer Algorithmen. Gut möglich, dass die Zukunft der Technologie im Schleim liegt.
Schleimer, Speichellecker, Kreidefresser Rotznasen
Schleim – im wörtlichen wie übertragenen Sinn – ist auch gelatinöses Transportmittel für Karrieren. Bekannt ist die Gattung der «Schleimer». Sie sondern ein spezielles Sekret ab – Ergebenheit, Lobhudelei, Schmeichelei, Bigotterie –, das sich bestens als Gleitmittel für das Rutschen nach oben eignet. Vertreter dieser charakterlichen Visko-Elastizität finden sich in der Welt der Politik, des Geschäfts, der Wissenschaft, der Kultur. Verlogenheit und Glitschigkeit sind bei ihnen Synonyme. Es gibt auch solche, die sondern Meinungen ab wie Speichel. Und andere, die diesen Speichel unkritisch resorbieren. In diesem Zusammenhang tritt auch ein verwandter Typus auf. Er frisst so viel Kreide, dass er nicht anders kann als Schleim scheissen.
Seiner unappetitlichen Erscheinung entsprechend eignet sich der Schleim sehr gut für das Brechen von Anstandsregeln. Ausspucken gehört sich eigentlich nicht mehr, vielleicht noch an einer Weindegustation oder im Fussball. Anspucken, rotzen – schweizerisch: «chodere» – schon gar nicht, zumindest nicht physisch. Im übertragenen Sinn jedoch schon. Verbaler Schleimauswurf in beleidigender, beschimpfender Absicht erfreut sich nach wie vor regen Gebrauchs, vom Substantiv «Rotznase» – schweizerisch: «Schnuderhung» – über Adjektive wie «schnoddrig» oder «schmierig», bis zu Verben wie «rotzen». Der Aussichtsort Chuderhüsi im Emmental hat allerdings nichts mit einem Haus voller Schleim zu tun, sondern mit dem Kauder, dem Abfall des Reinigens von Flachs.
Schleim und Regression
Wer sagt, Poesie eigne sich nicht für Schleim? Der Beginn des 20. Jahrhunderts war eine Zeit der Untergangsverliebtheit, Gottfried Benn einer ihrer poetischen Tenöre mit seinem Flair für den Tod und das Nichts. 1913 erschien sein Gedicht «Gesänge», in dem er sich nach einer Existenz als Schleimklümpchen zurücksehnt:
Oh, dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären.
Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
Leben und Tod, Befruchten und Gebären
Glitte aus unseren stummen Säften vor.
Das goutierten nicht alle. Brecht kommentierte sarkastisch: «Dieser Schleim legt Wert darauf, mindestens eine halbe Million Jahre alt zu sein. (…) Ein Schleim von höchstem Adel.» Klaus Mann sprach später von «billiger Urschleim-Schwärmerei», Indiz der «Selbstvernichtung eines Intellektuellen». Man kann Benns Gedicht als Loblied einer Regressivität lesen, die sich schon bald in Europa feiern sollte. Eine Zeit, in der das hochkomplexe Individuum zwar nicht zum Schleimklümpchen regredierte, aber doch zum subkomplexen Partikel einer nationalsozial gelierten politischen Masse.
Apotheose des Schleims
Nicht erst Schätzing, sondern bereits der leider fast vergessene Schriftsteller Walter Richartz machte den Schleim zum Thema eines Romans «Reiters westliche Wissenschaft». Der Protagonist John Reiter, Arzt und Chemiker, erwärmt sich für das «Mucus-Projekt», das gründliche Studium des Schleims, angeregt von seinem Mentor, dem Arzt Dr. Jeffries, einem Enthusiasten der mukösen Materie. Sie hat für ihn theologische Qualität. Dr. Jeffries Verehrung des Schleims gipfelt in dessen Apotheose: «Kann man sich eine feste Gestalt Gottes vorstellen, die nicht lächerlich ist? – etwa ein Nashorn, einen Kaktus oder eine menschliche Gestalt, die der meinen gleicht? (…) Aber auch die Vorstellung von Gott als einer dünnen Flüssigkeit ist unwürdig, weil er dann ja nur in einem Fass, Topf oder einer Flasche existieren könnte! (…) Als gösseres Mucus-Gebilde ist er hingegen schon denkbar, zum Beispiel als eine Art Qualle! (…) Ist sie nicht wunderbar, die Vorstellung von Gott als einer enormen intergalaktischen Qualle!»
Natürlich ist das nur halber Ernst. Aber das Halbe macht das Ganze oft erkennbarer. Wenn Sie sich also das nächste Mal schnäuzen, tun Sie es gebührend andachtsvoll.
*) Susanne Wedlich: Das Buch vom Schleim. S.55/56, Berlin, 2019