Der folgende Beitrag von Michael Rosentreter* setzt sich kritisch mit den Argumenten jener Intellektuellen in Deutschland auseinander, die nach Putins Überfall auf die Ukraine gegen deutsche Waffenlieferungen an das angegriffene Land Stellung bezogen haben. Seiner Meinung nach haben diese Kreise den totalitären und expansiven Charakter von Putins Herrschaftsmethoden nicht begriffen oder verdrängt. Sie berufen sich auf stereotype, aber illusionäre Wirklichkeitsformeln.
Bis zur Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland am 1. Juli 2011 musste sich zumindest jeder junge Mann einmal in seinem Leben mit seiner Einstellung zu den freiheitlich-demokratischen Werten und seiner Haltung dazu auseinandersetzen. Manch einer mag seine Entscheidung auch in Dankbarkeit zum demokratischen und sozialen Bundesstaat (GG, Art. 20) getroffen haben, denn die Aufbauleistung der Bundesrepublik Deutschland reichte weit über die Wiederherstellung institutioneller und ökonomischer Strukturen hinaus bis in die gesetzlichen Mechanismen zum Ausgleich sozialer Ungleichheit.
Vielen von ihnen fiel die Entscheidung angesichts ihrer traumatisierten Elterngeneration und den von Deutschland ausgehenden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts sicher nicht leicht. Niemand hätte selbst in seinen Albträumen die Vorstellung gehabt, unmittelbaren Anschauungsunterricht für das Aufkommen der totalitären Regime und der von ihnen verübten Gräueltaten im vergangen Jahrhundert einmal als Zeitzeuge zu erhalten, denn seit dem 24. Februar 2022 findet in Europas Mitte ein Angriffs- und Vernichtungskrieg eines seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gekannten Ausmasses statt.
Intellektuelle und ihre Verantwortlichkeit
Mit der Dauer des Krieges in der Ukraine scheinen sich Teile der deutschen Gesellschaft in einem Modus der distanzierten Empathielosigkeit und intellektuell gerechtfertigten Bequemlichkeit einzurichten. Beredte Zeugnisse sind der am 22. März 2022 initiierte Appell «Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz!», die mit fünf Intellektuellen (Harald Welzer, Alice Schwarzer, Daniel Barenboim, Diana Kinnert und Richard David Precht**) geführten Interviews im «Stern» 12/2022 vom 17.03.2022 und der von Alice Schwarzer initiierte offene Brief vom 29. April 2022 mit der Aufforderung an den Bundeskanzler, der Ukraine keine schweren Waffen zu liefern.
Nun vermittelt die Bezeichnung derjenigen, die in einem Land als Intellektuelle gelten, einen tiefen Einblick in die mentale Verfasstheit eines Volkes. Laut Definition sind Intellektuelle «Personen, die in zweckfreier Geistestätigkeit (…) jenseits sozialer Eigeninteressen im Dienste humanitärer oder ästhetischer Ideale (…) Probleme (…) zum Ausdruck bringen» (Hillmann 1994), dies in der Regel in Form einer publizistischen Tätigkeit. Es geht folglich weniger um Techniken der Gewinnung von Informationen als um Fähigkeiten ihrer intellektuellen Verarbeitung – des Erkennens, Verstehens und der Einsicht. Individuell bedingte Varianz ergibt sich vor allem aus der Bereitschaft zu konsequenter Gedankenführung und dem persönlichen Verhältnis zum Prinzip Verantwortung.
Dennoch sollte man von Intellektuellen berechtigterweise erwarten dürfen, dass sie gegen die üblicherweise verbreiteten psychologischen Wahrnehmungsfehler in gewisser Weise gefeit sind und die Bedingungen, die zu Fehlschlüssen führen, zu meiden wissen – oder zumindest darum bemüht sind.
Ungehörte Warner
Der kognitive Kardinalfehler besteht darin, die Fakten seiner bestehenden Meinung unterzuordnen anstatt sich seine Meinung aus der Faktenlage zu bilden. Dieses rationalen Vergehens machen sich bedauerlicher auch etliche der besagten Intellektuellen schuldig.
Ein weiteres fundamentales mentales Versagen – wenn nicht in zynischer Intention – besteht darin, in meinungsbildender Position Meinungen ungetrübt von historischer Faktenkenntnis zu äussern und somit soziale Wirklichkeit zu konstruieren. Vielleicht handelt es sich bei solchem Gebaren weniger um ein mentales Versagen als um moralische Fahrlässigkeit.
Darin liegt auch ein Versagen jener öffentlichen Medien, die erst seit dem 24. Februar jene Tatsachen berichten, die z. T. seit Jahren journalistisch seriös recherchiert auf den verschiedensten Portalen (z. B. BBC, Radio Liberty, Deutsche Welle) verfügbar sind. Die kritisch-analytischen Reportagen einiger investigativer Journalisten wie Christian Neef, Golineh Atai, Gesine Dornblut verhallten weitgehend ungehört oder wurden von den Verantwortlichen in Medien und Politik ignoriert. Lehren wurden dort offensichtlich nicht gezogen, denn der Sprecher des russischen Kriegsministeriums, Igor Konaschenkow, erscheint in den bundesdeutschen Medien fast ebenso präsent wie Bundeskanzler Olaf Scholz. Die Ausgewogenheit der medialen Berichterstattung und die Offenheit des öffentlichen Diskurses sind die Stärke der Demokratien und deswegen ein unbedingt zu schützendes gesellschaftliches Gut.
Angesichts der verfügbaren Informationen kann die überraschte Empörung über den von Russland geführten Krieg – ungeachtet des Umfangs der angestrebten Kriegsziele – nur als grobe Fehleinschätzung gewertet werden. Jede mit militärischer Gewalt begangene Grenzüberschreitung in ein souveränes Land ist laut Definition als Krieg zu bezeichnen.
Anfälligkeit für konstruierte Wirklichkeitsformeln
Eine der schlimmsten mentalen Dummheiten, die gerade Intellektuellen nicht unterlaufen sollte, besteht in der unreflektierten Verwendung formelhafter Stereotypen. Solche mentalen Abkürzungen entfalten, sind sie erst einmal Bestandteil der umgangssprachlichen Kommunikation, verhängnisvolle Irrtümer, die an der Analyse und Lösung von Problemen stracks vorbeiführen. Dazu gehört die Leugnung der historischen Erfahrung mit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts, insbesondere der stalinistischen Diktatur und den faschistischen Diktaturen.
Man sollte meinen, dass die teilweise deckungsgleichen perfiden Mechanismen von hasserfüllter Propaganda, diplomatischer Erpressung, militärischer Einschüchterung und totaler Kriegsführung angesichts nicht bestreitbarer historischer Analogien – auch und gerade bei den Intellektuellen – wachsame Aufmerksamkeit bewirken und Lehren aus der Vergangenheit zur Anwendung bringen würden.
Ernüchternd ist vor allem das offensichtliche Unvermögen – oder ist es Naivität? – sozial konstruierte, also durch wiederholte Kommunikation erzeugte Narrative, zu erkennen und ihnen nicht zu erliegen. Problematisch für den offenen Diskurs ist vor allem der moralische Duktus, in dem diese vorgetragen werden, weil damit jeder Einwand als unmoralisch disqualifiziert wird. Im aktuellen bundesrepublikanischen Diskurs gängige Beispiele für die weitverbreitete Akzeptanz zweifelhafter oder falscher Stereotypen sind:
- Die «Zeitenwende»: Diese nahm ihren Beginn spätestens am 28. Februar 2014 mit der Eroberung ostukrainischer Territorien und der Krim, genau genommen aber schon absehbar ab dem 31. August 1999 mit den nachweislich inszenierten Sprengstoffanschlägen auf Wohnhäuser zur Rechtfertigung des russischen Angriffs auf Tschetschenien. Genau genommen aber bezeichnet diese «Zeitenwende» einen Rückfall in überwunden geglaubte politische Denkschemata des vergangen kriegerischen Jahrhunderts – ein Umstand, dem mit der Vorstellung eines linearen Verlaufs von Fortschritt nicht beizukommen sein wird.
- Die «NATO-Osterweiterung»: Es gibt kein ratifiziertes bilaterales Vertragswerk, in dem dies Russland zugesichert worden ist. Im Gegenteil stimmte Russland der Europäischen Sicherheitscharta (Dokument von Istanbul vom 19. November 1999 – Freie Wahl der Bündniszugehörigkeit, keine Sicherheitsansprüche zulasten anderer Staaten) zu.
- Russlands berechtigte und zu berücksichtigenden Interessen in seiner Einflusssphäre: Dieser ausgerechnet von imperialen Skeptikern vorgebrachte koloniale Gestus, spricht Nationen ihre völkerrechtlich zugestandene Souveränität ab. Hinzu kommt ein im 21. Jahrhundert anachronistisch gewordenes Denken in politischen Machtblöcken. Dabei wird völlig ausser Acht gelassen, dass die Expansion der Sowjetunion immer durch die militärische Okkupation zuvor mindestens teilweise unabhängiger nationaler Territorien – z. B. Polen, Ukraine, die baltischen Staaten und Finnland – infolge des russischen Bürgerkriegs und der alliierten Kriegskonferenzen (Teheran 1943, Jalta und Potsdam 1945) erfolgte. Eine historisch fälschlich begründete Kontinuität zwischen Kiewer Rus und Moskowien legitimiert keinen völkerrechtswidrigen Überfall auf souveräne Staaten.
- Die Vorstellung einer besonderen deutschen historischen Verantwortung gegenüber Russland und die synonyme Gleichsetzung mit der imperialen Sowjetunion: Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt mit dem Zusatzprotokoll über die Aufteilung Polens und des Baltikums (24. August 1939) ermöglichte den Nazis erst die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs, der als Vernichtungskrieg im Osten vor allem auf den Territorien Weissrusslands und der Ukraine ausgetragen wurde (vgl. T. Snyder: Bloodlands).
- Der Nimbus der unbesiegbaren atomar bewaffneten russischen Armee: Bei aller propagandistisch wirksam inszenierten technischen Modernisierung hinkt die russische Armee hinsichtlich der Reformen ihrer inneren Führung seit 1945 hinterher. Ihre inneren Feinde und besten Verbündeten der Ukrainer heissen Alkoholismus, Führungsschwäche, Korruption, Kriminalität, Misswirtschaft und «Dedowschtschina» (Ältestenhierarchie in der russischen Armee).
- Die atomare Drohkulisse und Deutschland als Kriegspartei: Angesichts der scheinbaren ideologischen Entschlossenheit der russischen Führung und der propagandistisch erzeugten Verblendung der russischen Öffentlichkeit besteht die Gefahr einer nuklearen Eskalation zumindest potenziell, aber jahrzehntelang war das immer noch bestehende Gleichgewicht der atomaren Hochrüstung auch Garant einer stabilen Sicherheitsarchitektur. Die widersprüchliche Rationalität aggressiver Drohgebärden besteht in Einschüchterung einerseits bei gleichzeitiger Absicherung kleptokratischer Interessen der russischen Eliten andererseits. In dieser Logik ist die Zuweisung von Verantwortlichkeit und Schuld für eine etwaige Eskalation an Dritte bloss ein rhetorischer Akt autokratischer Willkür.
Notabene: hätte die Ukraine mit dem Budapester Abkommen 1994 nicht auf ihre Atomwaffen verzichtet, würde sich die Frage nach der Lieferung sog. schwerer Waffen in der gegenwärtigen Situation nicht stellen.
- Die Vorstellung der Deeskalation durch Verhandeln mit einem totalitären Regime: Nicht erst seit dem Amtsantritt Putins in das Amt des russischen Präsidenten 1999 führt Russland mittelbar und unmittelbar Kriege in einem durchschnittlichen Vierjahres-Takt: Afghanistan (1979 bis 1989), Tschetschenien (1994 bis 1996, 1999 bis 2009), Georgien-Ossetien (2008), Syrien (2011), Ukraine (2014 und 2022), Aserbeidschan-Armenien (2020), die Präsenz russischen Militärs in Kasachstan (2022) und die aktuellen Vorbereitungen zur Eroberung Moldawiens.
Die Expansionspläne Putins und seiner «Kamarilla» (ein von Golo Mann gerne verwendeter Begriff) werden unverhohlen offenbart: Russkij Mir, die Grenzen des Sowjetimperiums, die Schaffung eines eurasischen Machtbereichs unter russischer Führung von Wladiwostok bis Lissabon. Wo endet die Eskalation und worüber sollte man mit notorischen Lügnern, die sich an keinerlei Vereinbarungen halten, verhandeln? Diplomatie setzt geteilte (Wert)Vorstellungen voraus. Formalethische Argumente sind kaum geeignet, imperiale Machtrhetorik zu entkräften. In dieser Rhetorik werden neuerdings sogar die Schweden, neben Ukrainern und Deutschen, als Nazis beschimpft.
- Die Idee, Leid durch eine erzwungene ukrainische Kapitulation, denn nichts anderes wäre die Folge unterlassener militärischer Unterstützung, zu begrenzen: Von Beginn an ist die Aggression gegen die Ukraine ein Vernichtungskrieg gegen die Ukrainer, der aus tiefsten Hass- und Rachegefühlen Putins und seiner Schergen gespeist ist. Der gezielte Beschuss von Wohnhäusern und Fluchtkonvois und die Zerstörung ziviler Infrastruktur unter Inkaufnahme negativer globaler Auswirkungen sind nur die Spitze unvorstellbarer Bestrebungen zur Auslöschung aller Äusserungen ukrainischer Kultur und Identität.
Butscha, Borodjanka und Mariupol stellen bei weitem nicht die Obergrenze der an den Ukrainern begangenen Verbrechen dar, sondern addieren sich zum Trauma dieses Volkes infolge fünfmaliger Besetzung durch russische Armeen und zweimaliger durch deutsche Truppen während der vergangenen 100 Jahre. Und was wird man den zukünftig überfallenen Völkern abverlangen wollen? Denn die Liste der russischen Eroberungspläne ist bei weitem nicht abgearbeitet. Im Kosovo-Konflikt war der Genozid Anlass für die NATO-Intervention. Welche Kriterien rechtfertigen die Anwendung anderer Kategorien zur Bewertung der gegenwärtigen Ereignisse?
Freiheit, Mitbestimmung und Mitverantwortung
Individuelle Freiheit und demokratische Mitbestimmung wurden den Deutschen nach 1945 trotz ihres Unvermögens zuteil, sich selbst der zwölf Jahre zuvor durch Wahlen legitimierten Terrorherrschaft zu entledigen. Den Preis der bundesdeutschen Demokratie und ihres Wohlstands zahlten die Opfer des Nationalsozialismus und die Kriegsopfer anderer Völker, während die Ambivalenz der deutschen Gefühlslage angesichts von Niederlage und eigenem Leid, der Erkenntnis der Mitschuld und erzwungener gesellschaftlicher Umdenkungsprozesse eine Unfähigkeit zu trauern im Sinne eines Aufarbeitungsprozesses bedingte. Dieser Umstand mag die defätistisch-hoffnungs- und mutlose Wahrnehmung der Gewalt und des Kriegs in der Ukraine sowie die wenig enthusiastisch wirkende Wertschätzung freiheitlicher Rechte und Pflichten beeinflussen. Womöglich relativiert der Wohlstand, in dem viele Bundesbürger in privilegierter Weise leben, die Verhältnismässigkeit der Kosten und des Nutzens von Freiheit.
Der Krieg empört uns aufgrund unserer Ohnmacht angesichts seiner Ungerechtigkeit und brutalen Gewalt, sobald wir mehr oder weniger unmittelbar betroffen sind. Vor allem die Verkehrung aller uns bedeutsamen Werte ins Gegenteil – die Verkehrung von Wahrheit, Gerechtigkeit und Friedfertigkeit – schafft das Unbehagen des unsicheren moralischen Urteils in einem Dilemma. Dilemmata – die scheinbare Verfügbarkeit über lediglich zwei gleichermassen schlechte Handlungsalternativen ist in zweierlei Hinsicht nahezu immer menschengemacht: Während Russlands Führung Verhandlungen verweigert und ein friedliches Nachbarland in zerstörerischer Absicht überfällt, bedeutet dies nicht, dass Frieden entweder nur durch Verhandlungen oder nur durch Waffenlieferung zu schaffen sei.
Putins Brüskierung zahlreicher westlicher Staatsmänner und anderer Politiker bedeutet zumindest vorläufig das Ende der Diplomatie. Zur Perversität des Krieges gehört auch, dass martialische Begriffe und Theorien aktuelle Relevanz erhalten, z. B. Clausewitz’ Diktum vom Krieg als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln. Putin exerziert es seit 1999 routinemässig. Charakteristisch für alle diese militärischen Konflikte ist, dass sie noch nicht einmal mit Kapitulationsverhandlungen enden, sie schwelen gleichsam als potenzielle Brandherde weiter. Wenn Krieg zu einem öffentlichen Thema geworden ist, sollte man sich nicht über die Militarisierung der Sprache beschweren; jedes Fachgebiet hat seine begriffliche Terminologie.
Die Trümmer und Traumata, welche die russischen Kriege der letzten zwei Jahrzehnte über die ganze Welt hinweg hinterlassen haben, übersteigen das, was gerade der ukrainischen Nation wiederfährt und haben dabei noch nicht einmal den Grad dessen an zynischer Brutalität erreicht, was mit einer russisch bestimmten Nachkriegsordnung für eine besetzte Ukraine vorgesehen ist: Zwangsumsiedlungen, Selektion und Konzentration, Repression, Verfolgung, Willkür und Rechtlosigkeit – all jene Gräuel, die in den sogenannten autonomen Teilgebieten Luhansk und Donezk seit acht Jahren alltägliche Realität sind. Dagegen wäre ein deutscher Agrarstaat gemäss der Geschichte gewordenen Pläne Henry Morgenthaus ein Erholungsgebiet.
Der Einsatz für die individuellen freiheitlich-demokratischen Rechte aller rechtfertigt das persönliche Opfer (Solidarität, Unterstützung, Wohlstandsverzicht, Verteidigungsbereitschaft) in sinnvollerer Weise als derjenige für die imperialistischen Ambitionen irgendwelcher Potentaten. Ihre Stärke können Demokratien gegenüber ihren inneren und äusseren Feinden nur bewahren, wenn sie – d. h. ihre Bürger – wehrhaft und demokratisch wertkonservativ sind. So betrachtet, liegen der Verteidigungsbereitschaft durchaus pazifistische Motive zugrunde.
Als eine sklavische Einstellung wird jene Art der Selbstaufgabe bezeichnet, die der Unsicherheit der Freiheit das sichere Leben in Unfreiheit vorzieht. Aber ist – oder sollte – das menschliche Streben nach Freiheit, Würde, Entfaltung und somit Mündigkeit nicht der natürliche Impuls sein? Es ist jedem freigestellt – das ist demokratischer Wertepluralismus, der aber nicht zur Annahme berechtigt, mit seiner Meinung für andere oder sogar im Namen einer höheren Macht wie der Rationalität zu sprechen.
Für richtige Erkenntnis braucht es die richtigen Fragen
Der russische Klassiker Anton P. Tschechow schrieb in einem Brief an seinen Bruder, dass es weniger darauf ankomme, die richtigen Antworten zu kennen, als vielmehr darauf, zunächst die richtigen Fragen zu stellen. Mögliche Fragen für einen konstruktiven Umgang mit dem polarisierend diskutierten vermeintlichen Dilemma könnten sein:
- Wer ist Putin und wie stellen sich die Verflechtungen seines machtstützenden Netzwerks aus Geheimdienst und Oligarchen dar? (vgl. Catherine Belton 2022: Putins Netz)
- Warum, wofür und wogegen kämpfen die Ukrainerinnen und Ukrainer?
- Wessen Krieg wird in der Ukraine ausgefochten und um welche Ziele wird gestritten?
- Wer (global betrachtet mit Blick auf China und andere autokratische Systeme) hat welche Interessen an der Art des Kriegsausgangs?
- Welchen Wert haben für uns Freiheit, demokratische Rechte und Wohlstand und welchen Preis sind wir bereit, dafür zu zahlen?
- Warum sollten die freien Staaten die Ukraine in ihrem Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit unterstützen?
Eine letzte Anmerkung in eigener Sache. Aus der Überzeugung, dass Demokratie wehrhaft sein muss, hat sich der Autor seinerzeit für den Wehrdienst entschieden. Der Krieg gegen die Ukraine bestätigt die Richtigkeit dieses Entschlusses – manchmal hätte man sich lieber geirrt. Hätte und würde ich im Verteidigungsfall meine körperliche und geistige Unversehrtheit auch für Andersdenkende, z. B. radikale Pazifisten, sog. Querdenker oder Feiglinge riskieren? – Das vielleicht nicht, wohl aber für das demokratische Recht, auch solche Meinungen zu vertreten.
*Michael Rosentreter ist Professor an der Apollon Hochschule der Gesundheitswirtschaft in Bremen. Als Medizinsoziologe und -historiker befasst er sich u. a. mit Menschenrechten und Menschenwürde im Kontext von Macht und Herrschaft in gesellschaftlichen Systemen.
**Angaben zu den fünf vom «Stern» interviewten Intellektuellen:
Harald Welzer, Sozialpsychologe, Direktor der Stiftung «Futurzwei»
Alice Schwarzer, Publizistin, Herausgeberin der Zeitschrift «Emma»
Daniel Barenboim, Pianist und Dirigent
Diana Kinnert, Publizistin, Politikerin, Unternehmerin
Richard David Precht, Publizist, Honorarprofessor für Philosophie