Er war ein Überflieger, ein Superstar, ein Wunderkind, ein schweizerischer Macron, selbstsicher und erfolgsverwöhnt. Fast wäre er Bundesrat geworden. Dann stürzte er ab. Alle liessen ihn fallen, ihn, den freisinnigen Genfer Regierungsrat. Gelingt ihm jetzt die Revanche?
Plötzlich brandet frenetischer Beifall auf. Mehr als 600 Verehrer und Verehrerinnen waren an diesem Donnerstagabend in den riesigen Saal des Genfer Palladiums gekommen, um seine Kandidatur zu beflügeln.
Da steht er plötzlich, inmitten der Menge: Sportliche Figur, offenes Hemd, Jeans. Und er steht nicht auf einer Bühne, wie es Politiker und Politikerinnen zu tun pflegen. Er steht inmitten seiner Fans, dreht sich immer wieder zu allen um, sucht Augenkontakt.
Eine Viertelstunde lang spricht Pierre Maudet, rhetorisch brillant, geschliffene Sprache, frei, kein Notizzettel: modulierte Stimme, mal schnell, mal langsam, mal leise, mal lauter; hier und da eine Pointe. Die begeisterte Menge hängt ihm an den Lippen. Das Licht im Saal ist gedämpft, ein Scheinwerfer ist nur auf ihn, den 45-Jährigen, gerichtet. Ein perfekter Auftritt. «Er ist wie Macron vor fünf Jahren», sagt mir eine der Zuhörerinnen, eine College-Lehrerin. «Wie Macron, nur besser», fügt sie bei.
«On veut casser la baraque»
Maudet ist schweizerisch-französischer Doppelbürger. Die geschliffene französische Rhetorik hat er offenbar von seinem französischen Vater, einem Juristen, der Theologie studiert hatte.
Die Leute, die da ins Palladium, den Gemeindesaal an der Rhone, gekommen sind, entsprechen nicht dem Typus von aufbegehrenden Protest- und Stammtischwählern. Viele junge Frauen sind da, viele junge Männer, ein Arzt, ein Anwalt, ein Professor, Lehrerinnen und Lehrer, hohe Beamte, auch Menschen mit Migrationshintergrund, ein Afghane, viele Arbeiter, Schwarze auch.
Pierre Maudet, der gefallene Engel, hat sie an diesem Donnerstag zu einer «Soirée électorale» zusammengerufen. Ideologisch unterscheidet sich Maudet wenig von den bürgerlichen oder linken Kandidaten. Er will die Digitalisierung fördern, eine Einheitskrankenkasse einführen und administrative Hürden abbauen – und natürlich die Wohnungsnot lindern. Zum Schluss seiner Rede ruft er in den Saal: «On veut casser la baraque.» («Wir wollen die Bude zusammenschlagen» oder im übertragenen Sinn: «Wir wollen einen Riesenerfolg erzielen.»)
«Ideologisches Sammelsurium»
Ob das am übernächsten Sonntag gelingt, steht allerdings in den Sternen. Eine Prognose wagt niemand.
Die Bürgerlichen, die FDP, die Mitte, die SVP und die Rechtspopulisten sind von der panischen Angst ergriffen, dass Maudet erneut einen Sitz in der Genfer Regierung erobern könnte. Deshalb haben sich, zum ersten Mal in Genf, alle bürgerlichen Parteien in einer Allianz zusammengerauft – und dies trotz riesiger ideologischer Unterschiede. Sogar die Rechtspopulisten liessen sich einspannen. Die bürgerliche «L’Alliance Genevoise» hat nur ein Ziel: Maudet zu verhindern. Er, der Paria, hat recht, wenn er den bürgerlichen Schulterschluss als «politisches und ideologisches Sammelsurium» bezeichnet.
Das Gerangel um Maudet hat den zweiten Wahlgang in die Genfer Kantonsregierung, den Conseil d’État, zu den spannendsten Genfer Wahlen der jüngsten Zeit gemacht.
Pierre Maudet war zunächst Mitglied der Genfer Stadtregierung; er war Stadtpräsident von Genf. Dann wurde er 2012 als freisinniger Shootingstar in die Kantonsregierung gewählt – mit 34 Jahren war er der jüngste Staatsrat. Alles schien ihm zu gelingen. 2017 hatte ihn die FDP Schweiz als Bundesratskandidaten nominiert. Er scheiterte dann an Ignazio Cassis. Maudet erhielt bei der Wahl in den Bundesrat 90 Stimmen, Cassis 120.
Faustdicke Lügen
Doch dann begann der Absturz. Maudet liess sich vom Königshaus der Vereinigten Arabischen Emirate zu einer Luxusreise nach Abu Dhabi einladen. Nachdem Kritik daran aufgekommen war, verstrickte er sich in faustdicke Lügen. Er belog die Mitglieder der Kantonsregierung – und nicht nur sie. Die FDP schloss ihn aus der Partei aus.
Petra Gössi, die damalige FPD-Präsidentin, gab ihm dann den Gnadenstoss. Er habe seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt. «An seiner Stelle», sagte Gössi, «wäre ich längst zurückgetreten.» Die Regierung entzog ihm das Vertrauen und wichtige Dossiers. Schliesslich trat Maudet 2020 zurück. Bei der Ersatzwahl kandidierte er erneut für seine eigene Nachfolge, scheiterte dann aber an einer grünen Vertreterin. In letzter Instanz verurteilte ihn dann das Bundesgericht im vergangenen Herbst wegen «Vorteilsannahme».
Und jetzt sucht er die Revanche. Man könnte sagen, es ist eine Art Rachefeldzug. Er will es allen zeigen. Und tatsächlich: Sollte er wiedergewählt werden, stünden die Freisinnigen und die anderen Bürgerlichen mit abgesägten Hosen da.
Bekannt für überraschende Entscheide
Noch ist es längst nicht so weit. Rein rechnerisch würde die überraschend geschmiedete bürgerliche Allianz bedeuten, dass Maudet keinerlei Chancen hat. Wenn alle Bürgerlichen gegen ihn stimmen, bleibt er auf der Strecke.
Und dennoch: Die Genfer und Genferinnen sind traditionell bekannt dafür, dass sie überraschende, unkonventionelle Entscheide treffen: dass sie den Regierenden gerne ans Bein pinkeln. Das könnte diesmal geschehen, indem sie eben den Ausgestossenen, Pierre Maudet, erneut wählen.
Kein Genfer Politiker ist derzeit schweizweit so bekannt wie er. Seine Gegner, und von denen gibt es viele, werfen ihm vor, ein Egomane zu sein, überheblich, allzu selbstsicher. Es gehe ihm nicht um die Sache, sondern nur darum, sein verletztes Ego mit einem Sieg wieder reparieren zu können.
30 Prozent bei den Parlamentswahlen
Chancenlos ist er nicht. Im ersten Wahlgang am 2. April hat er das sechstbeste Ergebnis erzielt. Der Genfer Staatsrat zählt sieben Mitglieder. Keine und keiner der Kandidatinnen und Kandidaten hatten das absolute Mehr erreicht. Deshalb wurde der zweite Wahlgang am 30. April nötig.
Dass Maudets neugegründete Bewegung «Libertés et justice sociale» nicht unterschätzt werden darf, zeigt das Ergebnis der am 2. April abgehaltenen Wahlen ins Kantonsparlament. Maudets Formation kam auf Anhieb überraschend auf fast neun Prozent der Stimmen und schickt jetzt zehn Abgeordnete ins Parlament. Das jagte den Bürgerlichen eine Gänsehaut über den Rücken.
Zudem sollte die Wahlallianz, die die Bürgerlichen geschmiedet haben, nicht überschätzt werden. Denn viele Wählerinnen und Wähler wissen gar nicht, dass da ein Bündnis gebildet wurde: Auf den Wahlzetteln ist das nicht ersichtlich. Die Wählerinnen und Wähler können nicht eine gemeinsame Liste mit allen bürgerlichen Kandidaten und Kandidatinnen in die Urnen werfen. Sie müssen bei jedem Kandidaten, bei jeder Kandidatin ein Kreuz machen.
Kippt die Regierung nach rechts?
Doch diese Genfer Wahl ist nicht nur wegen Maudet wichtig. Seine Demission vor drei Jahren hatte dazu geführt, dass die Regierungsmehrheit nach links gekippt ist. Die siebenköpfige Kantonsregierung besteht heute aus zwei Sozialdemokraten, zwei Grünen, einer Freisinnigen, einem Vertreter der Mitte und einem Abgeordneten des rechtspopulistischen «Mouvement des Citoyens Genevois». Es ist durchaus möglich, dass die Sozialdemokraten oder die Grünen jetzt einen Sitz verlieren.
Prognosen sind auch deshalb schwierig und eigentlich unsinnig, weil die Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang ein absolutes Tief erreicht hatte. Nur 37,1 Prozent der Wählerinnen und Wähler waren zu den Urnen gegangen. Wem gelingt es, die Wahlberechtigen mehr zu mobilisieren, den Bürgerlichen oder eben Maudet? Das ist eine der entscheidenden Fragen. Maudet rief am Donnerstagabend seinen Leute immer wieder zu: «Mobilisiert die Menschen, ruft sie auf, an die Urnen zu gehen!»
Die Soirée électorale im Genfer Palladium hat gezeigt, dass der Verbannte in allen Bevölkerungsschichten seine Anhänger und Anhängerinnen hat. Dass er gelogen hat, wird ihm offenbar verziehen. Die Genfer und Genferinnen sind in solchen Dingen immer schon etwas nonchalant gewesen.
Besser als Cassis?
Würde er gewählt, würde das wohl die Zusammenarbeit in der Genfer Kantonsregierung belasten. Kann man mit jemandem zusammenarbeiten, der einen mit seinen Lügen an der Nase herumgeführt hat? Maudet sieht da kein Problem: «Eine Kantonsregierung ist kein Wohlfühlclub; wir sind Politiker und wollen seriöse politische Arbeit leisten.»
«Er wäre als Bundesrat besser als Ignazio Cassis», sagt uns an diesem Abend eine von Maudets feurigen Anhängerinnen. Ein gut gekleideter Mann meint, Maudet habe als Mitglied der Stadt- und der Kantonsregierung gute Arbeit geleistet. Ein anderer fällt ihm ins Wort und fügt bei: «Jedenfalls ist er nicht unbedarfter als die anderen.»