Giacinto Scelsi, genauer: Conte Giacinto Francesco Maria Scelsi d’Ayala, geboren 1905 in La Spezia, Komponist und Dichter, pflegte wegen seiner hohen Empfindlichkeit auf Klangphänomene mit Ohrstöpseln durchs Leben zu gehen. Wenn er nicht gerade wieder einem einzigen Ton nachlauschte, ihn in Schwingungen zerlegte, dasselbe mit einem Gegenton machte und diese sich aneinander reiben liess. Vornehmlich von Streichinstrumentalisten und Sängern verlangte er Viertel-, Achtel- und Sechzehnteltöne, welche in unserer abendländischen Harmonielehre gar nicht vorkommen, sondern vor allem in der asiatischen, und dort speziell indischen Musik. Scelsis Kompositionen mit Mikrotönen bringen eine Saite im Menschen zum Vibrieren ähnlich einem Lebenstonus, ein Eindringen in den Klang bis hinab in urweltliche Zeitenschichten, archaisch und doch bis ins Äusserste verfeinert.
Hört man Scelsis Musik intensiv zu (anders geht das eigentlich gar nicht), erweitert sich das Gehör. Man hat das Gefühl, dass einem die Ohren weit aus dem Kopf wachsen – ein surreales Empfinden, das jenem Scelsis wahrscheinlich sehr nahe liegen würde, verkehrte er doch in seiner Pariser Zeit in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts mit einigen der Surrealisten um Paul Eluard, Salvador Dali und Henri Michaux. Trotzdem wäre es verfehlt, Scelsi als Surrealisten einzustufen. Dieser vielseitige Feingeist ist nicht wirklich zu fassen. Er arbeitete nie nach einem vorgefassten Plan und liess seine auf Tonband aufgenommenen Klänge von meist unbekannt gebliebenen Komponisten in Notenschrift transkribieren. Ein Unterfangen, welches nicht ganz einfach gewesen sein dürfte. In der Giacinto Scelsi-Stiftung in seinem Römer Wohnhaus liegen seit seinem Tod immer noch rund 900 unbearbeitete Tonbänder.
Musik wie Frauenhaut
«Ich bin kein Komponist. Komponieren heisst, eine Sache mit einer anderen verbinden, comporre. Aber das mache ich nicht.» Spricht der zeitlebens kamerascheue Scelsi aus dem Off des sehr empfehlenswerten Filmporträts «Casa Scelsi» von Fred van der Kooij, 1994 für den Südwestfunk Baden-Baden gedreht (www.vanderkooij.ch/Casa Scelsi.html. Darin vergleicht der Schweizer Komponist Jürg Wyttenbach Scelsis Musik mit «Frauenhaut, weich, dehnbar, ohne harte Knochen und Gelenke».
Aber, wie sich am Basler Eröffnungskonzert des Scelsi-Festivals unter dem Motto «A l’autre bout» im bis auf den letzten Platz besetzten Saal des Gare du Nord feststellen liess, durchaus mit akzentuiertem Beat und rhythmischen Verschiebungen, welche auch uns Heutigen noch unter die Haut gehen, auch wenn wir uns den verfeinerten, ungewohnten Klangverschiebungen verweigern sollten. Das von der Basler Pianistin Marianne Schröder organisierte Festival startete an Scelsis Geburtag, dem 8. Januar – die Acht als schicksalshafte Lebenszahl des Komponisten, hatte der an Reinkarnation glaubende Mystiker Scelsi doch vorausgesagt, dass er an einem Tag mit vielen Achten sterben werde. Und brach prompt am 8.8.1988 bei einem Spaziergang am Meer zusammen, um tags darauf zu sterben. Herzversagen.
Michiko Hirayama, eine lebende Legende
Die Herzen der Zuhörerinnen und Zuhörer in Basel aber flogen einer winzigkleinen Sängerin zu, die auf dem Konzertpodium über eine Stunde lang die komplizierten Melismen Scelsis zelebrierte: Michiko Hirayama, geboren in Tokio 1923. Diese Jahreszahl ist kein Tippfehler. Tatsächlich: Die 90Jährige Sopranistin, welche auch heute noch über eine unglaubliche, sichere Höhe und atemberaubende Treffsicherheit der Tonhöhen und Rhythmen verfügt, hat über fünfzig Jahre lang mit Scelsi gearbeitet. Integraler, authentischer kann man die «Canti del Capricorno», 1973 in Rom komponiert und Michiko Hiramaya gewidmet, nicht hören. Der Steinbock, Scelsis Tierkreiszeichen, stösst in diesen Canti manchmal recht ruppige, raue Töne aus, aber auch die weichsten, zärtlichsten Vocalisen. Das wurde meist durch die Sängerin solistisch vorgetragen, manchmal aber auch ganz hervorragend ergänzt durch Instrumentalisten, welche – zusammen mit anderen – auch im ersten, rein instrumentalen Teil des Konzerts schon geglänzt hatten.
Die Konzerte des kleinen ungewöhnlichen Festivals werden ergänzt durch Vorträge und Diskussionen. Am Nachmittag des letzten Tages (10. Januar), der unter dem Motto steht «Tu es l’ordre», gibt Michiko Hirayama einen Meisterkurs, und am Abend wird das grosse Abschlusskonzert durch eine Lesung aus «Infinity/Unendlichkeit» des Scelsis Spuren nachgehenden englischen Autors Gabriel Josipovici erweitert.
----------------------------------------------------------------------------------------------
Informationen zum Festival auf der Website der Gare du Nord