„C’era una volta il governo“ titelte am Donnerstag die Tageszeitung „La Repubblica“ mit dicken Lettern auf der Frontseite. „Es war einmal eine Regierung.“
Die italienische Regierungsmannschaft befindet sich in einem chaotischen Auflösungsprozess. Die beiden Koalitionsparteien, die rechtspopulistische Lega und die Protestbewegung Cinque Stelle zelebrieren täglich ihre Zerrissenheit.
Trotzdem: Ein grosser Teil der Italiener und Italienerinnen unterstützt diese Chaostruppe noch immer – oder besser: immer mehr.
„Was andere sagen, interessiert mich nicht“
Matteo Salvini ist eigentlich „nur“ Innenminister, doch er drückt alle an die Wand. Selbst seinen Chef, Ministerpräsident Giuseppe Conte, kanzelt er ab: „Was der sagt, interessiert mich unter-null“, sagte Salvini kürzlich. Sogar rechtsbürgerliche Zeitungen, wie „La Nazione“, bezeichnen seine Politik als „Diktat“.
Die Arroganz Salvinis ist kaum zu überbieten. Alle, die nicht seiner Meinung sind, werden beschimpft und geschmäht. Kritik an sich lässt er nicht gelten. „Was andere sagen, interessiert mich nicht.“
Den Journalisten läuft er davon. Als ihn letzte Woche ein Fernsehreporter auf seine Beziehungen zu Russland befragte, sagte Salvini: „Sei un maleducato.“ Du bist unerzogen – und brach das Gespräch ab.
Gelder aus Moskau?
In der „Moscopoli-Affäre“ wurde Salvini klar faustdicker Lügen überführt. Doch einen grossen Teil der Italiener scheint das nicht zu stören: Sie halten zu ihm.
Es gibt Ton-Aufnahmen, die belegen, dass ein Freund Salvinis in Moskau um russische Wahlkampfspenden in Millionenhöhe verhandelt hat. Diese Gelder hätten verdeckt an Salvinis Lega geschleust werden sollen. Der Innenminister selbst weigert sich, zur Affäre im Parlament Stellung zu nehmen. In jedem zivilisierten Land wäre ein solcher Minister gestürzt worden. Nicht so in Italien.
Auch Salvinis Flirt mit Marine Le Pen und Viktor Orbán finden viele Italiener in Ordnung. Seine Beziehungen zu rechtsextremen italienischen Kreisen (Casa Pound) schaden ihm nicht.
Die Flüchtlinge als Wahlkampfhilfe
Während Jahren beklagte Italien, dass es in der Flüchtlingsfrage von den übrigen Europäern im Stich gelassen wurde. Und endlich sassen die Europäer letzten Monat zusammen, um eine gemeinsame Strategie zu finden, um Italien zu entlasten. Nur einer fehlte: ausgerechnet Matteo Salvini. Er nehme von den Europäern keine Befehle entgegen, polterte er. Vielleicht hat er gar kein Interesse an einer Lösung. Ein Treffen mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker lehnte er mit den Worten ab: „Ich spreche nur mit nüchternen Personen.“
Die Mittelmeer-Flüchtlinge nützt er gnadenlos zur eigenen Imagepflege aus. Jedes Mal, wenn ein Boot mit Migranten anlegen möchte, tritt er vor die Medien und verkündet wortgewaltig, wie er „sein Italien“, die italienische Identität und die „grossartige italienische Kultur“ schützen will. In diesem Sinn sind die Flüchtlingsboote eine wunderbare Wahlkampfmunition für ihn.
Wachstum: zero
Das italienische Wirtschaftswachstum beträgt 0,0 Prozent – der schlechteste Wert der grossen Volkswirtschaften. Schuld daran ist nach Angaben namhafter Wirtschaftsexperten die Wirtschaftspolitik der Regierung. Vertreter grosser Unternehmen prophezeien düstere Zeiten, ausländische Investoren springen ab. Fast 40 Prozent der Italiener nehmen es hin.
Die Europäische Union bleibt Salvinis Lieblings-Sündenbock. Die EU ist an allem schuld: schuld, dass Italien nicht aus dem Schlamassel herausfindet. Dass Italien ohne die Gelder aus Brüssel längst ein Drittweltland wäre, wischt er als „Fake News“ unter den Teppich.
„Wir wissen, wo du wohnst“
Bei seinen Ferien an der Adria liess es die Polizei zu, dass Salvinis Sohn mit einem Polizeiboot (Moto d’acqua) eine Runde auf dem Wasser drehte. Ein Polizeifahrzeug wäre ja eigentlich nicht dazu da, um Minister-Söhnchen eine Vergnügungsfahrt zu ermöglichen. Ein Kameramann filmte die Szene.
Das passte den Salvini-Leuten gar nicht. Sie gaben sich als Polizisten aus, brachten den Kameramann auf den Polizeiposten, wo er stundenlang verhört wurde. Zudem verlangte man das Filmmaterial. Einer der Salvini-Bodyguards drohte dem Filmer: „Wir wissen, wo du wohnst.“ La Repubblica hat das Video inzwischen online veröffentlicht.
Erloschene Sterne
Diese Woche ist es Salvini gelungen, seinen Koalitionspartner, die Cinque Stelle, in die Knie zu zwingen. Die „Fünf Sterne“, eine mal linke, mal rechte Protestbewegung, sind erloschen. Ihr Führer, Luigi Di Maio, ist zu Salvinis Hampelmann degradiert. Fast alle Fünf-Sterne-Abgeordneten haben ihre Wahlversprechen über Bord geworfen, sich Salvini unterworfen und ihre Seele und ihr Herz verkauft – vor allem aus egoistischen Gründen. Sie wollen nicht, dass Salvini Neuwahlen ausruft. Bei solchen würden die meisten 5-Sterne-Abgeordneten ihr Mandat und damit ihre saftigen Diäten verlieren.
Mehr und mehr zeigt der Innenminister diktatorische Züge. Drohungen gehören längst zu seinem Regierungsstil.
In seinem Büro in Rom sitzt er selten. Er betreibt Dauer-Wahlkampf, obwohl (noch) keine Wahlen anstehen. Der italienische Sommer gehört ihm. Jeden Tag steht er vor den Kameras, oft jetzt in Badehose. Viele Leute reissen sich um ein Selfie mit ihm. Täglich drucken die Zeitungen diese Bilder. Die Botschaft ist klar: „Seht, die Menschen lieben mich.“ Eben hat er eine „Beach-Tour“ begonnen. Auf 22 süditalienischen Stränden will er auftreten und sich ablichten lassen.
Fast 40 Prozent für Salvini
Konkret erreicht hat Salvini fast nichts. In jedem anderen Land würde eine Regierung mit einem derart miserablen Leistungsausweis gestürzt. Nicht so in Italien. Im Gegenteil: Salvini wird stärker und stärker. Bei den Wahlen vor knapp anderthalb Jahren hatte er gut 17 Prozent der Stimmen erhalten. Jüngste Meinungsumfragen geben ihm jetzt knapp 39 Prozent. Jede Woche legt er leicht zu.
Wie kann das sein? Wie kann ein gebildetes europäisches Volk so blind sein? Spricht man mit Römer Polit-Beobachtern und italienischen Journalisten erhält man verschiedene Antworten.
Personenkult
Salvini hat die Gabe, sich zu inszenieren wie kein anderer lebender italienischer Politiker. Der Personenkult, den er entwickelt, schlägt sich in den Medien nieder. Er ist omnipräsent. Täglich veröffentlicht er teils Dutzende Tweets; in den sozialen Medien hat er Millionen Followers.
Dazu kommt, dass die nationalen Fernsehanstalten längst Salvini-Anstalten sind. Die Rai, das öffentlich-rechtliche Fernsehen, gilt als Salvini-TV.
Das Fernsehen ist in Italien als Informationsmedium wichtiger als in anderen europäischen Ländern. Der Durchschnittsitaliener liest kaum politische Zeitungen; er saugt jetzt seine Informationen aus dem Salvini-Fernsehen. Und was das Ausland über Italien denkt, dringt kaum ins Land. Viele Italiener kennen keine Fremdsprache.
Schwache Opposition
Salvinis furioser Aufstieg hat auch etwas mit der Schwäche der Opposition zu tun. Die Linke dümpelt mit 22 Prozent vor sich hin und ist noch immer zerstritten. Die Berlusconi-Partei Forza Italia ist zusammengebrochen und kommt noch auf 6 Prozent, etwa gleich viel wie die postfaschistischen Fratelli d’Italia. Und die Cinque Stelle sind dabei, zu verglühen.
Aber: Erklärt das alles den rasanten Aufstieg Salvinis?
Ruf nach einem starken Mann
Italien war schon immer ein Kuddelmuddel-Staat. Die Italienerinnen und Italiener, auch die Politiker, sind Weltmeister im Sich-Durchwursteln.
In den letzten Jahren hat sich dieses Geschacher, diese ewige „Polemica“, dieser Krieg „tutti contro tutti“ stark intensiviert. Italienische Parlamentsdebatten sind längst zu einem Opera-Buffa-Spektakel verkommen: Show, Theater, Schmierenzirkus, Lärm, Krach – eine tägliche „reality show“, wie das Nachrichtenmagazin „L’Espresso“ am letzten Sonntag schrieb. Doch regiert wird nicht.
Viele Italiener haben genug von diesem ewigen Hickhack. Früher hielten sie sich an eine starke Partei, die ihnen Hoffnung gab. Doch starke, klassische Parteien gibt es nicht mehr. So „suchen viele das Heil in einem starken Mann“, sagt uns ein Römer Polit-Journalist. Und Salvini spielt den starken Mann mit Bravour.
Panikmache mit Mussolini
Sicher schadet der Klamauk im Parlament dem Ansehen der demokratischen Institutionen. Viele glauben nicht mehr, dass das Parlament noch in der Lage ist, die dringenden Probleme zu lösen. So setzen einige eben auf einen „starken Mann“, zu dem sie aufblicken können.
„Wie damals bei Mussolini“, tönt es schon aus der linken Ecke. Doch das ist Panikmache. Das Italien von heute ist nicht das Italien der Zwanzigerjahre. Das Land, vor allem auch seine Wirtschaft, ist eng mit Europa verflochten.
Einige weisen allerdings darauf hin, dass Salvini ein enger Freund Putins ist und auch mit dem autoritären, „illiberalen“, xenophoben, souveränistischen Regierungsstil von Viktor Orbán liebäugelt.
„Mindestens noch anderthalb Jahre“
Natürlich gibt es auch Optimisten. Sie sagen, viele Politiker seien in Italien rasant aufgestiegen und ebenso rasant wieder gefallen. Jüngstes Beispiel ist Matteo Renzi. Er kam auf über 40 Prozent der Stimmen, heute ist er ein „Has-Been“.
Auch Salvini muss bald liefern. Noch hält er einen grossen Teil des Volkes am Gängelband. Doch wenn er keine Resultate vorweist, könnte seine Stunde schlagen. „Wie lange bleibt er noch an der Macht?“, fragen wir einen Römer Parlamentsberichterstatter. Antwort: „Mindestens noch ein bis anderthalb Jahre.“
Neuwahlen im Oktober?
Am Mittwoch hat sich das Parlament in die Ferien verabschiedet. Kurz danach forderte Salvini am Donnerstagabend Neuwahlen. Diese würde er klar gewinnen. Zusammen mit den postfaschistischen Fratelli d’Italia hätte er eine komfortable Mehrheit. Doch es ist nicht an ihm, sondern an Staatspräsident Sergio Mattarella, Neuwahlen anzusetzen.
Inzwischen hat Salvini seine Beach-Tour begonnen, und zwar ausgerechnet in Sabaudia. Das Retortenstädtchen südlich von Rom hat Symbolcharakter. Es war in den Dreissigerjahren gegründet worden: von Mussolini.