Mutz-Häberli versuchte verzweifelt, den ehemaligen Korrektor Stomp zu erreichen, der auf Aufsehen erregende Weise gekündigt hatte. Stomps Steckenpferde waren ein Leben lang Raubtiere gewesen, und er war der Einzige, der einen längeren Artikel zum Thema so zusammenschreiben konnte, dass man ihn auch verstand, seit im Zuge des Sparprogramms IV - auf der Redaktion auch Hartz IV genannt -, die zwei Wissensredakteure entlassen worden waren. Rightwing damals: - Der Leser will nachplappern, nicht wissen. Da trat er schon ein und rieb sich die Hände vor den fünf Leutchen am Sitzungstisch: Frassinetti (Ausland), Ruhr-Pöhl (Neue Medien), Dreissigprozent (Kultur), Christoph Sünneli (seit seinem Unfall: Nächstenliebe), die Redaktionssekretärin Katjuscha.
Dreissigprozent hatte zur Sicherheit Band Eins der Tucholsky-Gesamtausgabe mitgenommen.
Bitte, wir halten uns auch in Sonderzeiten an den Kodex, sagte Rightwing mit fester Stimme. - Wo wachsen die schönsten Blumen?
Auf dem Mist!
Wo spriessen die besten Ideen?
Auch auf dem Mist!
Danke. Setzen. Hat einer eine Idee, wie wir den Tiger nennen wollen? Genau! Denn exakt vor fünfzig Minuten hatte die Meldung sämtliche Redaktionen erreicht: Ein sibirischer Steppentiger war aus dem Zürcher Zoo ausgebrochen und streunte nun im Stadtzentrum herum. Dort waren jedenfalls in der vergangenen halben Stunde 24 solche Tiger gesichtet worden.
Ich muss darauf hinweisen, dass Tiger zu Gottes Schöpfung gehören. Ich will nichts hören von Menschen fressenden blutrünstigen Ungeheuern mit Säbelzähnen. Das Tier soll uns ein Mitmensch… ein Mittier… Rightwing seufzte. - Christoph! Spar dir das für deine Kolumne. Sünneli: - Die habe ich schon. Es war absehbar, dass einmal ein Tiger mit einer solchen Aktion gegen die unmenschlichen… also die Lebensbedingungen in diesem Tiergefängnis protestieren würde. Greenpeace hat schon Unterschriften …
Schreib du das nur, schnitt ihm Rightwing das Wort ab. - Ich schlage vor: Rudi Raubkatze.
Es ist ein Weibchen. Machen wir: Ruby Raubkatze. Wie Berlusconis Kätzchen.
Meinetwegen. Das Problem ist: Was machen wir als Meinungszeitschrift daraus? Wir gehen heute Abend in Druck und können doch nicht einfach berichten: Der Tiger ist los.
Der Tiger ist Ausländer. Aus Sibirien. Die einheimischen Störche sind nicht ausgebrochen.
Das soll wohl ein Witz sein, Frassinetti.
Dreissigprozent schlug das Buch an der mit einem Post-it versehenen Stelle auf. - Hört euch das an. Aus dem Berliner Zoo ist 1920 ein Löwe ausgebrochen. Tucholsky schreibt: “Mitbürger! Der Löw ist los! Wer ist daran schuld? Die Juden! Wählt die Deutsche Volkspartei!”
Das Funkeln. Roger Rightwings Augen nahmen in dem Moment den Ausdruck eines gelbblitzenden Raubtierblicks an. Doch das Gesicht wurde nachdenklich. - Wie hat er das gemeint?
Tucholsky war ein Satiriker.
Hm. Frassinetti, geh mal rüber in den Redaktionsraum. Da wird wohl einer wissen, wer Ruby Raubtier bewachen sollte. Überhaupt: Ich will wissen, wie viele Ausländer unter dem Zoopersonal sind. Wir drehen das in eine Schlampereigeschichte. Wie viel bezahlt die Stadt an diesen Tiergarten? Wie viel Fleisch für wie viel Franken frisst so ein Tiger täglich? Und wie viel verdient der Zoodirektor? Und sind die Leute da eigentlich Staatsangestellte? Beamtenlöli?
Frassinetti war schon verschwunden.
Christoph Sünneli seufzte: - Ich habe es ja gewusst. Ich werde da Gegensteuer geben. Der Titel meiner Kolumne lautet: “Nicht schiessen! Streicheln!”
- Das haben wir ja versucht!
Die Runde blickte zur Tür. An der Schwelle standen Bänz Ödeli und Peterle. Ihre Anzüge waren so zerfetzt, dass die Ärmel in Streifen herabhingen. Auf Peterles Stirn klaffte eine Riss mit eingetrocknetem Blut. Aus Ödelis rechtem Oberschenkel rann es rot das Hosenbein herunter.
Rightwing musste sich setzen. Er war leichenblass.
Ihr wisst, ich kann kein Blut sehen. Katjuscha, bring Ödeli zum Verbandskasten. Und binde ihn so ein, dass kein Tropfen Blut mehr zu sehen ist. Wir sehen uns in einer halben Stunde zur Sondersitzung. Darauf sank Roger Rightwings Oberkörper auf die Tischplatte.
Sie spielen die Löwen, aber wenn es darauf ankommt, fallen sie um wie die Fliegen.
Die Runde lachte, als Christoph Sünneli das sagte.
Roger Rightwing konnte sie ja nicht hören.