Wie immer wurde nach dem Gipfeltreffen ein Familienfoto aufgenommen. Alle lächelten. Doch einer scheint auf dem Foto zu fehlen. Oder: er versteckt sich hinter den andern.
Die meisten der 27 Staats- und Regierungschefs beschworen wieder einmal ihre Einheit. Man stellte in Aussicht, die Probleme zu lösen. Irgendwann und irgendwie. Es war der erste EU-Gipfel nach dem Brexit.
Einer spielte das geheuchelte Spiel nicht mit: Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi. Er weigerte sich, an einer Medienkonferenz zusammen mit Angela Merkel und François Hollande aufzutreten.
„Troppo poco“
Er sei mit der Haltung Deutschlands und Frankreichs nicht einverstanden, sagte er. „Ohne eine neue Wirtschafts- und Flüchtlingspolitik riskiert Europa viel.“
Auf Twitter schrieb er:
„Passo in avanti, ma piccolo piccolo. Troppo poco. Senza cambiare politiche su economia e immigrazione, l'Europa rischia molto.“
„Tun wir nicht so, als gäbe es Einigkeit“
Im Gegensatz zu Renzi griffen Merkel und Hollande wieder in die bekannte Phrasenkiste. Man beschwor den „Geist von Bratislava“, den „Geist der Zusammenarbeit“. „Ohne europäische Einheit werden wir unsere Ziele nicht erreichen“, sagte Merkel. Sie sprach von einer „guten und konstruktiven Atmosphäre“.
Die Wirklichkeit scheint anders auszusehen. „Tun wir nicht so, als würde Einigkeit herrschen“, sagte Renzi. Auch andere Regierungschefs sollen Merkel kritisiert haben. Sie reiste am Freitag geschwächt aus Bratislava ab.
Wachstum: null Prozent
Renzis Vorpreschen hat sicher innenpolitische Gründe – doch nicht nur.
Einerseits ist er verärgert über die harte Haltung und die Dominanz von Angela Merkel. Seit längerem wird sie zum Sündenbock für das fehlende Wirtschaftswachstum in Italien gemacht. Tatsache ist, dass es den Italienern heute schlechter geht als vor 15 Jahren. Das Wachstum, das keines ist, beträgt zurzeit null Prozent. Italien könne nur wachsen, sagte Renzi am Freitag, wenn die Austeritätspolitik gelockert oder über Bord geworfen würde.
Gefährdeter Euro?
Längst fürchten Analytiker, dass sich unter den gegenwärtigen Strukturen das Land nicht wirklich erholen kann. Und längst schon fragt man sich in Italien, wie lange der Euro im Land überleben könne. Italien, und nicht nur Italien, ist offenbar nicht in der Lage, die vor allem von Deutschland oktroyierten Regeln einzuhalten.
Ferner fühlen sich die Italiener in der Flüchtlingsfrage von der EU zu wenig unterstützt. Italien trägt nun einmal, aus geografischen Gründen, eine Hauptlast.
Mehrheit für EU-Austritt
Mit seiner forschen Kritik am Bratislava-Gipfel zollt Renzi der zunehmenden Anti-EU-Stimmung in Italien Tribut. Laut einer im Sommer vom IPR-Marketing-Institut durchgeführten Umfrage, sprechen sich 45 % der Italiener für einen Austritt aus der EU aus, 33 % wollen in der Gemeinschaft bleiben, 10 % haben keine Meinung. Diese Umfrage war nach der Brexit-Abstimmung durchgeführt worden. Sie signalisiert einen erheblichen Stimmungsumschwung. Noch ein halbes Jahr zuvor hatte sich die Mehrheit der Italiener (55 %) für einen Verbleib in der EU ausgesprochen. Längst schon geistert der Ausdruck „Itexit“ durch die Medien.
Beppe Grillo, der Chef der zurzeit starken Protestbewegung „Movimento 5 stelle“, spricht sich seit langem für einen Ausstieg Italiens aus dem Euro aus. Die Gemeinschaftswährung sei „ein Strick um den Hals“, sagt er. Und die in Norditalien starke Lega Nord will, dass Italien zur Lira zurückkehrt und aus der EU aussteigt.
Balsam auf die Seele vieler Italiener
Renzi kämpft ums politische Überleben. Ende November oder Anfang Dezember findet die Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung statt. Verliert Renzi das Referendum, geht seine Ära wohl sofort oder bald danach zu Ende. Deshalb muss er im jetzigen Abstimmungskampf auf die Stimmung im Land Rücksicht nehmen. Deshalb auch ist seine Kritik an Merkel und Hollande Balsam auf die Seele vieler Italiener.
Doch auch wenn innenpolitische Gründe eine Rolle spielen: Italien ist ein Gründungsmitglied der EU. Alle italienischen Regierungen haben sich für ein vereintes Europa stark gemacht. Wenn jetzt zum ersten Mal ein italienischer Ministerpräsident derart lautstark ausschert, ist das ein heftiger, wenn auch symbolischer Schlag gegen die EU. Und dies in einer Zeit, in der es an Schlägen nicht mangelt. Die italienische Ausgabe der Huffington Post titelte am Samstag schon: "Die EU liegt im Koma".