Die grossen Prozesse gegen die türkischen Offiziere sollen wieder aufgerollt werden. Dies ist eine Folge des Streits zwischen Erdogan und den Gülen-Anhängern. Erdogan scheint bereit, sich nun mit der Armee gegen Gülen zu verbünden.
Ministerpräsident Erdogan hat am 4. Januar einige Journalisten zum Frühstück eingeladen. Im Verlauf der Gespräche erklärte er, er sei im Prinzip dafür, dass die Prozesse gegen die Armeeoffiziere wieder eröffnet würden. Dies sind die grossen Prozesse, in denen die höchsten türkischen Offiziere der Streitkräfte, zusammen mit Hunderten anderer Offiziere, aktiver und pensionierter, mit Journalisten und einigen anderen Zivilisten zu langen Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. Die Urteile in einem dieser Monsterprozesse, "Ergenekon", sind bereits endgültig vom Obersten Gerichtshof bestätigt. Im anderen, "Vorschlaghammer" genannt, steht die Bestätigung durch die letzte Gerichtsinstanz noch aus.
Gewaltige Sensation
Beide Prozesse dienten Erdogan und seiner regierenden AK-Partei dazu, die türkische Armee den zivilen Behörden unterzuordnen. Während Jahrzehnten zuvor, war die Armee die letztlich entscheidende Kraft in der türkischen Politik gewesen. Die beiden Grossprozesse dominierten während der Jahre von 2007 bis heute die türkische Innenpolitik. Dass die Prozesse jetzt wieder aufgerollt und revidiert werden könnten, gilt als gewaltige Sensation für die gesamte politische Klasse der Türkei.
Hintergrund dieser Entwicklung ist die Untersuchung gegen drei kürzlich zurückgetretene Minister Erdogans. Ihre Söhne werden der Korruption verdächtigt und angeklagt. Die Affäre hatte am 17. Dezember zu mehr als 20 Verhaftungen geführt.
Ein Prediger im Visier
Erdogan hat öffentlich erklärt, bei dieser "dreckigen Untersuchung" handle es sich um eine Verschwörung gegen seine Regierung und seine Partei. Er nannte die Verschwörer nicht beim Namen, doch aus seinen Anspielungen ging hervor, dass er die Anhänger des türkischen Geistlichen und Predigers Gülen im Auge hatte. Gülen selbst lebt in den USA, doch er hat viele Anhänger weltweit, besonders in der Türkei. Dem Vernehmen nach sollen diese auch in der türkischen Polizei, in den Gerichten sowie deren Untersuchungsinstanzen über grossen Einfluss verfügen.
Erdogan reagierte auf die Korruptionsanklagen, indem er zahlreiche Polizeichefs entliess oder versetzte und auch gegen Staatsanwälte vorging. Einem von ihnen, der die Korruptionsuntersuchungen leitete und eine neue Verhaftungswelle vorbereitete, verweigerte die Polizei den Gehorsam, worauf er zurücktrat. Dadurch wurde verhindert, dass die Untersuchung über die Korruption sich noch weiter ausweitete.
Die vermutete Rolle der Gülen-Anhänger
Jedermann in der Türkei glaubt zu wissen, dass bei den Untersuchungen und der Beweisführung gegen die Offiziere in den beiden erwähnten Grossprozessen Anhänger Gülens eine wichtige, wenn nicht gar die entscheidende Rolle spielten. Strikte Beweise dafür fehlen allerdings, weil es kein offizielles Register der Gülen-Anhänger gibt. Allgemein wurde angenommen, dass in den Grossprozessen, welche die politische Macht der türkischen Offiziere brachen, die juristischen Fachleute und Polizeigewaltigen aus den Kreisen Gülens und die Politiker der AK-Partei gemeinsame Sache machten.
Beide hatten ein Interesse daran, die politische Rolle der Militärs und der Geheimdienstleute, was in der Türkei als der "Tiefe Staat" bezeichnet wurde, zu brechen. Doch nun scheint Erdogan seine bisherige Allianz mit der Gülen-Organisation, "Hizmet", zu brechen und stattdessen wieder die Offiziere als Stützen seines Regimes beizuziehen.
Der Generalstab greift ein
Der türkische Generalstab hat jetzt Klage gegen jene Richter und Gerichtsbehörden eingereicht, welche die Hunderten von Offizieren verurteilt hatten. Der Generalstab erklärt, die Offiziere seien einer verbrecherischen Manipulation durch die Gerichts- und Untersuchungsbehörden zum Opfer gefallen. Diese hätten falsche Beweise gegen sie teils fabriziert, teils übernommen, und sie hätten die berechtigten Einwände ihrer Verteidiger unberücksichtigt gelassen.
Die türkischen Journalisten glauben nicht, dass der gegenwärtige Generalstab gewagt hätte, eine solche Klage vorzubringen, wenn er nicht von "höherer Stelle", lies Erdogan, dazu ermuntert worden wäre. Der nach dem 17. Dezember neu eingesetzte türkische Justizminister hat verlauten lassen, dass er sich bereits mit der Frage beschäftige, wie die Prozesse vom juristischen Standpunkt aus neu aufgerollt werden könnten. Einige Parlamentarier der AK-Partei erklärten sich bereit, ein dazu notwendiges Gesetz zu formulieren.
Gefährdete Gewaltentrennung?
Doch die Juristen warnten, dass durch derartige gesetzliche Manipulationen der türkische Rechtsstaat und die Gewaltentrennung im Staat kompromittiert würden. Der Vorsitzende der türkischen Juristen-Vereinigung (TBB), der über 66‘000 Juristen angehören, Metin Feyzioglu, hat seinerseits einen Plan von sieben Punkten entworfen, der zur Wiederaufnahme der Gerichtsverhandlungen führen könnte.
Sein Hauptpunkt wäre, die Abschaffung der Sondergerichte, die das Verfahren gegen die Offiziere führten und die Wiederaufnahme der Verhandlungen vor normalen Gerichten. Dabei ist auch schon von möglichen Kompensationen für die betroffenen Offiziere die Rede. Erdogan liess verlauten, er habe mit Feyzioglu „fruchtbare Gespräche“ geführt. Dieser konferierte auch mit dem Staatschef, Abdullah Gül, und Gül soll Fachleute beauftragt haben, den Plan Feyzioglus zu beurteilen.
Kommen die Richter vor Gericht?
Das sich abzeichnende Renversement des Alliances könnte neben der möglichen Entlastung aller oder vieler der Offiziere auch dazu führen, dass ihre bisherigen Richter und Untersuchungsbehörden ihrerseits wegen Rechtsmissbrauch angeklagt und verfolgt würden. Dies würde dann in erster Linie Personen betreffen, die als der Gülen-Bewegung nahe stehend eingestuft werden.
Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass ein Tauschgeschäft eingeleitet würde: Erdogan könnte auf eine Verfolgung der Gülen-Leute verzichten, und diese ihrerseits darauf, die Korruptionsuntersuchungen fortzuführen.
Wird die Armee wieder zur Stütze?
Ob Erdogan das erste oder das zweite Verfahren begünstigen wird, bleibt abzuwarten. Er befindet sich gegenüber der plötzlich zum Feind erklärten Gülen-Bewegung – ohne, dass er sie beim Namen nennt - in der stärkeren Position, wenn er wieder die Armee auf seine Seite zieht. Er kann daher abwägen, ob es für seine politischen Chancen besser sei, auf einen Kompromiss mit Gülen hinzusteuern, oder zu versuchen, die Gülen-Bewegung Schach Matt zu setzen.
Was die gesamten politischen Manöver allerdings für das Prestige des Ministerpräsidenten und auch für das Ansehen und das Wirtschaftsklima der ganzen Türkei bedeuten werden und wie dies das türkische Volk beurteilt, werden die Wahlen vom kommenden Frühjahr zeigen.