Ein Krieg gegen ISIS wäre die weniger zerstörerische Entwicklung als ein Bürgerkrieg im Irak. Dieses geringere Übel kann man sich nur vorstellen, falls Nuri al-Maliki nicht an der Macht bleibt und falls es gelingen sollte, an seiner Statt einen Ministerpräsidenten zu finden, der das Vertrauen sowohl der Schiiten wie auch der «normalen» sunnitischen Bevölkerung erlangt. Unter «normal» wäre in diesem Zusammenhang jene grosse Mehrheit der sunnitischen Iraker zu verstehen, die der Misere eines Bürgerkrieges zu entrinnen hoffen und die nicht wirklich an das von ISIS neu proklamierte Kalifat glauben, welches soeben von «Kalif Ibrahim», bisher Abu Bakr al-Bagdadi genannt, proklamiert worden ist.
Einwirkungen von aussen und innen
Ob Maliki bleibt oder nicht, hängt von einem komplizierten innenpolitischen Spiel ab, das seinerseits unter dem Druck der Aussenmächte steht, in erster Linie Irans, der USA und der Golfstaaten. Wobei diese drei Komponenten teils am gleichen Strick ziehen, teils in entgegengesetzten Richtungen.
Das innenpolitische Spiel wird auch beeinflusst durch die kriegerische Entwicklung, genauer: durch die Wahrnehmung derselben durch die einzelnen Spieler. Je mehr die Befürchtungen zunehmen, dass ISIS sich bis nach Bagdad ausdehnen und vielleicht Bagdad selbst zum Kriegsschauplatz machen könnte, desto schlechter werden die Chancen für Maliki. Je eher der Eindruck entsteht, die ISIS Kämpfer hätten sich übernommen und könnten von der irakischen Armee mit ihren schiitischen Hilfskräften schon bald zurückgedrängt werden, desto besser sind seine Aussichten.
Machtverhältnisse im Parlament
Letzten Endes sind es die neu gewählten irakischen Parlamentarier, die festlegen werden, wer ihr neuer Ministerpräsident wird. Deshalb ist es der Mühe wert, einen Blick auf die Zusammensetzung dieses neu gewählten aber zurzeit noch nicht zusammengetretenen Parlamentes zu werfen. Was man darüber weiss, lässt sich statistisch zusammenfassen:
- Das ganze Parlament besteht aus 325 Abgeordneten.
- Zur Partei Maliks gehören davon 92; weitere 10 bis 12 können darüber hinaus als seine Anhänger gelten.
- Andere schiitische Parteien verfügen total über rund 60 Abgeordnete. Die grösste von ihnen, ISCI (Islamic Souverain Council of Irak, angeführt von der Hakim-Familie) hat rund 30.
- Die Kurden sind durch 53 Gewählte vertreten.
- Etwa 60 Parlamentarier kann man als Sunniten oder irakische Nationalisten bezeichnen.
- Es gibt etwa 40 unabhängige Gewählte.
- Das heisst, es gibt zwei Hauptblöcke in dem bevorstehenden Parlament: den Malikis und seiner Verbündeten mit rund 112 Abgeordenten
- und jenen der nicht zu Malikis Partei gehörenden Schiiten und der Kurden von zusammen rund 113 Abgeordneten.
- Dazu kommt als dritter, sehr locker gefügter Block jener der Sunniten, Nationalisten und Unabhängigen von rund 100 Personen. In dieser Gruppe befinden sich neben anderen Unabhängigen auch jene Sunniten, die nicht bei dem Aufstand gegen den Staat durch ISIS und angeschlossene Gruppen mitwirken.
Hält die schiitische Solidarität?
Ob Maliki wird regieren können oder nicht, hängt in erster Linie von den anderen schiitischen Parteien ab. Seine Anhänger und die anderen Schiiten erreichen eine Mehrheit von rund 172 Personen; das absolute Mehr beträgt 163. Die Führer der anderen schiitischen Parteien sind eigentlich Rivalen Malikis. Doch es könnte sein, dass sie zu Maliki halten, falls sie erkennen, dass sie ohne ihn keine funktionsfähige Regierung aufstellen können.
Mit den Kurden eine Regierung zu bilden, von welcher die Mehrheit der Schiiten, die Maliki anhängen, ausgeschlossen wären, dürfte für sie schwer vorstellbar sein. Die Kurden haben zur Zeit deutlicher denn je unterstrichen, dass sie gedenken, eine eigene Nation zu bilden und sich vom Irak abzutrennen. Dies natürlich mitsamt dem umstrittenen Gebiet von Kirkuk, das sie gegenwärtig besetzt halten.
Dass die schiitischen Rivalen Malikis unter den Unabhängigen genügend Personen für sich gewinnen könnten, um eine Mehrheit zu erlangen, ist kaum vorstellbar (60+100=160; also knapp unter der Mehrheit). Dies ginge nur, wenn sie gleichzeitig auch Überläufer aus den Reihen der bisherigen Anhänger Malikis für sich gewinnen könnten.
Maliki wird natürlich seinen schiitischen Rivalen Angebote zur Regierungsbeteiligung machen, wenn sie sich entschliessen, mit ihm zusammenzuarbeiten. Dies haben sie – manche zähneknirschend – in der vorausgegangenen Maliki-Regierung getan. Daher die Annahme: Falls es so aussieht, als ob Maliki in der Lage wäre, ISIS zurückzuschlagen, stehen seine Chancen für die Regierungsbildung gut. Er könnte wie bisher eine schiitische Mehrheitsregierung bilden, vielleicht mit Beteiligung einiger sunnitischer Würdenträger auf Neben- und Ehrenposten.
«Hilfe» von USA und Iran
Doch dazu kommen die Einflüsse von aussen. Die Amerikaner haben bis jetzt am deutlichsten Stellung bezogen, indem sie erklärten, nur eine die Sunniten einbeziehende Regierung habe Aussichten, den Irak zusammenzuhalten, und nur einer solchen Regierung würden sie «entschieden» helfen. Sie haben jedoch diese Erklärung durch ihr Verhalten aufgeweicht. Ein bisschen helfen sie Maliki bereits jetzt mit Spezialtruppen und mit Waffenverkäufen. Wieviel mehr eine «entschiedene Hilfe» bedeuten würde, ist unklar. Die Skeptiker unter den Irakern werden sich sagen: vielleicht nicht viel mehr!
Die Iraner halten sich mehr bedeckt. Auch sie haben Hilfe versprochen, und es ist klar, dass sie ISIS als einen Feind und eine Bedrohung einstufen. Sie haben – jedenfalls in der Öffentlichkeit – ihre Hilfe nicht daran gebunden, dass eine Regierung aller politischen Kräfte gebildet wird. Wie die USA gehen sie darauf aus, ISIS im Irak zu bekämpfen. Doch eine Zusammenarbeit mit den Amerikanern hat Khamenei höchstpersönlich zurückgewiesen.
Saudische Interessen im Irak
Die Saudis sind entschiedene Gegner Malikis, und dieser hat sie zu Hauptfeinden seines Landes erklärt. Doch auch Riad weiss, dass ISIS eine Gefahr darstellt – nicht nur für Maliki, sondern auch für das saudische Königshaus. Gleichzeitig sieht Riad alle Schiiten – die irakischen, die iranischen, die libanesischen, die jemenitischen und die syrischen sowie jene von Bahrain und auch noch die in Pakistan und in Afghanistan – als seine Gegenspieler. Die Saudis wissen aber auch, dass eine überwiegend sunnitische Regierung im heutigen Irak schlechterdings nicht zustande kommen kann, wenn man von dem geplanten Kalifat des ISIS absieht.
Die logische Zielrichtung des saudischen Einflusses müsste daher eine «nationale» Regierung im Irak sein, der alle Kräfte – und damit auch die Sunniten – angehörten, ähnlich wie sie die Amerikaner befürworten. Doch ob und inwieweit Riad nach dieser Logik handelt, ist nicht auszumachen.
Wie lange wird geredet?
Die Verhandlungen um die irakische Regierungsbildung hatten nach den Wahlen von 2009 gute neun Monate lang gedauert. Eine lange Verhandlungsperiode wurde auch nach den jüngsten Wahlen erwartet. Doch die kriegerischen Verwicklungen bedeuten, dass der Irak sofort eine Regierung benötigt. Der wichtigste Gottesgelehrte der irakischen Schi'a, Ayatollah Sistani, der sich normalerweise jeder direkten politischen Stellungnahme enthält, hat aus diesem Grund eine Ausnahme gemacht und öffentlich alle Iraker aufgerufen, rasch eine Regierung zu bilden. Er regte an, die gewählten Abgeordneten sollten sich noch vor der ersten Zusammenkunft des Parlamentes auf eine Koalition einigen und den künftigen Ministerpräsidenten bestimmen.
Sistanis Stimme ist von grossem Gewicht. Millionen von irakischen Schiiten folgen seinem Gebot. Jedoch wieweit die gewählten Abgeordneten sich zu diesen Millionen zählen lassen, ist ungewiss. Für viele von ihnen dürften die Aussichten, eventuell an einer Regierung beteiligt zu werden, noch wichtiger sein als die Weisungen des Gottesmannes.
Hauptinteresse: Zugriff auf Ölgeld
Beteiligungen am Rande einer Regierung bringen wahrscheinlich keinen grossen Einfluss. Machtpositionen wird Maliki oder ein anderer Ministerpräsident für seine engsten Vertrauten reservieren oder selbst übernehmen. Doch eröffnen sich für alle Regierungsmitglieder und ihre Mitläufer Aussichten auf viel Geld, weil die Leute der Regierung an den Erdölquellen sitzen und als erste aus ihnen schöpfen.
Die erste Parlamentssitzung war auf den 1. Juli angekündigt, doch nun scheint sie bereits auf den 4.‑Juli verlegt worden zu sein. Als erstes wird das Parlament einen Sprecher wählen, dann einen Staatspräsidenten; letzteres theoretisch innert dreissig Tagen nach der Wahl des Sprechers. Erst dann käme, formell gesehen, die Wahl des Ministerpräsidenten an die Reihe. Was erwarten lässt: Wenn keine akute Alarmsituation mehr besteht, oder nicht mehr zu bestehen scheint, dürften die zähen Verhandlungen andauern und möglicherweise noch viele Wochen oder Monate in Anspruch nehmen.
Nur wenn ISIS eine offensichtliche Notlage und einen Alarmzustand in Bagdad herbeiführt, könnte der Druck auf Maliki dermassen zunehmen, dass sich eine «nationale» Mehrheit gegen ihn zusammenfände und einen Ministerpräsidenten ernennen würde, dem zugetraut werden kann, dass er im Interesse der irakischen Schiiten und der irakischen Sunniten redet und handelt.