Frankreichs Präsident hat keine Regierung mehr. Vergangenen Sommer hatte er Wochen lang gebraucht, um nach der Schlappe bei den von ihm provozierten Parlamentswahlen einen Premierminister zu ernennen. Macrons Wahl fiel, in völligem Widerspruch zum Wahlergebnis, auf Michel Barnier von der konservativen Partei Les Républicains. Gerade mal drei Monate später ist die Regierung Barnier bereits wieder Geschichte.
Am Anfang der mehr als vertrackten Lage, in der sich Frankreich nach dem Sturz der Regierung Barnier nun befindet, steht als Verantwortlicher ein einziger Mann: Präsident Emmanuel Macron.
In der Einsamkeit seines vergoldeten Elfenbeinturms hatte er am Abend der Europawahlen, am 9. Juni 2024 – beraten von einer Handvoll dubioser und unfähiger Berater – beschlossen, das Parlament aufzulösen und damit Neuwahlen auszurufen.
Für Macrons Abgehobenheit und besonders für seinen Regierungsstil typisch war in diesem Zusammenhang: seinen damaligen Premierminister, Gabriel Attal, hat der Präsident von seiner folgenschweren Entscheidung tatsächlich nur wenige Minuten vor Bekanntgabe der Parlamentsauflösung informiert. Seither sprechen die beiden nicht mehr miteinander. «Macron hat Attal entlassen und nicht mal ein Entlassungsgespräch mit ihm geführt», so eine Stimme, kürzlich aus dem Elyséepalast.
Die unerkärliche Auflösung des Parlaments
In diesem Elyséepalast agiert nun weiterhin einer, dem je länger er an der Macht ist, besonders aber seit Beginn seiner zweiten Amtszeit, anscheinend jedes politische Fingerspitzengefühl und alle strategischen Fähigkeiten abhandengekommen sind.
Ein Blick in die Archive aus dem letzten Sommer und auf das, was der Herr im Elysée-Palast damals, nach der von ihm verfügten Parlamentsauflösung, von sich gegeben hat, ist für den französischen Präsidenten heute ausgesprochen beschämend , bitter, ja regelrecht grausam.
«Ich habe diesen Weg gewählt», so Macrons Rechtfertigung Ende Juli, 14 Tage nach der hochkant verlorenen Parlamentswahl, «weil doch alle gesagt haben, dass im kommenden Herbst mit Sicherheit ein Misstrauensvotum ansteht, was die Auflösung der Nationalversammlung zur Folge haben würde und dies wäre dann mitten in der Haushaltsdebatte. Diese Leute haben sich gesagt: Bringen wir den Sommer und die Olympischen Spiele hinter uns, danach haben wir dann die politische Krise».
Doch genau das, was Präsident Macron damals mit der Auflösung der Nationalversammlung angeblich vermeiden wollte, ist jetzt eingetreten: Wir sind im Herbst 2024, mitten in der Haushaltsdebatte und die politische Krise, wie sie schlimmer kaum sein könnte, ist da.
Macron hatte sich und seine Fähigkeiten, nach der verlorenen Europawahl bei den Parlamentswahlen das Steuer herumzureissen und zu gewinnen, geradezu grenzenlos überschätzt und sich als erbärmlicher politischer Stratege erwiesen.
Denn, es sei bei dieser Gelegenheit nochmals daran erinnert: Nach den Parlamentswahlen am 7. Juli 2024 hatte Macrons eigenes Lager rund 100 Abgeordnete weniger als vor der Wahl. Die einst grosse konservative Partei «Les Républicains» verlor rund 20 Sitze und stellt seitdem gerade noch 7,8% der Abgeordneten in der Nationalversammlung. Warum Macron nach monatelangem Zögern den Premierminister Barnier ausgerechnet aus den Reihen dieser schwindsüchtigen Partei gewählt hat, bleibt sein Geheimnis. Derweil gewann Le Pens «Rassemblement National» bei den Wahlen mehr als 50 Sitze hinzu, die oberflächlich geeinte Linke ungefähr 20, wurde damit aber immerhin stärkste Fraktion in der neugewählten Nationalversammlung.
Abrechnung mit Macron
«Wenn ein zweifelsohne intelligenter Mensch eine derart dämliche Tat begeht, dann muss man wohl auf dem Terrain der Psychologie nach einer Erklärung suchen.»
Dieser Satz, kürzlich in «Le Monde» zitiert und auf Präsident Macron gemünzt und auf seine einsam getroffene, fatale Entscheidung, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen zu provozieren – er stammt von Alain Minc, Minc ist Essayist, ehemaliger Banker und Fondsmanager und zugleich einer, der seit Mitterrand mehr oder weniger alle französischen Präsidenten beraten hat. 2017 hielt er sich noch zugute, auch das Phänomen Macron mitentdeckt zu haben und hielt eine zeitlang seine schützende Hand über den jungen Präsidenten.
Jüngst aber, nach dem Erscheinen seines letzten Buchs, hat der klein gewachsene, schmächtige Alain Minc ausgesprochen kräftig hingelangt und, was den amtierenden Präsidenten angeht, absolut kein Blatt mehr vor den Mund genommen.Die Tageszeitung «Le Monde» hat letzte Woche einen zweiseitigen Artikel veröffentlicht unter dem Titel «Seit der Pralamentsauflösung – der langsame Niedergang des Emmanuel Macron», aus dem in der Tat eine gewisse Endzeitrstimmung hervorscheint, die, so der Artikel, seit letztem Sommer im Elysee und in der Umgebung des Präsidenten herrschen soll.
Wie auch viele andere aus Macrons eigenem Lager hat Alain Minc dem Präsidenten die Auflösung der Nationalversammlung im Juni dieses Jahres nicht verziehen, spricht «vom schlimmsten politischen Trauma», das die 5. Republik in den letzten 50 Jahren erlebt habe und bezeichnet den Verantwortlichen für dieses Trauma als «Königskind, dessen Narzissmus pathologische Dimensionen angenommen hat, mit einer ausgeprägten Neigung, die Realität zu leugnen».
Götterdämmerung
Man darf den Eindruck haben, all diejenigen, die Macron einst nahestanden und von ihm heute zum Teil grenzenlos enttäuscht sind, stricken sich derzeit Erklärungen zurecht für das, was geschehen ist und für die Stimmung , die in und um den Elysèe-Palast nun seit Monaten herrscht und einer Götterdämmerung gleichkommt.
Jupiter ist vom Thron gefallen, sitzt trotzig und betreten im Matsch und weiss nicht, was tun, um aus selbigem wieder herauszukommen. Böse, bei «Le Monde» zitierte Zungen, vergleichen Macron heute schon mit René Coty, dem Staatspräsidenten, der 1958 das Ende der 4. Republik einläutete und General De Gaulle zu Hilfe rufen und mit Sondervollmachten ausstatten musste, und bezeichnen Macron ganz nebenbei als «erloschenen Stern». Über diesen Macron soll Ex-Präsident François Hollande eines Tages geäussert haben: «Macron ist ein Kind. Er spielt.»
Wozu Alain Mincs von «Le Monde» zitierte Äusserung passt, Macron sei ein «Schauspielerlehrling , der ständig die französische Gesellschaft mit der Theaterbühne verwechselt habe».
Nicht gerade zimperlich geht auch Macrons ehemaliger Erziehungsminister Blanquer mit dem Präsidenten ins Gericht. «Dieser gefallene Engel hat das Land in den Abgrund mitgerissen, in den er sich selbst gestürzt hat» – so das Urteil des Ex- Ministers. «Er wollte das politische Leben im Land angeblich aufmischen und erneuern. Letztlich hat er es zu Boden gerissen», soll Laurent Berger, ehemaliger Chef der grössten französischen Gewerkschaft, CFDT, geäussert haben.
Der Präsident hier und heute ?
Als der Anfang vom Ende der Regierung Barnier an diesem Montag eingeläutet und am Tag danach die Regierung gestürzt wurde, da weilte Emmanuel Macron, der derzeit einen Auslandsaufenthalt nach dem anderen in seinem Terminkalender fixiert hat, so als wolle er dem angerichteten Chaos im eigenen Land entfliehen, beim saudi-arabischen Staatsoberhaupt, dem berüchtigten Erbprinzen mit dem Kürzel MBS – Mohammed bin Salman. Selbiger hatte bekanntlich vor wenigen Jahren einen ungeliebten, kritischen Journalisten im Konsulat seines Landes in Istanbul zerstückeln, in Salzsäure auflösen und durch die Kanalisation davonschwimmen lassen. Macht nichts – Macron hofiert ihn trotzdem.
Warum auch nicht? Er tut nichts anderes als der zwielichtige Weltfussballverband FIFA, der kurz vor Macrons Visite doch tatsächlich die Fussball-WM 2034 de facto an diesen Milliarden spuckenden Wüstenstaat vergeben hat, so als wäre nichts geschehen und sei die WM in Katar nicht schon unappetitlich genug gewesen.
Stabilität?
Macron, mit einer Hundertschaft von Wirtschaftsbossen im Schlepptau, wurde dann doch noch von der Aktualität in der Heimat eingeholt. Als bewege er sich eben tatsächlich in einer anderen Welt, weitab vom Schuss, sprach er in die Mikrophone: «Ich kann nicht glauben, dass der Regierung das Misstrauen ausgesprochen wird, ich vertraue darauf, dass die Menschen kohärent sind. Meine Priorität ist die Stabilität. Der «Rassemblement National » zeugt von einem unerträglichen Zynismus, wenn er dem Misstrauensantrag der Linken zustimmt und damit seine Wähler beschimpft. Und die Sozialisten, allen voran Ex-Präsident Hollande, haben jedwede Orientierung verloren, wenn sie für diesen Misstrauensantrag stimmen».
Und von einer möglichen Finanzkrise wollte Macron im Land der Saudis, umringt von Konzernchefs, schon gar nichts wissen und äussert sich im Stil eines Handlungsreisenden, der dabei wäre, sein Land anzupreisen und verkaufen zu wollen: «Man darf den Leuten keine Angst machen. Unsere Wirtschaft ist stark, Frankreich ist ein reiches und solides Land, das viele Reformen unternommen hat. Ein Land mit stabilen Institutionen und einer stabilen Verfassung.»
Irgendwo ist Riad eben doch sehr weit entfernt von Paris. Während zu Hause fast alle vor der Instabilität warnten, die ein Misstrauensvotum und der Sturz der Regierung zur Folge haben würden, brüstete sich der Präsident ein paar tausend Kilometer weiter östlich mit der Stabilität, die in Frankreich herrsche. Hat da nicht kürzlich jemand etwas von Realitätsverlust beim Staatspräsidenten diagnostiziert?
Der Monarch verschnauft in Notre-Dame
Wenige Tage vor seiner Reise in die Wüste und dem angekündigten Sturz seiner Regierung, hatte sich Emmanuel Macron, auf Schritt und Tritt begleitet von den gutwilligen Kameras des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, eine Art Privataudienz in der glänzend revovierten Kathedrale von Notre-Dame arrangiert.
Es handelte sich offiziell um die letzte, die siebte Baustellenvisite des Staatspräsidenten und um einen zwanglosen Rundgang durch das neu erstrahlende Juwel.
Das Problem: Macron defilierte da zwei Stunden lang und sonnte sich, ausgestattet mit einem drahtlosen Mikrophon, damit ja kein präsidiales Wort verloren geht, im Glanz des restaurierten Naturgesteins der Kathedrale. Ein Défilé, das den Eindruck vermittelte, der Präsident tue alles, um sich und die Franzosen von den irdischen Problemen abzulenken.
Rücktritt des Präsidenten?
Angesichts der chaotischen Situation, in der das Land seit gestern Abend steckt, mehren sich die Stimmen, die für einen Rücktritt des Präsidenten plädieren. Und sogar nicht nur mehr seitens der extremen Rechten von Le Pen oder der Linkspartei von Melenchon.
«Wir können nicht bis 2027 und bis zur nächsten Präsidentschaftswahl so weitermachen», lautete jüngst die Kritik von Jean François Coppé, eine der früheren Grössen der neogaullistischen Partei Les Républicains. Ins selbe Horn stiess am Dienstag dann auch der Zentrumspolitiker und Präsident der Region Normandie, Hervé Morin.
Macrons Reaktion auf diese Rücktrittsforderungen war ohne Überraschung. Präpotent wie immer und grenzenlos von sich selbst eingenommen, erklärte er: «Wenn ich hier vor ihnen stehe, dann weil ich zwei Mal vom französischen Volk gewählt worden bin. Darauf bin ich extrem stolz und ich werde dieses Vertrauen ehren mit all meiner Energie und dies bis zur letzten Sekunde, um für unser Land nützlich zu sein.»
Wie weiter?
Zunächst muss Macron aber erst mal einen neuen Premierminister oder eine -ministerin finden und dies möglichst schnell, um zumindest oberflächlich den Eindruck zu erwecken, noch Herr über das Chaos zu sein. Wer auch immer sich bereiterklärt, auf diesem Schleudersitz im Hôtel Matignon Platz zu nehmen – grundsätzlich ändern wird sich nichts, denn die Konstellation der drei etwa gleichstarken Blöcke im Parlament, die bislang untereinander zu keinerlei Kompromissen bereit waren, bleibt bestehen.
Und Marine Le Pen, die Premierminister Barnier bis zum Ende erpresst hat, um letztlich dann doch für seinen Sturz zu sorgen, indem sie – was historisch ist – die Abgeordneten ihrer Partei für einen Misstrauensantrag der Linken stimmen liess, sie hat sich für eine Strategie des Chaos entschieden und nichts deutet darauf hin, dass sie umschwenken wird.
Präsident Macron wendet sich am Donnerstagabend wieder einmal per Fernsehansprache an sein Volk, ohne dass er für die bislang nie dagewesene Situation eine echte Lösung anbieten könnte. Dass er tut, was von Anfang an normal gewesen wäre und eine Persönlichkeit ernennt aus dem linken Lager, welches bei den Wahlen am meisten Stimmen erzielt hatte, scheint nicht besonders wahrscheinlich, würde aber zumindest dafür sorgen, dass die extreme Rechte und Marine Le Pen nicht mehr aus dem Hinterhalt die Politik bestimmen können.
Welche Bilanz ?
Angesichts der herrschenden Endzeitstimmung im Elysée-Palast und darüber hinaus, stellt sich jetzt schon zusehends die Frage nach der Bilanz, die man – tritt er nicht vorzeitig zurück – von der 10-jährigen Präsidentschaft Emmanuel Macrons ziehen wird .
Und da sieht es schon heute reichlich düster aus. Selbst auf dem Gebiet der Ökonomie hinterlässt der ehemalige Banker, Wirtschaftsminister und Intimfreund des französischen Grosskapitals, der u. a. Bernard Arnault, Chef des Luxusgüterkonzerns LVMH und einer der reichsten Männer der Welt, zu seinem engeren Umfeld zählt, eine eher zerrüttete Landschaft.
Grossunternehmen wie Michelin oder Peugeot streichen derzeit tausende Arbeitsplätze, die Zahl der Betriebsschliessungen steigt.
Vor allem aber ist die Staatsverschuldung unter Macrons Präsidentschaft auf 3,3 Billionen Euro und damit auf 112 Prozent des Brutosozialprodukts geklettert, eine der höchsten in ganz Europa. Auch die jährliche Neuverschuldung liegt für 2024 bei 6 Prozent – nur Rumänien steht in der EU noch schlechter da. Allein für die Zinsen der Schuldenlast muss Frankreich derzeit jährlich 40 Milliarden Euro berappen, Tendenz steigend.
Dies und die von Macron höchstselbst ausgelöste politische Instabilität im Land sorgen inzwischen auch für spürbare Nervosität an den Finanzmärkten. Frankreich musste dort in der letzten Woche 3,05 Prozent Zinsen bezahlen, um sich Geld zu leihen – mehr als das einst so verpönte Griechenland heute. Nicht gerade ein positives Symbol, welches für Vertrauen in das Land sorgen und die von Macron beschworene Stabilität glaubhaft machen könnte.