In der Türkei hat die grösste Epuration der Polizeikräfte stattgefunden, die es je gegeben hat. Hunderte von Polizisten wurden versetzt oder entlassen. Die Veränderungen im Polizeiapparat erreichten ihren Höhepunkt in der Nacht auf den 8. Januar. Die Polizeikommandanten in den Grossstädten Ankara, Istanbul und Izmir, die Polizeioberhäupter in zwölf der wichtigsten Provinzen des Landes sowie das „Stellvertretende Nationale Oberhaupt“ der türkischen Polizei, Muammer Bucak, wurden suspendiert.
Die "juristisch-polizeiliche Verschwörung"
All dies geschah als Gegenmassnahme der Regierung gegen eine vermutete "juristische und polizeiliche Verschwörung" innerhalb dieser Behörden. Ministerpräsident Erdogan hat mehrmals erklärt, es gebe eine solche Verschwörung, die versuche, einen Staat im Staate zu bilden und auf diesem Weg die Regierung zu unterlaufen. Jedermann in der Türkei weiss, dass er damit auf die Anhänger der Gülen-Bewegung anspielt. Die Regierung und ihre Anhänger vermuten, diese Bewegung stecke hinter der Untersuchung und den Verhaftungen wegen Korruption, die am 17. Dezember vorgenommen wurden.
Die mutmasslichen Verantwortlichen für die angebliche Korruption reichen bis tief in die Reihen der Erdogan-Regierung und Erdogan-Freunde hinein, und der Regierungschef hatte sich gezwungen gesehen, die Demission von drei Ministern zu fordern, sowie seine gesamte Regierung weitgehend umzuformen.
Sind auch die Richter "Verschwörer"?
Die Untersuchungen wegen der mutmasslichen Korruption, in die auch drei Söhne von nun entlassenen Ministern verwickelt sind, gehen weiter. Die Regierung besitzt die Macht, alle Polizeibeamten zu versetzten oder zu entlassen, und sie kann auch den Staatsanwälten die Dossiers entziehen und ihnen "neue Aufgaben" zuweisen. Das passierte dem prominentesten aller Staatsanwälte der Türkei, Zakariya Öz. Öz wurde berühmt als unerbittlicher Verfolger der angeschuldigten Offiziere in den grossen Militärprozessen der vergangenen Jahre. Er hatte auch bei den nun im Mittelpunkt der Ereignisse stehenden Untersuchungen über die Korruption eine führende Rolle gespielt. Er wurde aber von dieser Untersuchung entbunden.
Nach seiner Suspendierung erklärte er öffentlich, die Regierung habe versucht, ihn unter Druck zu setzen, als er die Untersuchung in der Korruptionssache führte. Einige Personen hätten ihn kontaktiert und von ihm gefordert, die Untersuchungen einzustellen. Sie hätten ihm gedroht, wenn nicht, werde er zu leiden haben und ihm stünden schwere Folgen bevor. Sie hätten gesagt, der Ministerpräsident sei unzufrieden mit ihm, und sie hätten ihm nahe gelegt, sich schriftlich bei ihm zu entschuldigen. Ministerpräsident Erdogan liess durch einen Sprecher entgegnen, er habe keine derartigen Personen ausgesandt. Die oberste juristische Instanz der Türkei, der sogenannte HSYK - türkische Abkürzung für „Hoher Rat der Richter und Staatsanwälte“-, hat daraufhin eingegriffen und angekündigt, er werde eine Untersuchung der angeblichen Druckversuche auf Staatsanwalt Zakaria Öz durchführen.
Bleiben die Richter unabhängig?
Während die Regierung über die Polizeikräfte verfügen kann, besitzen die Richter und Staatsanwälte entsprechend der Gewaltentrennung in einem demokratischen Staat Unabhängigkeit. Der HYSK sieht sich selbst als Wächter dieser Unabhängigkeit an. Dieser Rat wurde ironischer Weise von der Erdogan-Regierung selbst zu einer vollständig unabhängigen Autorität erhoben, als diese 2008 nach einem Plebiszit zu einer Teilreform der türkischen Verfassung schritt. Zuvor waren die türkischen Richter seit der Zeit Atattürks eng mit den Regierungsinstitutionen verbunden gewesen.
Ein Gesetz zur Neuformierung des HSYK
Im Zuge des Vorgehens gegen die behauptete "richterliche und polizeiliche Verschwörung" will nun die Regierungspartei auch auf der Seite der Richter eingreifen. Die juridische Kommission der AK- Partei im Parlament arbeitet an einem Gesetzesvorschlag, der die Zusammensetzung des HSYK verändern soll. Sie schlägt vor, der stellvertretende Justizminister solle als Vorsitzender des HYSK wirken. Auch eine neue Zusammensetzung dieser höchsten richterlichen Instanz soll zur Diskussion stehen.
Der HYSK ist zuständig für die Aufsicht über die Richter und ihre Beförderung oder eventuelle Sanktionen und Entlassungen. Der Rat in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung hat die Regierungspartei gewarnt, ihr geplantes Gesetz verstosse gegen den Grundsatz der Gewaltentrennung und sei deshalb verfassungswidrig. Der Stellvertretende Vorsitzende der HYSK, Ahmet Havsci hat einen 66-seitigen Bericht über die Angelegenheit verfasst. Am 11. Januar versuchte eine juristische Delegation, dem Parlament eine Petition im Sinne der HSYK-Empfehlung vorzulegen. Doch die Parlamentsmehrheit wollte sie nicht anhören. Die Opposition war gegenteiliger Meinung, und dies führte zu einer parlamentarischen Schlacht, in der Fäuste zuschlugen und Dossiers und Wasserflaschen durch die Luft flogen. Ein Journalist will sogar ein fliegendes iPad gesehen haben.
Gegen "parallele Strukturen" im Rechtswesen
Die Regierungsspecher sagen, die Regierung wolle sich keineswegs gegen die Gewaltentrennung vergehen. Sie gehe nur darauf aus, "parallele Strukturen daran zu hindern, durch Missbrauch der Gerichte politische Ziele zu erreichen".
Doch nicht nur die Opposition und die richterlichen Behörden warnen vor dem geplanten Schritt der Regierung, auch die Wirtschaftsfachleute weisen warnend darauf hin, dass die Börsenkurse bereits gefallen seien und der Wert der türkischen Lira stark gelitten habe. Sie unterstreichen die Anhängigkeit der Türkei von ausländischen Investoren. Nur mit ihrer Hilfe könne der bisherige Aufschwung der türkischen Wirtschaft fortgeführt werden. Die Investoren halten sich jedoch zurück, wenn, wie sie betonen, Rechtsunsicherheit besteht.
Vor der parlamentarischen Abstimmung
Es sieht danach aus, dass Erdogan und seine parlamentarische Mehrheit ihre Pläne trotz allen Widerspruchs durchboxen werden. Eine parlamentarische Abstimmung steht noch bevor. Manche der Oppositionspolitiker meinen, möglicherweise würden nicht alle Abgeordneten der AK-Partei den Vorschlägen ihrer Regierung zustimmen. Doch solche Vermutungen sind sehr unsicher.
Der Staatschef, Abdullah Gül, müsste das neue Gesetz unterschreiben, was er möglicherweise unter Hinweis auf seine Ablehnung durch die Richter verweigern könnte. Doch bisher hat Gül alle Gesetze der AK-Partei ohne Widerspruch gegengezeichnet.
Gespaltene Öffentlichkeit
Die türkische Presse ist, wie wohl das ganze Land, völlig gespalten. Es gibt bedeutende Zeitungen, die als Gülen-nahestehend gelten. Die wichtigste von ihnen ist "Zaman", von der es sogar eine englische Ausgabe gibt. Dieser Teil der Presse kommentiert die "Säuberungsaktionen" der Regierung sehr negativ. Er betont, dass das Land in der Gefahr schwebe, wieder ganz in einen Zustand zurückzufallen, in dem die Regierung alles bestimme.
Manche Kommentatoren weisen auf die Zustände unter Adnan Menderes hin, als dessen Partei die Macht monopolisierte, bis 1960 die Armee einschritt. Nicht, wie sie sie in Erinnerung rufen, die Armeespitzen erhoben sich damals gegen das Regime. Der Putsch ging von Offizieren der mittleren Führung aus, Majoren und Obersten. Menderes wurde im Gefolge des Putsches mit zweien seiner Minister erhängt.
Bedenken im Ausland
Auch die europäischen Behörden haben sich bereits zu den Vorgängen geäussert. Die Türkei ist schliesslich Beitrittskandidat zur Europäischen Union. Ein Sprecher der Gemeinschaft in Brüssel erklärte, die Türkei sei dringend gebeten, alle erforderlichen Massnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass angebliche rechtswidrige Handlungen ohne Diskrimination untersucht würden.
Allerdings ist in der Türkei die Frage des Beitrittes zur europäischen Gemeinschaft nicht mehr so bedeutend, wie sie es früher gewesen war. All zu viele Jahre haben die Türken auf ihre endgültige Zulassung gewartet, und die Bevölkerung glaubt nicht mehr wirklich daran.
Bevorstehende Wahlen
Wichtiger als die Warnungen aus Brüssel dürften die Lokalwahlen vom kommenden März werden. Bei ihnen geht es auch um das höchst symbolische Bürgermeisteramt von Istanbul, mit dem einst Erdogans Laufbahn begann. Diese Wahlen werden zeigen, ob und wie weit die Regierungspartei angesichts der Korruptionsanklagen und der massiven Methoden, mit denen sie diese abzublocken versucht, mit Rückschlägen ihrer Popularität und einem möglichen Abbröckeln ihrer Mehrheitsposition im Parlament rechnen muss.