Seit Monaten jubeln die rechtspopulistischen, teils rechtsextremen europäischen Parteien: «Wir werden bei den Europawahlen einen Erdrutschsieg erringen.» Doch sie sollten sich mit ihrem Jubel zurückhalten.
Laut einer jetzt veröffentlichten Umfrage von «Statista», der renommierten deutschen Onlineplattform für Statistiken, würden die beiden Rechtsaussen-Parteien im Europäischen Parlament 2,5 Prozent Stimmen dazugewinnen – im Vergleich zu den Wahlen vor fünf Jahren.
Plus 2,5 Prozent – das ist kein Erdrutschsieg, kein Tsunami. Mit plus 2,5 Prozent macht man keine Revolution im Parlament, wie dies der rassistische, italienische Rechtspopulist Matteo Salvini in Aussicht stellte.
Andere Erhebungen zeigen ein ähnliches Bild. Auch das Meinungsforschungsinstitut «Ipsos» sieht «keine populistische Welle» voraus. Natürlich müssen Meinungsumfragen immer mit Vorsicht aufgenommen werden. Vielleicht ist dann an den Wahltagen doch alles anders. Aber vieles deutet darauf hin, dass die Rechtspopulisten zwar im Vormarsch sind, doch nicht in dem krassen Ausmass, wie sie es uns weismachen wollten.
Geringer Einfluss der Rechtspopulisten
Im Europaparlament, das mehrheitlich in Strassburg tagt, gibt es zwei Rechtsaussen-Fraktionen.
- Die Fraktion der «Europäischen Konservativen und Reformer» (EKR). Ihr gehören unter anderem Giorgia Melonis «Fratelli d’Italia», die polnische «PiS» – und (bis zu ihrem Rausschmiss) die «AfD» an.
- Die Fraktion «Identität und Demokratie» (ID). Ihr gehören unter anderem Marine Le Pens «Rassemblement national», Matteo Salvinis «Lega» und Herbert Kickls «FPÖ» an.
Die EKR und die ID hatten im 705 Mitglieder zählenden Parlament eher wenig Einfluss. Sie verfügten bisher zusammen über 118 Sitze. Ihr Einfluss war gering. Auf der Basis aggregierter nationaler Umfragen kämen sie höchstens zusammen auf etwa 160 bis 170 Sitze. Ihr Einfluss bliebe weiterhin gering. «Der rechte Flügel» schreibt Ipsos, «ist noch weit davon entfernt, das Europäische Parlament zu dominieren.» Die Konservativen, Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberalen und die Grünen bleiben die bestimmenden Kräfte.
«Super-Rechtsaussen-Bündnis»
Jetzt soll die Rechtsaussen-Konstellation aufgemischt werden. Verantwortlich dafür ist Marine Le Pen, die Frontfrau des rechtsextremen französischen «Rassemblement national».
Sie will im Europaparlament eine Fraktion schaffen, der wichtige, einflussreiche Rechtsparteien angehören: eine Art «Super-Rechtsaussen-Bündnis». Zuerst denkt sie an ein Zusammengehen zwischen ihrem Rassemblement und den italienischen Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni. Aber auch anderen Parteien aus den beiden Rechtsfraktionen stünden die Türen offen.
Dümmliche, unappetitliche Nazi-Schreier
Aber Le Pen und Meloni sind clever: Sie wollen in ihrem Bündnis nur «salonfähige» Rechtsextreme, keine alten und neuen Nazis, keine Schreihälse. Aus diesem Grund kippten sie die deutsche AfD kurzerhand aus dem Boot. Sie werfen der AfD-Chefin Alice Weidel vor, dass sie ihre dümmlichen, unappetitlichen Nazi-Schreier nicht im Griff hat. Für die AfD ist das eine Demütigung erster Güte. Man stelle sich vor, die eigene Familie jagt einen davon, und zwar in rüdester Art. Alice Weidel reiste noch wie ein Schulmädchen nach Paris, um bei einem Essen mit Le Pen um Gnade zu betteln. Doch Gnade wurde nicht erteilt: Die AfD wurde aus der rechtsextremen ID-Familie rausgeschmissen.
Heute kommen das Rassemblement und die Fratelli zusammen auf 26 Sitze im Parlament – von 705. Doch auch wenn die beiden Parteien diese Woche stark zulegen, würde ihr Einfluss bescheiden bleiben.
Kandidaten für das Superbündnis
Also braucht das französisch-italienische Bündnis Verstärkung. Mehrere rechtsextreme Parteien bieten sich an. Etwa die spanische «Vox», zu dessen Chef Meloni ein herzliches Verhältnis hat. Oder die österreichische FPÖ, die Schwedendemokraten, Geert Wilders Freiheitspartei, die polnische PiS. Nicht jedoch die extrem rechtsextreme französische «Reconquête» von Eric Zemmour, die Le Pen Konkurrenz macht. Und was ist mit der italienischen «Lega» von Matteo Salvini, der zwar Melonis Stellvertreter ist, aber keine Gelegenheit auslöst, ihr ans Bein zu pinkeln? Er will nicht von ihr aufgesogen werden, sondern sich rechts von ihr profilieren.
Dem «Super-Rechtsaussen-Bündnis», das Le Pen vorschwebt, könnte auch die ungarische «Fidesz» von Ministerpräsident Viktor Orbán beitreten. Vor allem Meloni ist befreundet mit Orbán, wenn sie auch aus taktischen Gründen in jüngster Zeit etwas auf Distanz zu ihm gegangen ist. Doch auch Meloni strebt eine Art «illiberale Demokratie» à la Orbán an.
Wie der Papst in Canossa
Und, so hofft natürlich die AfD, dass auch sie eines Tages wieder in den Rechtsaussenschoss aufgenommen wird. Doch das wird dauern. Alice Weidel ist und bleibt wohl noch lange ein rotes Tuch für viele. Aber vielleicht wird dann irgendwann die «exkommunizierte» Alice Weidel wieder voller Demut nach Paris pilgern und Marine Le Pen um Wiederaufnahme anflehen – so wie einst der römisch-deutsche Kaiser Heinrich IV. zu Papst Gregor VII. nach Canossa pilgerte, um Busse zu tun.
Doch selbst wenn die Rechtsaussenparteien massiv zulegten (was nicht zu erwarten ist), haben sie ein grosses Problem. Sie sind kein homogener Block.
«Heterogen» sei ein Euphemismus, heisst es in der PD-Zentrale in Rom. Das rechte Lager sei «ein Haifischbecken», ein «wilder, unberechenbarer Haufen». Auch wenn sie sich vor den Wahlen teils geschlossen geben, haben sie zum Teil grundverschiedene Ansichten. Nicht nur was Putin, die Ukraine, den Nahen Osten, Trump und den Umgang mit Homosexuellen betrifft. Italien gibt ein Beispiel davon ab: Meloni gibt sich Europa-freundlich und Putin-kritisch. Salvini ist Europa-kritisch und Russland-freundlich.
Die Alphatierchen der äusseren Rechten
Erschwerend kommt für die äussere Rechte hinzu, dass es im Europaparlament keinen Fraktionszwang gibt. Jeder kann stimmen, wie er will – und das tun viele. Vor allem die rechtsextremen Parlamentarier und -Parlamentarierinnen fallen der Fraktionsführung immer wieder in den Rücken. Das verzettelt die Stimmen, das schwächt den Auftritt der äusseren Rechten.
Und wer soll das «Super-Rechtsaussen-Bündnis» anführen? Natürlich Marine Le Pen, sagt Marine Le Pen. Und die anderen Rechtsaussen-Alphatierchen werden sich unterordnen? Auch da gibt es Streitpotential.
Von der Leyens Anbiederungen
Sicher scheint, dass die EVP (die «Fraktion der Europäischen Volkspartei», Christdemokraten) stärkste Fraktion im EU-Parlament bleibt. Sie verlor jedoch gemäss Statista im letzten Monat 1,6 Prozent. Beobachter führen dies zum Teil auf das unschöne Verhalten von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zurück. Ihre Anbiederung an die Rechtspopulisten wird in weiten Kreisen nicht goutiert. Ihr geht es, so sagen ihre Kritiker, vor allem um ihren Machterhalt als Kommissionspräsidentin. Dafür werfe sie alle ihre einst moralischen Prinzipien über Bord. Sogar in Rom wird ihre ostentative Anbiederung und Küsserei mit der italienischen Ministerpräsidentin als «einfach nur peinlich» bezeichnet.
Interessant ist, dass gemäss der Statista-Umfragen die Fraktion der Sozialdemokraten im letzten Monat wieder im Aufschwung ist. Im Vergleich zu den Wahlen vor fünf Jahren gewinnt sie 1,5 Prozent der Stimmen – dies im Widerspruch zu den Ergebnissen vieler nationaler Wahlen.
Trotz der erwarteten Zugewinne der Rechtsaussenparteien: Vieles deutet darauf hin, dass die demokratischen, pro-europäischen, pro-ukrainischen, anti-Putin-Parteien das Europäische Parlament auch nach diesen Mega-Wahlen dominieren werden.