In gut einem Monat finden in allen 27 EU-Staaten Wahlen für das Europäische Parlament statt. Erwartet wird eine deutliche Stärkung der rechtsnationalen und rechtsextremen Parteien. Was bedeutet das? Eine Auslegeordnung.
Gerade in Zeiten der russischen Aggression, des Ukraine-Krieges und der Migration ist die Zusammensetzung des EU-Parlaments von grosser Bedeutung.
Aufgrund der Ergebnisse nationaler Wahlen wird ein starker Zuwachs der EU-kritischen Rechtsaussen-Parteien erwartet. Rechtspopulistische Kreise träumen von einem rechtsnationalen «Tsunami», der die künftige EU-Politik in wichtigen Fragen wie der Migration oder des Ukraine-Krieges entscheidend beeinflussen könnte.
Plus 4,3 Prozent?
Doch so dramatisch wird es vielleicht nicht. Laut einer jüngsten Erhebung von «Europe Elects» (1. März 2024) könnten diesmal 23,3 Prozent der europäischen Bürgerinnen und Bürger eine der beiden Rechtsaussen-Parteien wählen. Sollten die Erhebungen in etwa zutreffen, wäre das im Vergleich zu 2019 ein Plus von 4,3 Prozent. Ein «Tsunami», den sich einige Rechtsextreme herbeiwünschen, ist das wohl nicht. «Europe Elects» ist eine Plattform, die Meinungsumfragen in den verschiedenen EU-Staaten zusammenfasst. Sie wird oft als Pendant zur amerikanischen Website «538» (FiveThirtyEight) bezeichnet.
Obwohl die Umfrageinstitute den Rechtspopulisten einen Zuwachs von «nur» etwa zwei Dutzend Sitzen voraussagen, könnte das Europaparlament dennoch nach den Wahlen nach rechts rücken. Vor allem auch deshalb, weil die stärkste Fraktion im Parlament, die bürgerliche, christsoziale konservative EVP nicht ausschliesst, Verbindungen zu gewissen Rechtspopulisten zu knüpfen, was bei den Sozialdemokraten, den Liberalen und den Grünen Konsternation auslöst (siehe unten).
Beschränktes Interesse
Das Europäische Parlament, das seinen Hauptsitz in Strassburg hat und zwölf Mal pro Jahr in Strassburg und sechs Mal in Brüssel tagt, hat 705 Sitze. In der Schweiz leben 2,3 Millionen Bürgerinnen und Bürger mit einem EU-Pass. Von ihnen sind 1,9 Millionen wahlberechtigt und könnten deshalb an der Wahl zum EU-Parlament teilnehmen.
Doch obwohl die Befugnisse des EU-Parlaments in den letzten Jahren erweitert worden sind, hält sich in vielen der 27 EU-Staaten das Interesse an den EU-Parlamentswahlen in Grenzen.
Das drückt sich auch in der Wahlbeteiligung aus. Bei den Europawahlen vor fünf Jahren betrug sie europaweit durchschnittlich 50,6 Prozent. Auch diesmal wird es wohl kaum besser. Der Direktor des italienischen Forschungsinstituts «Censis» rechnet damit, dass diesmal «weniger als jeder zweite italienische Jungwähler» an der Wahl teilnehmen wird. In anderen Ländern könnte sich ein ähnlicher Trend abzeichnen.
Dazu kommt, dass das Vertrauen in die EU-Institutionen in manchen Ländern tief ist. Gemäss einer am Dienstag veröffentlichten Censis-Analyse vertrauen nur 49 Prozent der Italiener und Italienerinnen dem Europaparlament.
Nationaler Stimmungstest
Trotzdem sind die Wahlen ins Europäische Parlament wichtig. Sie finden alle fünf Jahre statt und sind die weltweit einzigen supranationalen Parlamentswahlen. Sie finden in den verschiedenen EU-Ländern jetzt vom 6. bis 9. Juni statt.
Einerseits gelten sie als politischer Stimmungstest in den einzelnen Ländern. Laut Europe Elects könnte der jetzt prophezeite Vormarsch der Rechtspopulisten vor allem auf Kosten der Liberalen (Macron) und der Grünen gehen. Die Wahlen haben immer wieder auch Einfluss auf das nationale politische Geschehen gehabt. Als zum Beispiel vor fünf Jahren der italienische Rechtspopulist Matteo Salvini mit 34 Prozent der Stimmen die Europawahlen in Italien gewann, forderte er ultimativ den Posten des Regierungschefs (wurde dann aber gebremst).
In Zeiten des Krieges …
Anderseits sind die EU-Wahlen vor allem in einer Zeit, in der in Europa wieder Krieg herrscht, von Bedeutung. Denn das EU-Parlament ist es, das zum Beispiel – zusammen mit dem EU-Ministerrat und der EU-Exekutive (der Kommission, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen) – die Politik gegenüber Putin definiert.
Im Februar letzten Jahres bereiteten die EU-Abgeordneten dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj einen begeisterten Empfang.
Jeder der 27 EU-Staaten schickt – je nach Bevölkerungszahl – eine bestimmte Anzahl Abgeordnete ins Parlament. Deutschland ist mit 96 Sitzen am stärksten im EU-Parlament vertreten, gefolgt von Frankreich mit 81, Italien mit 76 Sitzen und Spanien mit 61 Sitzen.
Sieben Fraktionen
Die 705 Abgeordneten des EU-Parlaments teilen sich in sieben Fraktionen auf: Stärkste Fraktion ist die EVP, die «Fraktion der Europäischen Volkspartei». Ihr gehören unter anderen die CDU/CSU, die französischen «Républicains», die italienische «Forza Italia», die österreichische ÖVP und die spanische PP an. Die EVP ist vor allem auch die Fraktion von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Weitere Fraktionen sind die Sozialdemokraten, die Liberalen, die Grünen, die Linke und die Fraktionslosen (siehe unten).
Die beiden Rechtsaussen-Fraktionen, denen jetzt bedeutende Zugewinne prophezeit werden, gelten als «EU-kritisch», «rechtsnational», «teils rechtsextremistisch» oder «Russland-freundlich».
- EKRF, die Fraktion der «Europäischen Konservativen und Reformer»
Die EKR wird dominiert von der polnischen «PiS», die von Jarosław Kaczyński geführt wird. Ihr gehören unter anderem auch Giorgia Melonis «Fratelli d’Italia», die spanische «Vox» und die französische «Reconquête» des Rechtsextremisten Éric Zemmour an.
Es wird erwartet, dass Melonis Fratelli künftig die Führungsrolle der EKR übernehmen werden. In diesem Fall schloss Kommissionspräsidentin von der Leyen nicht aus, dass sie mit der EKR zusammenarbeiten könnte, was von Seiten der Sozialdemokraten, der Liberalen und der Grünen einen Proteststurm auslöste. Vor allem deshalb, weil sich in der EKR-Fraktion pure Rechtsextremisten wie der Franzose Éric Zemmour befinden.
Seit Monaten flirtet von der Leyen mit Meloni, wohl in der Hoffnung auf italienische Unterstützung bei der Wiederwahl von der Leyens als Kommissionspräsidentin. Auch Manfred Weber, der Chef der konservativen, christsozialen EVP streckt der EKR die Hand aus.
- «ID», die Fraktion «Identität und Demokratie»
Dabei handelt es sich um die zweite rechtspopulistische, rechtsextreme Fraktion. Ihr gehört das «Rassemblement National» von Marine Le Pen, die deutsche «AfD» von Alice Weidel und Tino Chrupulla, die italienische «Lega» von Matteo Salvini, die niederländische «Partij voor de Vrijheid» von Geert Wilders und die österreichische FPÖ von Herbert Kickl an.
Die beiden rechtsnationalen oder rechtsextremen Fraktionen verfügten bisher zusammen über 127 der 705 Sitze im Europaparlament (EKR: 68; ID: 59). Laut Europe Elects könnten beide insgesamt zwischen 20 und 25 Sitze dazugewinnen.
Vor allem dem Rassemblement National und der AfD werden erhebliche Sitzgewinne prophezeit. Zwar könnten auch die italienischen Fratelli d’Italia stark zulegen, allerdings auf Kosten von Melonis rechtspopulistischem Koalitionspartner, der Lega von Matteo Salvini, die vermutlich schwere Verluste erleiden wird. Meloni gewinnt, Salvini verliert, ein rechtspopulistisches Nullsummenspiel. Aber auch Meloni scheint den Zenith ihrer Popularität überschritten zu haben.
Wechselt Meloni die Fraktion?
Vieles ist noch offen. Meloni, deren Fratelli d’Italia bisher der EU-kritischen ERK angehörten, versucht von ihrem rechtsradikalen Image loszukommen. Sie, «die Freundin von Ursula von der Leyen», denkt laut Gerüchten in Rom darüber nach, sich im EU-Parlament der Fraktion der EVP, der Europäischen Volkspartei (CDU, Républicains, ÖVP, Forza Italia) anzuschliessen. Ob das stimmt, ist unklar. Immerhin gehört ihr Römer Koalitionspartner, Aussenminister Antonio Tajani, bereits zur EVP.
Nach dem Rauswurf von «Fidesz»
Und was geschieht mit der ungarischen «Fidesz», der Partei von Viktor Orbán? Sie war einst eine liberale, bürgerliche Formation. Ihre 12 EU-Abgeordneten gehörten früher im Europaparlament der von der CDU dominierten Fraktion der EVP, Europäischen Volkspartei, an. Unter Orbán ist Fidesz immer mehr in den «Illiberalismus» abgerutscht und wird heute als rechtspopulistisch, EU-kritisch und Putin-freundlich eingestuft. Aus diesem Grund beschloss die EVP nach langem Hin und her, Fidesz aus der Fraktion auszuschliessen. Orbán kam einem Rauswurf zuvor und trat am 18. März 2021 aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei aus.
Was taten nun die im Parlament heimatlos gewordenen ungarischen EU-Abgeordneten? Sie schlossen sich bisher provisorisch der Gruppe der «Fraktionslosen» an. Ob das allerdings so bleibt, ist unklar und eher unwahrscheinlich. Auch die italienischen «Cinque Stelle» gehören den Fraktionslosen an. Diese Gruppe ist allerdings wenig attraktiv, weil sie wenig Einfluss hat und wenig Geld erhält.
Möglich wäre, dass sich die Fidesz-Abgeordneten nach den Wahlen einer der beiden rechtsnationalen und rechtsextremen Fraktionen (EKR oder ID) anschliessen. Sowohl die EKR als auch die noch radikalere ID hoffen auf Verstärkung durch die Fidesz-Abgeordneten.
Rechtspopulistisches Bündnis?
Oder: Orbán versucht, ein geeintes rechtsnationales Bündnis im Europaparlament zu zimmern: mit der ungarischen Fidesz, dem französischen Rassemblement national, der deutschen AfD, der italienischen Lega, der spanischen Vox, der österreichischen FPÖ, der polnischen PiS. Der ungarische Ministerpräsident hat bereits inhaltliche Pflöcke eingeschlagen. Die Allianz würde Migration und LGBT-Forderungen ablehnen.
Ein solches Bündnis könnte nach Berechnung von EU-Experten zweitstärkste Fraktion im Europaparlament werden. Das würde ihren Einfluss radikal stärken: Sie erhielte mehr Redezeit, mehr Finanzmittel und zusätzliche Posten in den Ausschüssen.
«Haifischbecken der besonderen Art»
Aber: Noch ist es längst nicht so weit. Denn auf rechtsnationaler und rechtsextremer Seite herrscht keineswegs nur eitel Freude und Einigkeit. Inhaltlich und ideologisch bestehen teils tiefgreifende Differenzen. Zwar sind auch die anderen Fraktionen oft wenig homogen, doch das rechtsnationale Bündnis wäre ein «Haifischbecken der besonderen Art», erklären EU-Beobachter. Vor allem bei der Frage, wie man mit Putin umgehen soll, herrscht auf Rechtsaussen-Seite keineswegs Einigkeit. Auch bei der Migration hat man verschiedene Konzepte. Die polnische PiS und die ungarische Fidesz sind sich in vielem einig – allerdings beim Thema Russland ganz und gar nicht. Selbst die italienischen Koalitionsparteien Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni und die Lega von Matteo Salvini steuern einen grundsätzlich anderen Russland- und Ukraine-Kurs.
Ausserdem spielen persönliche Animositäten eine grosse Rolle. Marine Le Pen hat der skandalgeschüttelten AfD klar signalisiert, dass sie nichts mit ihr zu tun haben will. Auch Giorgia Meloni verachtet die AfD.
Frecher, schriller, aber nicht effektiver
Und wer würde das rechtsnationale Bündnis im EU-Parlament anführen? Lega-Chef Matteo Salvini sah sich einst als grosser Zampano aller europäischen Rechtsnationalen – zum grossen Erstaunen von Madame Le Pen und Frau Weidel. Auch die Herren Kaczyński, Orbán, Wilders und Kickl haben Salvinis Idee kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen.
Auch wenn die Rechtsaussen-Parteien im Europaparlament bei den kommenden Wahlen stark zulegen, besteht doch die Aussicht, dass die bisherige Mehrheitskoalition ihre Mehrheit behalten kann. Die gemässigte bürgerliche, christsoziale EVP arbeitet in wichtigen Fragen oft mit den Sozialdemokraten, den Liberalen und den Grünen zusammen und wird wohl weiterhin die Mehrheit behalten. Selbst dann, wenn, wie erwartet, die Grünen einbrechen werden.
Zwar würde bei einem Vormarsch der Rechtsnationalen die EU-kritische und teils Putin-freundliche Opposition schriller und frecher auftreten. Aber sie wäre nicht durchsetzungsfähiger.
Die sieben Fraktionen im EU-Parlament
EVP: Europäische Volkspartei (bürgerlich, christdemokratisch, konservativ)
Mitglieder u. a.: CDU/CSU, Les Républicains, Forza Italia, ÖVP, Partido Popular
BISHER: 177 SITZE VON 705
PROGNOSE EUROPE ELECTS: 163 SITZE
S & D: Sozialdemokraten
u. a. SPD, Parti socialiste, Partito Democratico (Italien), SPÖ, Partido Socialista Obrero (Spanien)
BISHER: 136 SITZE
PROGNOSE: 141 SITZE
Renew Europe: (liberal, demokratisch, zentristisch)
u. a. FDP, Freie Wähler, Renaissance (Macron), Italia viva, Azione (Italien), Neos (Österreich), Ciudadanos (Spanien)
BISHER:102 SITZE
PROGNOSE: 89 SITZE
Die Grünen/Europäische freie Allianz:
u. a. Bündnis 90/Die Grünen, Europe Écologie-Les Verts, Die Grünen (Österreich)
BISHER: 72 SITZE
PROGNOSE: 49 SITZE
EKR, Europäische Konservative und Reformer: (rechtspopulistisch, rechtsnational, teils rechtsextrem, EU-kritisch)
u. a. PiS (Polen), Fratelli d’Italia (Meloni), Reconquête (Éric Zemmour, Frankreich), Vox (Spanien)
BISHER: 68 SITZE
PROGNOSE: 85 SITZE
ID, Identität und Demokratie: (rechtspopulistisch, rechtsextrem, EU-kritisch)
u. a. Vlaams Belang (Belgien), AfD, Rassemblement national (Le Pen), Lega (Italien), Partij voor de Vrijheid (Geert Wilders, Niederlande), FPÖ (Kickl, Österreich)
BISHER: 59 SITZE
PROGNOSE: 64 SITZE
Die Linke: (links, kommunistisch, EU-kritisch)
u. a. Die Linke (Deutschland), La France insoumise (Jean-Luc Mélenchon), Podemos (Spanien)
BISHER: 37 SITZE
PROGNOSE: 51 SITZE
Fraktionslos:
u. a. Cinque Stelle (Italien, Giuseppe Conte), Junts per Catalunya (Spanien), Fidesz (provisorisch, Ungarn, Austritt aus der EVP im März 2021.
BISHER: 50 SITZE (inklusive Fidesz)
PROGNOSE: 62 SITZE