Diese problematisiert und erweitert den Begriffs des „Dokuments“ – denn jede Wahl des Ausschnitts, der Szene, der Abfolge, auch des Materials selbst verändert ja die Aussage eines Films, auch wenn die Aufnahmen womöglich mithilfe der Kamera rein „dokumentarisch“ gewonnen worden sind. Dazu kommt, dass die Beziehung zwischen Filmenden und Protagonisten das Dokument oftmals von vornherein mitgestaltet.
Damit ist die Grenze zwischen „Dokumentar-“ und „Spielfilm“ seit langem schon verwischt, und mit der Entwicklung der technischen Möglichkeiten des Dokumentierens und der Verarbeitung von Materialien verbreitete sich das Spielen mit Kombinationen. Das Festivalprogramm enthielt dieses Jahr etwa auch die Verbindung von Film und Comic. In „La mort est dans le champ“ (Patrick Chappatte/Marco Dellamula, Schweiz 2011) etwa werden Berichte Betroffener über die nach wie vor tödlich verminten libanesischen Felder und Äcker mit Comiczeichnungen des Schweizer Karikaturisten Chappatte kombiniert, auf welchen sich dieser auch selbst ins Bild bringt.
Es ist den VeranstalterInnen von Nyon wichtig, dem Publikum vor Augen zu führen, daß das, was es als „Realität“ auf der Leinwand sieht und hört, durch seine eigene Wahrnehmung mitgestaltet ist.
Der neue Direktor des Festivals, Luciano Barisone, berichtet einführend im diesjährigen Katalog: „Zum einen haben wir uns die undefinierbare Natur des Kinos der Realität gegenwärtig gehalten: einer Repräsentationsform, die früher als ‘dokumentarisch’ bezeichnet wurde, die in unseren Augen aber ganz einfach Kino ist, umso mehr, als sie die ursprüngliche Form der siebten Kunst darstellte, noch bevor man begann, Unterscheidungen zu treffen …. Es ist Kino der Realität, weil es die Wirklichkeit zum Thema hat …. Von der Wahrheit ist es weit entfernt“.
Unter seiner Direktion ist die Tradition der guten Qualität und der Vielfalt der gezeigten Arbeiten, an die man sich unter Jean Perrets Direktion (1995-2010) gewöhnt hat, fortgesetzt worden. In Administration und Gestaltung der Festival-Lokalitäten hat sich diesmal viel verändert. Die Aufmerksamkeit insgesamt erschien mir – aber darin könnte sich auch der eigene Blick spiegeln – etwas mehr auf die Art gerichtet, in der die Menschen mit dem, was ihnen zustößt, leben und sterben und wie sie mit ihrer Welt umgehen, als auf die Mißstände und Mißwirtschaft, denen sie ausgesetzt sind. Nur ein Bruchteil des Gesehenen und vollends des Dargebotenen kann hier erwähnt werden. Das Programm des Festivals ist auf http://www.visionsdureel.ch/festival/programme.html abrufbar.
Wandel, Bruch, Verlust und das Phantasma der Unsterblichkeit
Luciano Barisone nennt das Filmen auch einen „Kampf gegen das Verschwinden“ – gegen das Verschwinden der Erinnerung an Vergangenes, gegen Spurenverwischung, für einen lebbaren Umgang mit Vergänglichkeit und Verlust. Dabei tritt die Bedeutung von Hinterlassenem – sei es von Namen, von Fotos, Filmen, sei es von Häusern, von Asche oder Knochen – stark hervor. Es sei vielleicht besser, gesehen zu haben wie die eigene Mutter umgebracht wurde, als nicht zu wissen, wohin man eine Blume legen könne, wurde einmal gesagt. Vielleicht von einer der ‘mujeres buscadores de Caláma’, von denen „Nostalgia de la luz“ (Patricio Guzman, Frankreich/Deutschland/Chile 2010) erzählt. Diese Frauen suchen in der chilenischen Atacamawüste noch immer nach Überresten ihrer unter Pinochet ‘Verschwundenen’. Sie finden dort aber bestenfalls einzelne Knochen und Knochenstückchen – die dort Verscharrten waren vom Regime beizeiten an unbekannten Ort weggeschafft worden. Die Astronomen des in der Nähe gelegenen Observatoriums versuchen, die mujeres de Caláma zu trösten: sie weisen auf die Größe und Schönheit des Universums hin und lassen die Frauen durch ihre Fernrohre schauen. Auch die Vergänglichkeit betrachten diese Gelehrten anders: alles, was wir erlebten, sei eigentlich schon vergangen, sagt einer, die Sonne, die wir jetzt sähen, sei die Sonne, wie sie vor 8,3 Minuten geschienen habe, die Sterne so, wie sie vor Jahren ausgesehen hätten. „Barzakh“ von Mantas Kvedaravicius (Finnland/Litauen 2011), einer der besonders ergreifenden Filme des Festivals, erzählt von einer tschetschenischen Familie, deren halbwüchsiger Sohn (aus angeblich politischen Gründen) entführt worden ist; man weiß nicht, wohin, noch, ob er ermordet worden sei oder lebe. Die Situatiion laste auf dem Leben ihrer Familie wie ein schwarzer Stein, sagt die Mutter, die sonst stumm oder im Gebet erscheint. ‘Barzakh’ bezeichnet in der Tradition des Sufismus einen Zustand, in welchem man weder tot noch lebendig ist.
Glücklicher mutet die Beziehung mancher NeapolitanerInnen zu ihren Toten an. Sie suchen sie auf im Beinhaus des alten Friedhofs ‘delle Fontanelle’, bringen ihnen Blumen, geben ihnen Namen, bitten sie um Schutz und Hilfe und sind überzeugt, dass sie helfen. Und offensichtlich helfen sie auch, Giovanni Cioni („In Purgatorio“, Italien 2009) hat viele Geschichten darüber gesammelt. Dieser in Frankreich geborene und in Brüssel aufgewachsene bemerkenswerte Filmer wird charakterisiert als einer, der im Sichtbaren das Unsichtbare wahrnehme. Ihm war im Rahmen des Festivals eine „séance spéciale“ gewidmet, im Rahmen derer er über die Besonderheit seines Arbeitens genauere Auskunft geben konnte.
Ein kleines cineastisches Schmuckstück zum Thema der Vergänglichkeit ist auch “Die Frau des Fotografen“ (Philip Widmann/Karsten Krause, 2011). Der deutsche Hobbyfotograf Eugen Gerbert hat im Lauf seines Lebens 1241 Filme belichtet und darüber peinlich genau Buch geführt. Thema sind die Ferienreisen mit seiner Frau Gerti und Gerti alleine– oftmals unbekleidet. Aber nichts hat sich wirklich festhalten lassen, Eugen G. ist gestorben, die alt gewordene Gerti schaut die Fotos, die er von ihr gemacht hat, in Anwesenheit der Filmer durch – manche zerreißt sie vor deren Augen, peinlich berührt, das könne man nicht zeigen. Seitens der Filmer ist weder Voyeurismus noch Herablassung zu spüren, sie geben den Eindruck einer freundlichen Präsenz bei dem heiklen Bericht dieser Frau über sich und ihre Ehe. Vielleicht, überlegt die Frau des Fotografen, hätte sie auch ihrerseits dem Gatten öfter sagen sollen, daß sie ihn liebe? Ja, und was solle sie jetzt mit diesem Nachlaß tun? Wegwerfen?
Eine Form des „Kampfs gegen das Verschwinden“ ist das Streben nach Kontrolle, Kontrolle über Tod und Leben, letztlich über die Zeit. Auch dazu waren in Nyon Filme zu sehen. „Resurrect Dead: The Mystery of the Toynbee Tiles“ (Jon Foy, USA 2011) ist das Protokoll der Suche nach dem Urheber merkwürdiger Platten, die man seit den 1980er Jahren in den Strassenbelag vieler vor allem nordamerikanischer Städte eingelassen findet. Sie deuten, mit Verweis auf den Historiker Toynbee und Stanley Kubricks „2001: A Space Odyssey“ (1968) auf die Möglichkeit hin, Tote zu neuem Leben zu erwecken. Während „Devil’s Gate“ (Laura Kraning, USA 2011) von einem Ort in der Nähe von Los Angeles berichtet, welcher als eines der sieben Tore zur Hölle – und damit wiederum zu übermenschlicher Macht – betrachtet wird. Dort hat der Schwarzmagier Jack Parsons (1914-1952) ab 1930 seine occulten Experimente durchgeführt. Im zivilen Leben war Parsons Chemiker, Mitarbeiter am California Institute of Technology (CalTec) und Mitbegründer des Pasadena Jet Propulsion Laboratory. Denn auch Naturwissenschaft und Technik – die ja historisch tief in den alten magischen Künsten wurzeln – können der Kontrolle über Tod und Leben dienen. „Abendland“ von Nikolaus Geyrhalter (Österreich 2011) betrachtet nichts als das: wie im Westen, wo die Sonne untergeht, alles klappt: die Überwachung der Grenzen, die Neonatologie, die polizeilichen Operationen, das Münchener Oktoberfest, der Castor-Transport, die Alterspflege. Alles im Griff – aber es ist offensichtlich: das wird nicht ‘das Ende der Geschichte’ sein.
Reflexion der Filmgeschichte und des eigenen Blicks
Der Film beugt sich zunehmend auch über die eigene Geschichte und Vergänglichkeit – mit der Ver-Ewigung durch Film und Foto ist es ebenfalls vorbei. Selbst die Unsterblichkeit der „Stars“ des letzten Jahrhunderts ist zu Historizität verblichen. Viele in Nyon gezeigten Filme arbeiteten mit altem Filmmaterial.
Die junge brasilianische Filmerin Marīlia Rocha, welcher, wie Giovanni Cioni, eine „séance spéciale“ gewidmet war, zeigte unter anderem „Acácio“ (Brasilien 2008). Acácio und Conceição Videira haben während 30 Jahren im kolonialen Angola gelebt, Acácio hat in der Zeit sowohl Home Movies als auch Filme für das ethnografische Museum einer Diamantenabbaufirma angefertigt (namentlich über die Tucokwe). Das Paar bezeichnet sich gegenüber der Filmerin als der eingeborenen Bevölkerung sehr verbunden, erinnert sich mit Wehmut an sie und das angenehme Leben im damaligen Luanda, und mit Bitterkeit bedauern beide die späteren Unruhen. Marīlia Rocha zeigt Ausschnitte aus Acácios Filmen und fügt ihre eigenen Bilder von dem alt gewordenen weißen Paar und den Spuren des kolonialen Lebens in Angola bei, sodass nicht nur Stücke von Welt- Film- und Familiengeschichte der Videiras sichtbar werden, sondern auch etwas von unserem heute veränderten Blick.
„Intervista“ wurde in der Sektion zum Thema „Spuren filmen“ gezeigt. Es ist das Interview des Filmers Anri Sala (Albanien 1998) mit seiner klugen und liebenswürdigen Mutter Valdet in Tirana. Von dieser existieren alte Filmaufnahmen, die sie als feurige Rednerin an einem Jugendkongreß der kommunistischen Partei von Albanien zeigen – jedoch ohne Tonspur. Für sie ist das vergessen und vorbei, aber der Sohn möchte den Inhalt ihrer Rede kennen. Lippenlesende Experten aus einer Taubstummenschule können ihm diesen schliesslich zugänglich machen.
In „Asylum“ hat Catherine Bernstein (Frankreich 2008) Filme des französischen Psychiatrie-Reformers Georges Daumezon aus den 1950-70er Jahren recycliert.
Françoise Poulin-Jacob stellt ihre Kindheitserinnerungen an wunderbare Familienausflüge nach Le Havre den Bildern von der Zerstörung der ehemals stolzen Hafenstadt gegenüber („Je vous écris du Havre, Frankreich 2011). Die moderne, aus Beton und rechten Winkeln konstruierte Idealstadt hat sie als Kind begeistert und beglückt. Das Kind wußte nichts von den Bombardierungen während des Zweiten Weltkriegs (vor allem derjenigen vom September 1944 durch die Aliierten – zwecks Befreiung), die eine total zerstörte Stadt und 5000 Tote hinterlassen haben, und nichts davon, daß die Stadt ihrer Träume über diesen Trümmern und den Knochen der Verschütteten gebaut worden ist.
Wie immer hat das Festival auch Gäste eingeladen, nicht nur in speziellen „séances“, sondern in so genannten „Ateliers“ vertiefte Auskunft über ihr Arbeiten zu geben. Diese Gäste waren dieses Jahr José Luis Guerín und Jay Rosenblatt. Beide arbeiten auf ihre Weise mit Geschichte und vorgefundenem Material.
Jay Rosenblatt hat sich nach einer fast abgeschlossenen Psychotherapie-Ausbildung dem Film zugewandt – wobei ihm das therapeutische Element wichtig geblieben sei, er spricht von „healing movies“. Er ist vor allem bekannt für seine neuen Montagen alten, zum Teil zufällig im Müll gefundenen Filmmaterials („found footage“). Anhand seiner Neukontextualisierungen einzelner Aufnahmen zeigt er, wie dasselbe Bild, in verschiedene Zusammenhänge eingefügt oder mit verschiedenem Ton unterlegt, sehr verschieden rezipiert wird, er macht etwa darauf aufmerksam, daß dasselbe Gesicht je nachdem besorgt oder alarmiert wirken kann oder daß das Publikum nach Szenen, die von langsamer Musik begleitet sind, langsamer klatscht.
José Luis Guerín interessiert sich für die Geschichte des Films. „Das Erbe, das ich erhalten habe und am meisten liebe, ist das des klassischen Films, Dreyer, Chaplin, Ozu…“. Er sucht den Ort in Irland auf, an dem John Ford 1952 seinen „Quiet Man“ gedreht hat („Innisfree“, Spanien 1990). Oder er beginnt einen filmischen Briefwechsel mit Jonas Mekas, dem cineastischen Avantgardisten des „New American Cinema“ („Correspondencia Jonas Mekas – J. L. Guerín“, Spanien 2011), der, bald 90-jährig, seine alte footage durchschaut. Auf spezielle Weise hat Guerín in „Tren de sombras“ (Spanien 1997) mit dem Stil von Amateurfilmen aus vergangener Zeit gearbeitet – er hat diese nämlich nach eigenen Phantasien neu gedreht und so verarbeitet, daß sie wie alte Familienfilme wirken. Damit bringt er nochmals einen neuen Dreh in die Hinwendung des cineastischen Blicks auf die eigene Vergangenheit.
Das „cinéma du réel“ sei von der Wahrheit weit entfernt, bemerkt Luciano Barisone im Editorial zum diesjährigen Katalog. Über die Wandelbarkeit unserer Art der Wahrnehmung schreibt der Quantenphysiker Arthur Zajonc in „Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewußtsein“ (Hamburg 1994; Original: „The Entwined History of Light and Mind“, 1993). „Unsere Denkgewohnheiten werden zu Wahrnehmungen, die zwar einflußreich und weitverbreitet sind, aber nicht universell oder ‘wahr’. Wir müssen lernen, Verantwortung für sie zu übernehmen.“