Über dem Zugang zum Kunstmuseum Luzern hängt eine riesengrosse Affiche. Die Fotografie zeigt zwei transparente Kugeln. Sie werden von je einer Frauengestalt in Embryostellung ausgefüllt. Die Kugeln rollen über einen von hellen Linien durchzogenen Grund, zweifellos eine Leichtathletik-Bahn.
Das Foto ist Signal für die Retrospektive, die das Museum der 1929 geborenen Marion Baruch widmet – die erste Retrospektive der Künstlerin, die ihre Werke schon seit vielen Jahrzehnten in Gruppenausstellungen und in Galeriepräsentationen zeigt. Ihre Biographie ist spannend und ein Spiegel des an extremen Verwerfungen reichen 20. Jahrhunderts: Geboren in Rumänien, Aufenthalt in Bukarest, in Israel, in Rom, in Paris. Seit vielen Jahren lebt sie in Gallerate nordwestlich von Mailand. Dem Kultur-Gemisch ihres Lebenslaufs gemäss ist sie in vielen Sprachen zu Hause und spricht Ungarisch, Rumänisch, Deutsch, Französisch, Hebräisch, Italienisch.
Auf eigenem Kurs
Die aus Plexiglas gefertigten Kugeln auf dem Foto sind ein Projekt, das Marion Baruch Ende der 1960er Jahre zusammen mit dem italienischen Designer A. G. Fronzoni realisierte. Der Titel: „Contenitore-Ambiente“ (Umgebungsbehälter). Was damit anfangen? Lässt man seinen Vorstellungen freien Lauf, so denkt man an Bewegung und Dynamik, an Unstabiles und Transparentes. Wir denken an die Menschen in den Kugelräumen: Sind sie ausgeliefert? Unter Zwang? Haben sie ihr Dasein im Griff? Das sind Gedanken, die mit den Spielarten des Lebens zu tun haben – und auch damit, dass dieses Leben eigene Wege gehen und sein Tempo wählen kann – oder auch nicht: Wir wissen nicht, wohin die Kugeln wie schnell rollen, wann und wo sie die Richtung wechseln, ob sie mit einem Hindernis kollidieren, ob sie in selbstbestimmter Freiheit ausschweifen.
Vielleicht ist Marion Baruchs „Contenitore-Ambiente“, das in der Ausstellung selber nur über ein Dokument mit Foto und Zeichnung präsent ist, eine Metapher für das Dasein der Künstlerin selber, die nicht nach Gesetzmässigkeiten der konventionellen Kunstentwicklungen, nicht nach Strömungen, nicht nach Mainstream und Zeitgeist zu fragen scheint: Sie sucht ihren eigenen Kurs – und sei es ein Zickzack-Kurs.
Ein Zickzack-Kurs ist es allerdings nicht, was Marion Baruch mit der Kuratorin Fanni Fetzer und mit Noah Stolz in den Luzerner Museumsräumen einrichtete, denn es gibt, auch wenn die Künstlerin nicht auf Gradlinigkeit aus ist, thematische Schwerpunkte, die die Künstlerin nicht dogmatisch miteinander verbindet, sondern in freiem Spiel in der Balance hält.
Begrenzung und Offenheit
Eine Konstante ist: Marion Baruch setzt sich in ihren Arbeiten mit Raum auseinander – mit dem Menschen und seiner Bewegung im Raum, der Begrenzung und zugleich Offenheit signalisiert. Das gilt nicht nur von „Contenitore-Ambiente“, sondern auch von jenen Metallrahmen-Skulpturen, die in den 1960er Jahren entstanden sind. Auch sie sind nicht real in der Ausstellung, wohl aber als fotografische Belege ihrer Installation in einem Park in Oberitalien.
Doch das Thema ist real gegenwärtig in den zahlreichen Stoff-Arbeiten, die die Künstlerin in den Museumsräumen auf ganz unterschiedliche Weise präsentiert – als die ganze Weite des grössten Saales überspannende schwarze und rote Girlanden hier, als teils filigrane „Wandzeichnungen“, die in den letzten paar Jahren entstanden sind, dort. Sie wirken poetisch leicht, spontan und fast immateriell. Lesen lassen sie sich auf verschiedene Weise, je nach der Art, wie man sich als Betrachter oder Betrachterin einbringen und wie man seine eigene Phantasie in Gang setzen will. Man denkt vielleicht an Tiere, an Lebewesen, an Rahmen, die zu füllen sind, an Zeichnungen von Räumen, auch an Abstraktion und Reduktion.
Raum und Körper
Marion Baruch arbeitet mit Textilwerkstätten zusammen – oder besser gesagt: Die Stoffe, die sie verwendet, stammen aus bekannten Modeateliers der Lombardei. Es sind Stoffresten, die zurückbleiben, wenn die für die Kleidungsstücke benötigten Teile aus dem Design-Stoff herausgeschnitten wurden. Marion Baruch arbeitet mit den übrig gebliebenen schmalen Stoffstreifen, in die sie nirgendwo mit der Schere eingreift. Sie arbeitet mit den Rändern, also mit scheinbar Wertlosem. Das lässt uns nach dem Wert dieses Wertlosen fragen, mag uns aber auch an den Menschen denken lassen, der den unserer Wahrnehmung entzogenen Stoff als Kleidungsstück trägt. Das filigrane Kunstobjekt an der Museumswand lenkt unsere Aufmerksamkeit weit über die Grenzen der Institution Kunst hinaus in gesellschaftlich-soziale Bereiche.
Damit rückt wiederum die Beziehung vom menschlichen Körper zum Raum in den Blickpunkt – ähnlich wie in „Contenitore-Ambiente“. Als wolle die Künstlerin den Faden weiterspinnen und ihm zugleich eine andere Richtung geben, zeigt sie in der Luzerner Ausstellung Fotodokumente ihrer um 1970 entstandenen und wiederum gemeinsam mit A. G. Fronzoni entwickelten Arbeiten „Abito – Contenitore“ (Kleidungsbehälter). Die Kleider aus grossen und dunklen schweren Stoffen werden zu Behältern. Sie nehmen den Körper der Künstlerin auf und präsentieren ihn so, dass die Verhüllung dem Volumen und der Kontur des Körpers eine starke Präsenz verleiht.
In „Une chambre vide“ (2009) räumte Marion Baruch ein Zimmer ihrer Wohnung in Paris völlig leer. Sie verteilte in der Nachbarschaft Flyer mit der Einladung, sie in diesem leeren Zimmer zu besuchen – nicht etwa um zu meditieren, sondern um gemeinsam über aktuelle gesellschaftliche Probleme nachzudenken und zu diskutieren – also um den zur Verfügung gestellten Raum mit eigenen Gedanken zu füllen. Fotos aus Paris zeigen, wie die Künstlerin zusammen mit Nachbarn auf dem Boden dieses Zimmers sitzt. In Luzern weckt ein bis auf ein weisses Podium leerer Raum die Erinnerung an jene Aktion: Hier sollen Besuchergespräche über die Thematik von Marion Baruchs Werk stattfinden.
„Name Diffusion“
Mit einem grossen, sich über mehrere Jahre hinziehenden Konzept misst Marion Baruch in kritischem Sinne gesellschaftspolitische Räume aus und zielt an die Grenze zwischen Kunst und Kommerz: „Name Diffusion“ lautet der Name ihrer im Handelsregister eingetragenen Firma, der ein ganzer Museumsraum gewidmet ist. Ein merkwürdiger Titel, der auf den ebenso merkwürdigen oder gar absurden Umstand abzielt, dass sich in der Welt des Kommerzes sowohl Kunstwerke als auch Konsumgüter erst mit Namen oder Label als Markenzeichen etablieren und nur so einen materiellen Wert verkörpern können. Teile des Projektes wurden bereits 1992 unter dem Titel „Business Art / Art Business“ im Museum Groningen (Niederlande) realisiert. Sie sind jetzt in die Luzerner Ausstellung einbezogen. Die Künstlerin verbirgt sich hinter diesem Label. Es ist, als verwandle sie den Museumsraum in einen (fiktiven) Shop für Stoffe und Kleider – zum Beispiel für orangefarbene Hemden in allen gängigen Grössen, bedruckt mit dem Firmennamen. Der Raum ist ein Ort des ironischen Spielens der Künstlerin mit sich selbst, aber auch mit den ebenso verschiedenen wie ähnlichen wirtschaftlichen Systemen hüben und drüben.
„innenausseninnen“
Die 1929 geborene Marion Baruch erlebte als Künstlerin weite Teile des 20. und ebenso den Anfang des 21. Jahrhunderts – und damit nicht nur die tiefen politischen und gesellschaftlichen Brüche dieser Zeit, sondern auch die verschiedenen Paradigmenwechsel der Kunst. Ihr ruhiges und konzentriertes und gleichzeitig in hohem Masse waches Werk scheint nirgendwo ganz dazuzugehören. Trotzdem hat es Anteil an verschiedenen Strömungen, an denen sich die Künstlerin – auch in anderen, hier nicht erwähnten Werken – aktiv und eigenständig an der Front beteiligte. Wir können an Arte Povera, an Minimal Art, an Konzeptkunst, an Soziale Plastik, auch an Verknüpfungen von Elementen der bildenden Kunst mit Sprache und Literatur denken – eben an den keinen Gesetzmässigkeiten gehorchende Lauf der eingangs erwähnten Plexiglas-Kugel „Contenitore-Ambiente“. Sie mag vielleicht nicht nur als Metapher für Marion Baruchs eigenes Schaffen, sondern auch als Metapher für Freiheit und Eigenständigkeit der Kunst überhaupt gelten.
Der von der Künstlerin selber gesetzte Titel der Ausstellung mag irritieren: „innenausseninnen“. Das Wort ist eine freie Erfindung von Marion Baruch. Es lenkt die Aufmerksamkeit der Besucher auf eine Grundthematik, auf die alle diese Werke verweisen und die mit den drei Begriffen Raum, Begrenzung und Freiheit umschrieben werden kann.
Kunstmuseum Luzern. Bis 11. Oktober