Am vergangenen Freitag wurde das Heiligtum von Sayida Zainab, südlich der Stadt Damaskus, mit einer Rakete beschossen. Die Rakete zerstörte ein Haus unmittelbar neben dem Heiligtum. Der Widerhall des Ereignisses erstreckte sich bis nach Pakistan.
Wenn das Heiligtum getroffen worden wäre, hätte dies zu noch sehr viel schärferen Zornausbrüchen in der ganzen schiitischen Welt geführt. Am 22. Februar 2006 wurde ein ähnliches Heiligtum, die Askari Moschee von Samarra im Irak, durch eine Bombe weitgehend zerstört. Die Kuppel brach ein. Später kam es noch zweimal zu weiteren Angriffen. Dies führte zum endgültigen Ausbruch der tödlichen Kämpfe zwischen Schiiten und Sunniten im Irak, damals unter amerikanischer Besetzung, die man als einen inneren Bürgerkrieg im besetzten Irak beschreiben konnte. Sie dauerten in ihrer blutigsten Form zwei Jahre lang. Bagdad wurde damals eines grossen Teils seiner Sunniten entleert und ist seither eine Stadt mit schiitischer Mehrheit. Die Auseinandersetzungen der damaligen Jahre haben bis heute nicht völlig aufgehört. Sie werden noch immer mit gegenseitigen Bombenanschlägen weitergeführt, und sie sind in den letzten Monaten im Irak erneut so blutig geworden, dass sie neue Rekorde an Opfern erfordern, wie es sie seit den beiden blutigsten Jahren 2006 und 2007 nicht mehr gegeben hatte.
Die damaligen Auseinandersetzungen zwischen den beiden irakischen Religionsgemeinschaften bildeten den Auslöser des heutigen Ringens zwischen arabischen Sunniten und Schiiten um Vorherrschaft im arabischen Raum, weil sie das althergebrachte labile Gleichgewicht zwischen den Religionsgemeinschaften im Irak entscheidend veränderten und dadurch die heute umgehende Furcht aller anderen Sunniten auslösten, ebenfalls unter schiitische Vorherrschaft zu gelangen.
Diesmal ist der schiitische Schrein bei Damaskus glimpflich davon gekommen. Doch niemand weiss, ob er nicht neuen Anschlägen ausgesetzt werden wird.
Tochter Alis und Schwester Hussains
Sayida Zaynab war eine Enkelin des Propheten. Ihr Vater war Ali, einer der ersten zum Islam Bekehrten, Vetter Muhammeds und der Vierte der sogenannten «Rechtgeleiteten Kalifen», die das junge muslimische Reich aus Mekka regierten. Für die Schiiten ist Ali der einzig legitime Nachfolger des Propheten und der Erste Imam, das heisst göttlich inspirierte rechtmässige Leiter der Gemeinschaft der Gläubigen. Der Zweite Imam der Schiiten ist Hussain, Sohn Alis und Bruder der Sayida Zaynab. Hussain erlag den Kräften des Bösen, die in den Augen der Schiiten im sunnitischen Kalifen Yazid verkörpert waren, dem zweiten der Omayyadendynastie, die in Damaskus regierte. Er liess Hussain in der Schlacht von Kerbela im Irak vom 31. Mai 680 umbringen. Seine Schwester Zaynab war dabei, überlebte und wurde nach Damaskus gebracht. Dort starb sie, nachdem sie, wie die Legende ausführt, dem Tyrannen Yazid unerschrocken entgegengetreten war.
Das Heiligtum ist über ihrem Grab errichtet. Es wurde ausgebaut und ausgeschmückt im iranischen Baustil, als Khomeiny in Teheran an die Macht kam und seine politische Allianz mit Hafez al-Asad, dem Vater des heutigen Baschar al-Asad begann.
Eine politische Allianz
Die Allianz war im Zeichen der gemeinsamen Feindschaft Asads und Khomeinys gegen Saddam Hussein von Irak entstanden. Das Grab der Zaynab wurde zum Ziel grosser Zahlen von iranischen Pilgern. Dabei spielte der Umstand eine Rolle, dass andere schiitische Pilgerstätten, deren wichtigste im Irak liegen – Najaf und Kerbela gehören dazu – den Iranern damals verschlossen waren, weil acht Jahre lang (1980-88) Krieg zwischen Iran und Irak tobte.
Von Gewicht war aber auch, dass damals Syrien gegenüber Iran grosse Schulden hatte. Die Erdölleitung aus dem Irak war im Zeichen des damaligen Krieges gesperrt, und die Syrer bezogen ihr Erdöl via Tanker aus Iran. Ein Teil dieser Schulden wurde abgetragen, indem der syrische Staat die Kosten der iranischen Pilger in Syrien trug. Nach dem Krieg und bis heute haben die Pilgerfahrten der iranischen Schiiten zu Sayida Zaynab angehalten, und eine ganze Stadt, die stark an persische Heiligtümer erinnert, ist um den Schrein herum entstanden. Sie bildet so etwas wie eine iranische Satellitenstadt vor Damaskus.
Die Pilgerfahrten dorthin und zu anderen schiitischen Heiligtümern in Syrien dauern trotz des dortigen Krieges an. Stets sind Iraner die Mehrzahl der Besucher, doch solche kommen auch von weiter her, wo immer Schiiten leben.
Schiiten in Pakistan unter Druck
In Pakistan sind die Schiiten eine Minderheit von vielleicht 15 Prozent der Bevölkerung, das heisst rund 15 Millionen oder etwas weniger. Sie stehen unter starkem Druck durch die sunnitischen Fanatikergruppen. Unter ihnen gibt es eine, illegal und unterirdisch wahrscheinlich mit den pakistanischen Geheimdiensten verbunden, «Lashkar-e-Jhangvi», die sich die blutige Verfolgung von Schiiten als Hauptziel gesetzt hat. Ihre Terroristen legen immer wieder Bomben in schiitischen Moscheen oder bei schiitischen Festlichkeiten. In Beluchistan unterhalten sie Trainingslager für ihre Attentäter. Der Versuch, das Heiligtum in Damaskus zu zerstören, hat in Pakistan Demonstrationen von Schiiten ausgelöst.
Innerschiitisches Ringen im Irak
Im Irak gibt es schiitische Geistliche, die heute die iranische Version des Schiismus predigen und auszubreiten versuchen. Sie ist definiert durch die Lehre von «Herrschenden Gottesgelehrten», man kann auch übersetzen, die Lehre vom «Herrschenden Rechtsgelehrten nach der Scharia», die Khomeiny formuliert hat und die seit ihm in Iran die staatliche Version des Schiismus bildet. Doch die Mehrheit der irakischen schiitischen Geistlichen und Rechtsgelehrten nimmt diese Lehre nicht an. Der führende Ayatollah im Irak, al-Sistani, dessen Ansichten die meisten irakischen Schiiten folgen, lehnt sie ab.
Das hat Konsequenzen für den Krieg in Syrien. Die iranischen und pro-iranischen Prediger sind der Ansicht, dass eine religiöse Pflicht der Schiiten bestehe, die syrische Regierung zu unterstützen, wenn möglich durch Teilnahme am «Heiligen Krieg». Doch Sistani und seine Anhänger sehen das anders. Für sie besteht keine derartige Pflicht, weil es sich beim syrischen Bürgerkrieg um eine politische Auseinandersetzung handle, nicht um eine religiöser Natur.
In der Tat hat der syrische Krieg mit einer politischen Auseinandersetzung begonnen. Die Demonstranten, die ihn ursprünglich herbeiführten, wollten Freiheit der Meinungsbildung und des politischen Regimes. Sie sorgten sogar dafür, dass Mitglieder aller Religionsgemeinschaften gemeinsam mit ihnen demonstrierten.
Die Rolle der religiösen Solidarität
Doch die syrische Gesellschaft ist in viele unterschiedliche Religionsgemeinschaften aufgespalten. Ihre Mitglieder heiraten in erster Linie untereinander und bilden daher auch so etwas wie einen sehr ausgedehnten Familienclan mit gemeinsamen Interessen.
Eine dieser Gemeinschaften, die alawitische, die ungefähr 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, ist jene, zu der die Asads gehören, Vater und Sohn. Schon die Politik Hafez al-Asads beruhte darauf, dass er sich in erster Linie auf Mitglieder seiner Gemeinschaft verliess. Er setzte seine alawitischen Anhänger in alle Scharnierpositionen ein, von denen die militärische und die zivile Sicherheit des Regimes überwacht werden konnte. Vor Asad waren die Alawiten eine sozial zurückgesetzte, diskriminierend behandelte Minderheitsgemeinschaft gewesen, die oftmals aus armen Bergbauern bestand.
Die Alawiten Syriens sind historisch gesehen der Nebenzweig eines Nebenzweiges der in Iran heute majoritären Zwölfer Schiiten. Die Zwölfer, welche die grosse Mehrheit der heutigen Schiiten bilden, anerkennen zwölf Imame, alle direkte Nachfahren des Ersten, Alis, und alle heilige Persönlichkeiten. Der Zwölfte Imam ist als Kind verschwunden und in die Okkultation eingegangen, ohne zu sterben. Er wird nach dem Glauben der Zwölfer Schiiten am Ende der Zeiten zurückkehren und eine Herrschaft des Guten errichten.
Die Alawiten sind abgezweigt von den Siebner Schiiten, die nur sieben Imame anerkennen und die ihrerseits zahlreiche Varianten ihrer Religionsrichtung hervorgebracht haben. In Religionspraxis und in ihren theologischen Vorstellungen sind die Alawiten so weit vom Schiismus entfernt, dass sie nur sehr am Rande als ein Teil der weiten Welt des Islams aufgefasst werden können.
Hiizbullah entsteht
Wie oben gesagt, geht das ursprüngliche Bündnis der Asad-Familie mit dem Iran Khomeinys auf eine politische Grundlage zurück: die gemeinsame Feindschaft gegenüber dem Irak Saddam Husseins. Doch das enge politische Bündnis, das bis heute andauert, hat unter anderem dazu geführt, dass die Iraner in Syrien die heiligen Stätten des Zwölfer Schiismus – prominent darunter des Heiligtum der Sayida Zaynab – ausbauen und als Pilgerzentrum betreiben durften. Das Bündnis hatte auch eine zweite Folge: den Aufbau und Ausbau der Hizbullah-Partei und -Kampfgruppe im benachbarten Libanon.
In den Bergen Südlibanons, einem typischen Rückzugsgebiet, lebte seit alten Zeiten eine Gemeinschaft von Zwölfer Schiiten. Sie ist sogar älter als das persische Schiitentum Irans, das dort erst ab 1500 zur Macht gelangte. Die Wohngebiete dieser libanesischen Zwölfer Schiiten im Süden des Landes wurden zuerst 1978, später und noch weiter ausdehnt 1982, durch Israel besetzt und blieben besetzt bis zum Jahr 2000.
Khomeiny sandte zur Zeit der israelischen Invasion von 1982 seine iranischen Revolutionswächter aus, um die libanesischen Schiiten gegen ihren israelischen Feind zu organisieren und zu mobilisieren. Hizbullah, die Partei Gottes, nahm so ihren Anfang in den nicht unter israelischer Kontrolle stehenden Gebieten der libanesischen Zwölfer Schiiten. Die wichtigsten lagen in der Bekaa-Ebene in der Region von Baalbek. Hizbullah trug 18 Jahre lang die Hauptlast des libanesischen Widerstandes gegen die israelische Besatzungsmacht und entwickelte so das Können und den Zusammenhalt einer erfolgreichen Guerilla-Gemeinschaft. Als 2006 Israel sie noch einmal anzugreifen versuchte, war sie als erste und bisher einzige aller arabischen Kampfgemeinschaften in der Lage, einen Angriff der israelischen Armee zurückzuweisen, ohne selbst zusammenzubrechen.
Syriens politischer Vorteil
Bewaffnung und Unterstützung der Hizbullah-Guerilla kam aus Iran und wurde über Syrien geleitet. Syrien hatte dabei den Vorteil, dass es in der Lage war, seine eigene Waffenstillstandslinie gegenüber Israel ruhig zu halten, aber dennoch dafür zu sorgen, dass die arabischen Anliegen gegenüber Israel, für Syrien primär die angestrebte Rückgabe der ebenfalls von Israel besetzten Golan-Gebiete, nicht einfach in Vergessenheit gerieten.
Über dreissig Jahre hinweg hat sich diese Gesamtlage auszementiert. Hizbullah begann auch eine wichtige Rolle in der libanesischen Politik zu spielen. Seine Kämpfer haben erwiesen, dass sie der libanesischen Armee mehr als gewachsen sind. Als Folge dieses Umstandes konnte Hizbullah in der libanesischen Politik die Rolle der mächtigsten aller libanesischen Religionsgemeinschaften übernehmen.
Saudiarabien gegen die schiitische Achse
Der gegenwärtige Bürgerkrieg in Syrien ist teilweise ein Stellvertreterkrieg, den die Saudis und andere sunnitische Mächte gegen Iran und dessen Ansprüche führen. Teheran beansprucht, eine gewichtigere Rolle als bisher im Persischen Golf (den die Araber lieber den Arabischen Golf nennen) zu spielen und auch in anderen sunnitischen Gebieten als die Schutzmacht der schiitischen Minderheiten aufzutreten. Dass dabei auch die vermutete und von der arabischen Seite gefürchtete atomare Aufrüstung Irans eine wichtige Rolle spielt, ist selbstverständlich.
Der Aufstand der sunnitischen Jugend gegen die Gewaltherrschaft Asads und seiner alawitischen Sicherheitswächter und Schergen wurde von Saudiarabien als Gelegenheit wahrgenommen, die Achse zu brechen, die sich seit über dreissig Jahren von Teheran über Syrien bis in den libanesischen Süden erstreckt. Das war wohl der Hauptgrund dafür, dass Saudiarabien den ursprünglich gewaltlosen Aufstand der syrischen Revolutionäre und Rebellen unterstützte. Auch Qatar schaltete sich ein. Den Qatari ging es mehr als den Saudis auch um den Versuch, die Gewaltherrschaft Asads zu Ende zu bringen.
Die religionsgemeinschaftliche Basis des Asad Regimes wirkte sich aus. Sunnitische Soldaten, die Befehl erhielten, auf ihre demonstrierenden Mitsunniten zu schiessen, desertierten von der Armee, wenn sie dazu Gelegenheit fanden. Sie liefen mit ihren Waffen über zu den Demonstranten. Sie verteidigten sich und ihre Mit-Sunniten wenn nötig gewaltsam, und sie verwandelten so den gewaltlosen Aufstandsversuch in einen bewaffneten Kampf.
Krieg der Religionsgemeinschaften
Dies ist nie ein Religionskrieg gewesen, wurde jedoch zunehmend ein Krieg zwischen Religionsgemeinschaften, gefördert durch den Umstand, dass das Regime sich überwiegend auf Mitglieder seiner eigenen Religionsgemeinschaft, der alawitischen, stütze. Iran und Russland, weniger energisch auch China, traten an die Seite des Asad-Regimes, keineswegs aus «religiösen» Gründen, sondern durchaus, um ihren politischen Interessen nachzukommen. Amerikaner und Europäer waren geneigt, eher den Aufständischen Sympathie zu zeigen und Hilfe zukommen zu lassen als dem Regime, das sie – gewiss zu recht – als ein Gewaltregime ansahen, das gegen sein eigenes Volk brutal vorgeht. Andere weniger idealistische Interessen gab es auch auf der westlichen Seite. So war den Amerikanern und anderen Freunden Israels daran gelegen, die Verbindung zwischen Iran und Hizbullah durch die Schaffung eines neuen Regimes in Syrien zu brechen und dadurch den iranischen Ambitionen, in der Levante eine politische Rolle zu spielen, einen Riegel zu schieben.
Allgemein ist festzuhalten: «Religionskriege» sind nie Kriege zwischen «Religionen». Sie sind immer Kriege zwischen Religionsgemeinschaften, denen es darum geht, ihre oftmals sehr weltlichen Machtinteressen gegeneinander durchzusetzen.
Doch religiöse Gefühle und Leidenschaften können dazu dienen, Kriege zwischen Religionsgemeinschaften anzutreiben und eventuell zu verschärfen. Dies geschieht zusehends in Syrien. Wer ist schuld daran? – Politische sowie religiöse Extremisten, die versuchen «ihre» Religionsgemeinschaften für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.
Provokation oder fanatische Dummheit?
Man weiss nicht, wer die Raketen auf das Heiligtum der Sayda Zaynab abgeschossen hat. Waren es sunnitische Fanatiker vom radikalen Flügel der Sunniten? Oder waren es vielleicht Parteigänger Asads, etwa dessen Geheimdienste, die versuchten, den Zorn der Schiiten anzufachen, um noch mehr Hilfe von schiitischen Jihadisten aus Libanon, dem Irak und Iran zu erhalten?
Wenn man fragt, wem es nützt, muss man primär an die Seite des Regimes denken. Doch es kommt auch vor, dass sich Fanatiker ins eigene Fleisch schneiden, weshalb man nicht ausschliessen kann, dass sunnitische Kämpfer des radikalen Flügels die Schuldigen gewesen sein könnten, deren Anti-Schiismus so weit geht, dass sie blindwütig gegen ihre vermeintlichen Feinde vorgehen, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, wie sehr sie Gefahr laufen, durch ihre undurchdachten Aktionen, neue Wellen von Kämpfern aus der schiitischen Welt gegen sich selbst zu mobilisieren.
Wer immer dahinter steckt, der Versuch, das Heiligtum zu zerstören, ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie religiöse Belange und Gefühle von beiden Seiten dazu ausgenützt werden, um ihre Machtinteressen zu fördern.